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Nachgehakt: Wieviel Gene hat der Mensch?


Sind Sie ein Spielertyp? Dann dürfen Sie wetten. Zu unwissenschaftlich? Keineswegs. Im Mai, auf der internationalen Genom-Konferenz des Cold-Spring-Harbor-Laboratoriums in New York, wurde ein offizielles "Lottospiel" eröffnet. Die Teilnehmer sollten schätzen, wie viele Gene denn nun das menschliche Erbgut enthält. Der Preis würde in drei Jahren winken.

Hinter diesem eher humoristisch anmutenden Aspekt des Human-Genom-Projekts verbirgt sich ein paradoxes Problem: Je weiter die Entzifferung der mehr als drei Milliarden Buchstaben unseres genetischen Grundtextes voranschreitet, desto mehr divergieren die Schätzungen über die Anzahl darin eingestreuter Gene. Neuere Lehrbücher hatten sich auf 70000 bis 100000 menschliche Erbfaktoren eingeschworen, Genomfirmen behaupten hingegen, bis etwa 150000 bereits in Form von "Gen-Schnipseln" in ihren Datenbanken zu horten.

Im Mai nun präsentierten Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich und den USA ihre neuesten Schätzungen. Trotz unterschiedlicher Methoden kamen alle drei Forschergruppen auf eine Zahl unter 40000. Damit hätte der Mensch bestenfalls etwa doppelt so viele Gene wie der gerade ein Millimeter lange Caenorhabditis elegans, ein Fadenwurm mit genau 959 Zellen, seine Keimzellen nicht eingerechnet.

Auch ein altbewährtes "Haustier" der Genetiker musste in dieser Hinsicht Federn lassen. Die Taufliege Drosophila, ein etwa zwei Millimeter großes Insekt, hat nach jüngsten Vorhersagen sogar rund 5000 Gene weniger als der Fadenwurm. Dagegen bringt es die Ackerschmalwand – ein beliebtes Studienobjekt der Pflanzengenetiker – auf immerhin 27000.

Irritieren wird das freilich nur jene Forscher, die glaubten, mit der Komplexität eines Lebewesens – wie immer man sie definiert – müsse zwangsläufig die schiere Menge der Gene wachsen. Irgendwie ist diese Fehleinschätzung aber auch verständlich: fühlt sich doch der Mensch seit jeher als Krone der Schöpfung – weit erhaben über Fliegen, Würmer oder gar Unkraut. Biologische Komplexität wird aber, wie sich immer deutlicher herauskristallisiert, auf der Ebene der Proteine erzeugt, nicht einfach nur auf derjenigen der Gene.

Längst überholt ist ohnehin die Vorstellung, ein Protein-Gen trüge stets die Bauanleitung für nur ein einziges Eiweißmolekül mit nur einer Funktion. Tatsächlich kann ein Gen die Information für ein Dutzend oder mehr verschie-dene Eiweißstoffe liefern, wenn die Zelle die Vorgaben für die Fertigung nach Art eines Patchworks bedarfsgerecht zusammenstellt und den Protein-Rohling auch noch unterschiedlichem Feinschliff unterwirft. Hinzu kommt, dass ein und dasselbe Protein je nach Konzentration, Ort und Zeitpunkt seines Auftretens im Organismus andere Aufgaben ausüben kann. Sein Effekt hängt zudem vom molekularen Adressaten auf oder in den Zellen ab.

Letzlich kommt es nicht so sehr darauf an, wie viel Gene ein Lebewesen zu Verfügung hat, sondern wie virtuos sie genutzt werden. Musikalisch ausgedrückt: Mit unserer üblichen Tonleiter als Basis kann man "Hänschen-Klein" spielen – oder eben die "Fünfte" von Beethoven.

Wenn die gesetzten Zahlen in der angelaufenen Gen-Wette ein annähernd zuverlässiges Barometer für die Überzeugungen der Teilnehmer dar-stellen, dann haben die neuen Vorhersagen das Zünglein der Waage, den Median, bereits deutlich nach unten verschoben: auf nur noch gut 50000 Gene für unsere Spezies (Stand: Anfang Juni).

Auf die Auflösung des Rätsels werden wir noch drei Jahre warten müssen. Dann nämlich soll unser genetischer Grundtext komplett entziffert und durchgängig lesbar vorliegen. Aber entziffert heißt nicht auch schon verstanden: Wir kennen dann zwar die Bauanleitung für die beteiligten Instrumente, aber nicht die Partitur zur Symphonie Mensch.




Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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