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Kosmologie: Nachweis der Raumverzerrung durch dunkle Materie

Ist das Universum erfüllt von noch unbekannten Teilchen? Vier Astronomen-Teams fanden nun unabhängig voneinander neue Hinweise auf die Existenz solcher Partikel, die sich nur durch ihre Gravitationswirkung verraten.


Gängigen kosmologischen Modellen zufolge macht die sichtbare Materie nur rund zehn Prozent der Masse im Universum aus. Der große Rest besteht aus Material, das weder leuchtet noch Strahlung absorbiert und sich ausschließlich durch seine Gravitationswirkung verrät. Nur mit dieser so genannten dunklen Materie lässt sich das dynamische Verhalten der Sternsysteme erklären. Ohne sie würden manche Galaxien einfach zerreißen, während andere kollabieren müssten. Unsere Milchstraße hät-te eine andere Rotationsgeschwindigkeit, und Zwerggalaxien könnten wahrscheinlich gar nicht erst entstehen.

Obwohl also vieles für die Existenz dieser hypothetischen Substanz spricht, vermag bisher niemand zu sagen, was sich dahinter verbirgt. Falls Neutrinos eine Masse hätten, könnten sie dazu beitragen; aber in jedem Falle wären sie zu "leichtgewichtig" und zu beweglich, um die Entwicklung des Kosmos zu beeinflussen. Die meisten Astronomen vermuten daher, dass der Hauptteil der dunklen Materie aus einer bislang unbekannten Klasse von Elementarteilchen besteht.

Favoriten sind schwach wechselwirkende Teilchen mit Masse, so genannte Wimps (Weakly Interacting Massive Par-ticles). Mehrere Millionen davon sollen uns pro Sekunde durchdringen, ohne dass wir sie sehen oder spüren. Mit dem Standardmodell der Teilchenphysik wären diese Partikel nicht vereinbar, wohl aber mit einer Erweiterung, bei der zu jedem bekannten Teilchen ein "supersymmetrischer" Partner existiert.

Auf einer Konferenz über dunkle Materie im kalifornischen Marina del Rey im Frühjahr machte eine Physikergruppe aus Italien mit der Behauptung Furore, die hypothetischen Wimps mit den riesigen Detektoren des Dama-Experiments (Dark Matter Search) im Gran-Sasso-Labor in den Abruzzen nachgewiesen zu haben. Die meisten Kollegen blieben allerdings skeptisch und bezweifelten, dass die Dama-Forscher alle Hintergrundstörungen herausrechnen konnten, die im Schnitt gut hundertmal stärker sind als die eigentlichen Signale.

Nach der Erfolgsmeldung ihrer italienischen Kollegen analysierten die Mitglieder des amerikanischen Konsortiums Cryogenic Dark Matter Search (CDMS) ihre eigenen Daten nach vergleichbaren Hinweisen und zählten 17 ungewöhnliche Ereignisse. Anhand von Computersimulationen und statistischen Überlegungen gelangten sie allerdings zu einer anderen Interpretation. Danach handelt es sich um einfache Neutronen (Physical Review Letters, Bd. 84, S. 5699).

Auch wenn die Natur des geheimnisvollen Materials also umstritten bleibt, gibt es inzwischen weitere handfeste Hinweise auf seine Existenz. Fast zeitgleich präsentierten vor kurzem vier Arbeitsgruppen unabhängig voneinander übereinstimmende Befunde, wonach die Materie im Universum in der Tat zu neunzig Prozent dunkel ist. Alle vier Teams nutzten den so genannten schwachen Gravitationslinseneffekt, der auf Raumverzerrungen durch Materie beruht.

Ein Netz aus schwachen Gravitationslinsen


Einstein hatte diesen Effekt bereits Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vorausgesagt. Nach dieser Theorie ist der Raum nicht starr, sondern ein flexibles Gebilde, das durch Materieansammlungen verformt wird. In diesem gekrümmten Raum wird ein vermeintlich gerader Lichtstrahl gebeugt. Die Astronomen sehen dann ein verzerrtes Bild; wenn der Effekt besonders stark ist, erscheinen sogar Doppel- oder Mehrfachbilder der Lichtquelle – zumeist eines Quasars oder einer fernen Galaxie (Bild links).

Auch dunkle Materie müsste diesen Effekt auf den Raum ausüben. Daher fo-tografierten die vier Astronomen-Teams weite Himmelsbereiche und suchten die Aufnahmen nach verzerrten Bildern von Galaxien ab. Normalerweise gleichen die Sternsysteme zufällig orientierten Ellipsen. Stehen sie jedoch hinter einem Materiehaufen, werden ihre Bilder leicht verdreht, sodass sie sich mit ihrer Längsachse zum Haufenzentrum hin auszurichten scheinen. Indem die Astrophysiker die Orientierung der Ellipsen systematisch auswerteten, konnten sie die Menge und räumliche Verteilung der Materie berechnen, die diese Muster erzeugt hat.

Die Idee ist nicht neu, doch die Umsetzung scheiterte bislang an der Technik. Inzwischen stehen aber ausreichend empfindliche Detektoren mit einem großen Bildfeld zur Verfügung. Yannick Mellier vom Astrophysikalischen Institut in Paris und seine Kollegen benutzten für ihr Projekt beispielsweise zwei neue Kameras des Canada-France-Hawaii Telescope (CFHT) auf dem Mauna Kea. Das 13-köpfige internationale Team um den Franzosen erfasste nahezu 200000 Galaxien in einem Himmelsfeld von der zehnfachen Größe der Vollmondfläche und ermittelte deren Ausrichtung mit einer Spezialsoftware (Astronomy and Astrophysics Bd. 358, S. 30).

Insgesamt vermaßen die vier Arbeitsgruppen über 500000 Galaxien in verschiedenen Regionen des Firmaments. "Die gute Übereinstimmung der Resultate macht uns zuversichtlich, dass die nachgewiesenen Signale kosmologischen Ursprungs sind und dass mögliche Störeinflüsse korrekt berücksichtigt wurden", betont Thomas Erben vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, der in Melliers Gruppe Teile der riesigen Datenmenge auswertete. Dennoch geht die Arbeit weiter: "Allein unser Gesamtsurvey soll am Ende 16 Quadratgrad des Himmels erfassen", berichtet Erben. "Das entspricht gut 100-mal der Vollmondfläche."

Zur Korrektur der Störeinflüsse durch die Atmosphäre und das Teleskop selbst dienten weniger weit entfernte Sterne unserer eigenen Milchstraße. Weil der schwache Linseneffekt über solch kurze Distanzen nicht auftritt, müssen alle beobachteten Verzerrungen in diesem Falle atmosphärische oder optische Gründe haben. Also rechneten die Astronomen einige verschwommene Bilder benachbarter Sterne in scharfe Punkte zurück und wendeten die erhaltenen Korrekturwerte auf die Formen der entfernten Galaxien im selben Himmelsabschnitt an. Zurück blieb – gleichsam als Karte – eine zweidimensionale Projektion der inneren Struktur des Alls. Da nur der geringste Teil dieses Netzwerks aus sichtbarem Material besteht, müssen die meisten Zerrbilder entfernter Galaxien von Gravitationslinsen aus dunkler Materie herrühren.

Die ermittelte Dichteverteilung der Materie stützt zudem die Theorie, dass im Universum eine abstoßende Kraft wirkt – die Vakuumenergie –, was der Einführung einer kosmologischen Konstante in die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie entspricht. Die Daten der vier Gruppen stehen mit dem derzeit favorisierten Modell eines ewig, aber immer langsamer expandierenden Universums in Einklang, in dem die Energie des Vakuums als treibende Kraft agiert (siehe Spektrum der Wissenschaft 3/99, S. 46).

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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