Theoretische Physik: Nagt der Zahn der Zeit auch an Naturkonstanten?
Astronomischen Beobachtungen mit dem Keck-I-Teleskop auf Hawaii zufolge könnte die fundamentale physikalische Konstante "Alpha" früher kleiner gewesen sein als heute - im Einklang mit Vorhersagen neuerer Teilchentheorien.
Das ursprüngliche Konzept der klassischen Physik, wonach die Naturwissenschaften von einem Satz unveränderlicher Größen – den Naturkonstanten – getragen werden, ist schon lange nicht mehr haltbar. So sind die Kopplungskonstanten, welche die Stärke der vier fundamentalen Wechselwirkungen bestimmen, abhängig von der Energie, bei der sie gemessen werden.
Das gilt auch für die Sommerfeldsche Feinstrukturkonstante Alpha, von der die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung abhängt. Sie setzt sich ihrerseits aus drei Naturkonstanten zusammen: der Ladung des Elektrons e, der Planckschen Konstanten geteilt durch 2p, die mit h´ be-zeichnet wird, und der Lichtgeschwindigkeit c; es gilt: Alpha=e2/(h´c). Bei ruhenden Teilchen beträgt ihr Wert etwa 1/137,036. Bei einer hochenergetischen Kollision im Beschleuniger kann er jedoch bis auf etwa 1/128 steigen.
Nun gibt es erste Indizien dafür, dass Alpha nicht nur mit der Energie, sondern möglicherweise auch mit der Zeit – genauer gesagt der Raumzeit – variiert (Physical Review Letters, Bd. 87, S. 091301-1). Das überrascht nicht völlig; denn eine solche Abhängigkeit wird in modernen Theorien erwartet, die eine Vereinheitlichung der drei für die Teilchenphysik wichtigen Wechselwirkungen mit der Gravitation zum Ziel haben. Andererseits werden im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie Naturkonstanten als echte Konstanten angenommen, die weder von der Zeit noch von der jeweiligen kosmologischen Entwicklung des Universums abhängen. Bisher hatten Laborexperimente über 140 Tage und Messungen von Elementhäufigkeiten am Oklo-Reaktor in Gabun, in dem vor 1,8 Milliarden Jahren eine natürliche Kettenreaktion stattfand, die Konstanz von Alpha weitgehend bestätigt; danach sollte eine mögliche Abweichung, auf ein Jahr bezogen, kleiner als 3,7x10E-14 beziehungsweise 5,0x10E-17 sein.
Ein anderes Ergebnis erhielt jetzt jedoch eine Wissenschaftlergruppe um John Webb von der Universität von Neusüdwales in Sydney und John Barrow von der Universität Cambridge. Um frühere Werte von Alpha zu ermitteln, untersuchten die Forscher das Licht ferner Quasare. Es durchquert auf dem Weg in unser Sonnensystem Gaswolken, in denen es teilweise verschluckt wird. Die zugehörigen Absorptionslinien sind auf Grund der Expansion des Kosmos um einen Betrag rotverschoben, der das Alter der Wolken verrät. Aus der Feinstruktur der Linien lässt sich zugleich der einstige Wert von Alpha am Ort der Gaswolke bestimmen.
Ein folgenreicher Unterschied
Das Forscherteam untersuchte Quasare aus einem Zeitraum, der 23 bis 87 Prozent des Alters des Universums überdeckt – was Rotverschiebungen zwischen 3,5 und 0,5 entspricht. In jedem Fall ermittelten sie ein Alpha, das kleiner als der heutige Laborwert ist: Die relative Abweichung beträgt zwar nur 7,2 Millionstel, ist aber statistisch signifikant. Im früheren Universum hätte Alpha demnach einen Wert von ungefähr 1/137,037 statt 1/137,036 gehabt – ein kleiner Unterschied, der jedoch große Auswirkungen auf moderne Theorien zur Naturbeschreibung haben kann.
Die interstellaren Gaswolken enthalten Elemente wie Natrium, Magnesium, Silizium und Eisen, die durch das einfallende rotverschobene Quasarlicht angeregt werden. Die Energieniveaus der Atome und Ionen zeigen dabei eine so genannte relativistische Feinstrukturaufspaltung, deren Größe von Alpha abhängt. Auf diese Weise lässt sich anhand der Absorptionslinien die Feinstrukturkonstante bei vergleichsweise großen Rotverschiebungen messen.
Doch ist die Methode in dieser Form noch nicht präzise genug. Deshalb führte die Gruppe um Webb und Barrow 1999 ein erweitertes Verfahren ein, das sie auch in der jetzigen, umfassenderen Arbeit einsetzte. Dabei wird eine Kombination von Absorptionslinien untersucht, die von den Grundzuständen verschiedener Elemente ausgehen ("Vielfach-Multiplett-Methode"). Die so erzielbare Genauigkeit hat den Nachweis einer möglichen Zeitabhängigkeit von Alpha in greifbare Nähe gerückt. Voraussetzung ist allerdings ein Spektrograph mit exzellenter spektraler Auflösung und einem hohen Signal-zu-Untergrund-Verhältnis. Ein solches Gerät steht an den beiden Keck-Teleskopen auf Hawaii zur Verfügung.
Erstmals untersuchten die Forscher mit der Vielfach-Multiplett-Methode vor zwei Jahren 30 Absorptionssysteme in interstellaren Gaswolken im Licht von 17 Quasaren. Dabei analysierten sie speziell die Eisen- und Magnesiumlinien. Schon damals ergaben sich im Rotverschiebungsbereich zwischen 0,5 und 1,6 deutliche Anzeichen dafür, dass die Feinstrukturkonstante in der Vergangenheit kleiner war. Die Abweichung betrug 10,9 Millionstel, aber die Standardabweichung war etwa doppelt so groß wie jetzt.
Für die nun veröffentlichte Arbeit wurden diese Daten nochmals gründlich analysiert und neue vom Keck-Teleskop hinzugefügt. Sie stammen von Absorptionssystemen mit Rotverschiebungen zwischen 1,8 und 3,5 im Licht von 13 weiteren Quasaren und berücksichtigen Übergänge in zahlreichen Elementen.
Ein Hauch von Veränderung
Ferner zog die Gruppe um Webb und Barrow frühere, von anderen Teams gemessene Daten heran und verwendete zudem Messungen an der 21-Zentimeter-Linie des neutralen Wasserstoffatoms. Diese Spektrallinie wird ausgesandt, wenn sich die relative Orientierung der Spins von Elektron und Proton im Wasserstoffatom ändert. Aus ihrer Messung in Absorption ergibt sich eine obere Schranke für das Produkt aus dem so genannten g-Faktor, der die magnetischen Eigenschaften des Protons bestimmt, und dem Quadrat der Feinstrukturkonstanten – und damit ebenfalls ein Hinweis auf eine mögliche Veränderlichkeit von Alpha bei derzeit zwei Rotverschiebungswerten (0,25 und 0,68). Dabei wird der g-Faktor als konstant angenommen. Insgesamt trugen die Forscher aus England, Australien und den USA 72 Schätzwerte für Alpha im Rotverschiebungsbereich zwischen 0,5 und 3,5 zusammen.
Der erste Datenpunkt aus einer Messung der 21-Zentimeter-Linie von Wasserstoff bei einer Rotverschiebung von 0,25 zeigt zwar keine statistisch signifikante Abweichung der Feinstrukturkonstanten vom Laborwert, aber für größere Rotverschiebungen liefern die Messungen mit der Vielfach-Multiplett-Methode übereinstimmend den schon erwähnten verkleinerten Wert von Alpha.
Wie verlässlich ist das Ergebnis? In ihrer Veröffentlichung diskutieren die Forscher mögliche systematische Fehler. Die wichtigsten sind die Dispersion des Quasarlichts in der Atmosphäre – es wird dadurch je nach Wellenlänge an unterschiedliche Stellen im Spektrometer gelenkt – sowie die nicht genau bekannte zeitliche Entwicklung der Elementhäufigkeiten in den absorbierenden Gaswolken. Beide Effekte würden Alpha jedoch in umgekehrter Richtung ändern und scheiden deshalb als mögliche Erklärungen des Messergebnisses aus, ja sie vergrößern sogar dessen Zuverlässigkeit.
Falls das Resultat also stimmt, welche Bedeutung hat es dann für die Physik? Paul Dirac wies schon 1937 darauf hin, dass nicht alle drei Größen, von denen Alpha abhängt, in gleicher Weise fundamental sein können. Er selbst hielt die Lichtgeschwindigkeit wegen ihrer grundlegenden Rolle in der Speziellen Relativitätstheorie für elementar. Dasselbe glaubte er von der Elementarladung e; folglich betrachtete er das Wirkungsquantum als ableitbar. Heute geht man in der Regel von Lichtgeschwindigkeit und Wirkungsquantum als elementaren Größen aus (die in geeigneten Maßsystemen gleich 1 gesetzt werden); eine Zeitabhängigkeit von Alpha wäre dann gleichbedeutend mit einer entsprechenden Variabilität von e.
Zurück zu den Anfängen des Kosmos
Ganz allgemein passen veränderliche Naturkonstanten zu den so genannten Superstring-Theorien, mit denen man die vier grundlegenden Wechselwirkungen zu vereinheitlichen sucht. In ihrem Rahmen ergeben sich für die dimensionslosen Kopplungskonstanten Zeitabhängigkeiten, die miteinander korreliert sind. In kosmologischen Zeiträumen ist davon nicht nur Alpha betroffen, sondern auch die Gravitationskonstante G. Bei dieser hat man aber bereits erhebliche Mühe, den heutigen Wert mit der erforderlichen Genauigkeit zu bestimmen. Deshalb wird sich die Suche nach Zeitabhängigkeiten von Naturkonstanten im Rahmen der Evolution des Kosmos auch in Zukunft auf Alpha konzentrieren.
Besonders interessant wären Werte aus dem frühen Universum. In der so genannten Planck-Ära waren die vier fundamentalen Wechselwirkungen noch vereinigt. Später gab es vermutlich eine Phase extrem schneller Expansion ("Inflation"), und es kam zu einer Aufspaltung in die heutigen Grundkräfte. Eine Extrapolation der vorliegenden Ergebnisse in diese Zeit ist allerdings völlig ausgeschlossen. Die Vereinigung von Kernen und Elektronen zu neutralen Atomen – als das Universum für Strahlung durchsichtig wurde – fand dann bei einer Rotverschiebung von 1000 statt. Auch das ist noch weit jenseits des Bereichs der beschriebenen Messungen. Atome werden durch die Coulombkraft zusammengehalten, deren Stärke von Alpha abhängt. Sollten bei ihrer Bildung Abweichungen in der Feinstrukturkonstanten aufgetreten sein, wäre das besonders aufschlussreich. Eine hinreichend genaue Alpha-Messung bei Rotverschiebungen von 1000 liegt jedoch weit außerhalb heutiger Möglichkeiten. Immerhin schließen die jüngsten Ballonmessungen des kosmischen Mikrowellenhintergrundes, dessen Ursprung in die Frühzeit des Universums zurückreicht, nicht aus, dass Alpha damals erheblich kleiner war – bis um einige Prozent.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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