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Nanophasen-Materialien und ihre paradoxen Eigenschaften

Wie macht man Keramiken verformbar oder Metalle superhart|? Werkstoffe nehmen ungewöhnliche, technisch hochinteressante Eigenschaften an, wenn ihre Korngröße auf millionstel Millimeter verkleinert wird. Schon gibt es erste kommerzielle Anwendungen in Elektronik und Kosmetik.

Im September 1989 kam Steven La- zarus von der ARCH Development Corporation in mein Büro im US-Nationallaboratorium in Argonne (Illinois). Schon seit längerem hatten er, sein Kollege Keith Crandall und ich über die Möglichkeit diskutiert, eine Firma zur Herstellung einer ganz neuen Art von Materialien zu gründen. Nach neunmonatiger sorgfältiger Prüfung war Lazarus nun von der Wirtschaftlichkeit des Projekts überzeugt und willens, Kapital dafür bereitzustellen.

Meine Kollegen und ich beschäftigen uns mit solchen Substanzen schon seit 1985. Auf der Suche nach einem griffigen Titel für ein Forschungsvorhaben hatte ich sie damals Nanophasen-Materialien genannt. Sie unterscheiden sich von herkömmlichen Werkstoffen nämlich nicht in der chemischen Zusammensetzung, sondern nur in ihrem Gefüge, das heißt in der Größe der homogenen Bereiche – fachsprachlich Phasen genannt – in ihrem Inneren. Dabei handelt es sich gewöhnlich um kleine Kriställchen, die Materialwissenschaftler als Körner bezeichnen. Während sie bei normalen Metallen, Keramiken und anderen Festkörpern einige Mikrometer bis Millimeter groß sind, haben sie bei Nanophasen-Materialien Durchmesser unter 100 Nanometern. Demgemäß enthält ein solches Korn statt mehrerer Milliarden allenfalls einige 10000 Atome. Bei einem Durchmesser von drei Nanometern besteht es beispielsweise nur aus etwa 900 Atomen und ist fast eine Million mal kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes; zu einem Kriställchen mit drei Millimetern Querschnitt verhält es sich wie ein Haus zum gesamten Erdball.

Bis 1989 hatten wir erkannt, daß Nanophasen-Materialien eine Reihe besonderer Eigenschaften aufweisen, weil die winzigen Körner auf Licht, mechanische Spannung oder Elektrizität völlig anders reagieren als Kriställchen im Mikro- oder Millimeterbereich. So ist Nanophasen-Kupfer fünfmal so fest wie das gewöhnliche Metall, und Keramiken brechen in nanostrukturierter Form weniger leicht. Kommerziell am interessantesten schien jedoch die Möglichkeit, einfach durch Einstellen einer bestimmten Korngröße eine vorbestimmte Festigkeit, Farbe oder Plastizität zu erzielen.

Solche Erwartungen und Aussichten veranlaßten Lazarus und mich, im November 1989 die Firma Nanophase Technologies zu gründen. Die Entscheidung hatte Signalwirkung und trug wesentlich dazu bei, das Interesse von Industrie und akademischer Forschung an den neuen Werkstoffen zu steigern. So wuchs nicht nur das Verständnis dieser einzigartigen Materialien und ihrer nützlichen Eigenschaften, sondern sie fanden auch Eingang in eine Reihe von Produkten – von der Kosmetik bis zur Elektronik. Zweifellos werden weitere kommerzielle Anwendungen folgen. Allein unsere Firma erzeugt jetzt tonnenweise Substanzen, die noch vor wenigen Jahren nur in Milligramm-Mengen für Laborversuche hergestellt wurden.

Grundlagen

Eigentlich begann die Geschichte der Nanophasen-Materialien schon mit der Abkühlung des Weltalls nach dem Urknall, als Urmaterie zu feinsten Teilchen kondensierte; wie Meteoriten bezeugen, geschah ähnliches auch bei der Bildung des Sonnensystems. Später entwickelte die belebte Natur viele nanostrukturierte Materialien wie Muschelschalen und Knochengerüste. Auch die Frühmenschen erzeugten, nachdem sie das Feuer zu beherrschen gelernt hatten, bereits ultrakleine Partikel in Form von Rauch.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Materialien begann freilich erst viel später, nämlich bei einem Treffen der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft im Jahre 1959. Der Physiker Richard Feynman (1918 bis 1988; Physik-Nobelpreis 1965) spekulierte dort als erster öffentlich darüber, welchePerspektiven die gezielte Manipulation winziger Ansammlungen kondensierter Materie böte. "Ich habe kaum Zweifel, daß sich die Palette möglicher Eigenschaften von Substanzen wesentlich erweitern wird, sobald wir die Anordnung von Materie auf kleinstem Raum zu beeinflussen vermögen", sagte er vorausschauend.

Feynmans Gedankengänge wurden bald theoretisch untermauert. In den frühen sechziger Jahren entwickelte Ryogo Kubo von der Universität Tokio ein Modell der quantenmechanischen Besonderheiten, die winzige Ansammlungen von Atomen – wissenschaftlich Cluster genannt – aufgrund ihres begrenzten Volumens zeigen sollten.

Damit ließen sich zwar noch keine klassischen makroskopischen Eigenschaften vorhersagen, aber es ergaben sich doch erste vage Hinweise auf jene Effekte, die wir später entdeckten. So besagte das Modell, daß sich jede Eigenschaft eines Materials ändert und über die Clustergröße steuerbar wird, wenn die Abmessungen der Teilchen eine kritische Länge für diese Eigenschaft unterschreiten.

In den nächsten 20 Jahren kam die Forschung auf dem Gebiet allerdings nur langsam voran. Besonders engagiert waren Japaner. In der Sowjetunion beschäftigten sich Wissenschaftler gleichfalls mit Clustern und untersuchten wahrscheinlich auch aus ultrafeinen Pulvern hergestellte feste Materialien. Der militärischen Geheimhaltung wegen wurde darüber aber nichts genaueres bekannt.

Die Wende brachte 1981 eine Konferenz am dänischen Nationalen Forschungszentrum Risø. Herbert Gleiter, damals an der Universität Saarbrücken und heute am Forschungszentrum Karlsruhe, sagte dort voraus, daß Werkstoffe aus kompaktierten ultrafeinen Partikeln völlig andere Eigenschaften als herkömmliche Materialien haben würden. In der Folgezeit veröffentlichte Gleiters Gruppe einige provokative Arbeiten über nanokristalline Metalle, die bei Materialforschern diesseits und jenseits des Atlantik einiges Aufsehen erregten.

Ich selbst kam erst vier Jahre später per Zufall dazu, mich mit nanostrukturierten Festkörpern zu beschäftigen. Auf einer Konferenz in Indien lernte ich Gleiters früheren Mitarbeiter Horst Hahn kennen, der heute Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt ist. Damals stand er nach der Promotion im Begriff, eine Stelle als Postdoktorand am Argonne-Nationallaboratorium anzutreten, und ich stellte ihm die Vakuumausrüstung zur Verfügung, die er für den Bau einer Kammer zur Synthese von Atomclustern benötigte. Hahn wollte herausfinden, ob sich auch nichtmetallische Materialien aus ultrafeinem Pulver herstellen lassen und ob die Produkte gleichfalls ungewöhnliche Eigenschaften haben. Wir führten lebhafte Diskussionen darüber, und so begann ich mich gleichfalls für das Thema zu interessieren.

Tatsächlich schafften wir es in nur wenigen Monaten, keramisches Nanophasen-Titandioxid herzustellen, indem wir 10 Nanometer große Cluster von Titan mit Sauerstoff reagieren ließen. In konventioneller Form ist Titandioxid (TiO2) das deckkräftigste bekannte Weißpigment, das für Farben, Papier, Kosmetika und viele andere Zwecke verwendet wird.

Zur Synthese der Titan-Cluster benutzten wir ein gängiges Verfahren, das sich mit dem Erhitzen von Wasser auf einer Herdplatte neben einem kalten Fenster bei frostigen Außentemperaturen vergleichen läßt (Bild 3). Die verdunstenden Wassermoleküle kondensieren in der kühleren Zimmerluft zu Dampf, der aus kleinen, freischwebenden Tröpfchen besteht. Diese gelangen mit der Luftzirkulation zu dem kalten Fenster und schlagen sich dort als feine Eiskriställchen nieder.

Wir mußten die verdunsteten Titanatome allerdings mit einem Inertgas wie Helium kühlen, weil Luft mit ihnen reagiert hätte. Bei der Kondensation entstehen dann fast kugelförmige Cluster, deren Größe sich über die Verdampfungsgeschwindigkeit sowie über Art und Druck des Inertgases beliebig zwischen einem und hundert Nanometern einstellen läßt.


Nanophasen-Keramiken

Ist statt des Metalls selbst ein keramisches Material gewünscht, muß man die Cluster vor der Kompaktierung nur mit dem entsprechenden Gas – in unserem Falle war dies Sauerstoff – reagieren lassen. Diese relativ einfache Methode wurde zur Grundlage unserer Arbeit; damit lassen sich Nanophasenformen von den meisten Materialien herstellen – außer von Metallen und Keramiken auch von Halbleitern, Polymeren und Verbundwerkstoffen.

Bei unseren ersten Experimenten mit Nanophasen-Titandioxid interessierten wir uns besonders für das Verhalten des Materials beim Sintern – dem gängigen Verfahren, um aus einem Pulverpreßling einen zusammenhängenden Festkörper zu machen. Der Preßling wird dabei einige Zeit auf eine Temperatur unterhalb des Schmelzpunktes erhitzt, damit die Körner zusammenbacken und fest miteinander verwachsen. Man hatte schon lange vermutet, daß das Sintern von ultrafeinen, dicht gepackten keramischen Partikeln bei einer niedrigeren Temperatur stattfinden könne und einen kompakteren Festkörper liefern würde. Entsprechende Versuche waren jedoch an einem problematischen Effekt gescheitert.

Früher mußten sehr feinkörnige keramische Pulver durch Ausfällen aus Lösungen hergestellt werden. Die Teilchen waren dann aber oft stark verklumpt. Solche agglomerierten Pulver ließen sich in der Regel nicht zu wirklich kompakten Körpern verpressen und ergaben beim Sintern oft kein einheitlich dichtes Material. Zwar hafteten auch unsere Titandioxid-Körnchen aneinander, aber die Agglomerate erwiesen sich als so schwach und zerbrechlich, daß sie beim Verpressen nachgaben oder sich auflösten. Außerdem zeigte unser extrem feinkörniges Pulver ausgezeichnete rheologische Eigenschaften (Fließverhalten) und ließ sich gut handhaben.

Zusammen mit unseren Kollegen Sinnanadar Ramasamy, Zongquan Li und Ting Lu konnten wir so nachweisen, daß das neue Material schon bei etwa 800 Grad Celsius sinterbar ist, also 600 Grad unter der für herkömmliches Titandioxid erforderlichen Temperatur, und ein härteres, bruchfesteres Produkt ergibt. Außerdem erwies es sich als relativ duktil: Es läßt sich sogar bei Zimmertemperatur unter Druck ziemlich leicht verformen. Die gleichen Eigenschaften fanden wir und weitere Mitarbeiter bei einer Reihe von anderen Nanophasen-Materialien.

Im Jahr 1988 führten D. William Nix von der Stanford-Universität in Kalifornien und seine ehemalige Studentin Merrilea Mayo, die mittlerweile an den Sandia-Nationallaboratorien in Albuquerque (New Mexico) arbeitete, gemeinsam mit mir die ersten quantitativen Verformungsmessungen durch. Dabei zeigte sich, daß die Duktilität von Nanophasen-Titandioxid bei Raumtemperatur wesentlich zunimmt, sobald die Korngröße etwa 30 Nanometer unterschreitet. Diese Entdeckung eröffnete die kommerziell hochinteressante Möglichkeit, komplizierte Keramikteile direkt zu formen statt Rohlinge nachträglich abtragend zu bearbeiten. Dieses inzwischen net-shape forming oder endkonturgenaue Formgebung genannte Verfahren würde erstmals die sehr schnelle, relativ kostengünstige Massenfertigung ganz unterschiedlicher Keramikteile – zum Beispiel für Automotoren – erlauben. Gegenüber konventionellen metallischen Werkstücken hätten diese den Vorteil, sehr viel beständiger gegen hohe Temperaturen und aggressive Verbrennungsgase zu sein.

Hahn, der an die Universität von Illinois in Urbana-Champaign gewechselt war, fand mit seinem Team wenig später heraus, daß kompakt gepreßtes Nanophasen-Titandioxid bei Temperaturen von etwa 800 Grad Celsius unter Druck um bis zu 60 Prozent verformt werden kann – in gewöhnlichen Keramikteilen würden dabei in der Regel katastrophale Brüche auftreten. Kürzlich hat eine Gruppe aus unserer Firma unter Leitung von John C. Parker in Zusammenarbeit mit Partnern bei Caterpillar und Lockheed gezeigt, daß Nanophasen-Keramiken tatsächlich endkonturgenau formbar sind, so daß der kommerzielle Einsatz in greifbare Nähe gerückt ist.

Was bewirkt die erstaunliche Duktilität von Materialien, die gemeinhin für ihre Sprödigkeit bekannt sind? Die Antwort ist, wie Hahn und K. Anant Padmanabhan in einem Modell gezeigt haben, daß nanometerkleine Körner unter Druck viel leichter übereinandergleiten können als solche von Millimetergröße. Dieses sogenannte Korngrenzengleiten ähnelt dem, was geschieht, wenn man in einen Sandhaufen tritt. Allerdings sind bei Festkörpern die Körner nicht lose aufgeschüttet, sondern aneinander gebunden. Wenn zu viele dieser Bindungen reißen, bricht das Material. Öffnet sich ein kleiner Riß, fangen Körner aus der Nachbarschaft an, die Lücke aufzufüllen. Je kleiner sie sind, desto geringere Entfernungen müssen sie dabei zurücklegen, und desto schneller kann der Schaden behoben werden. Die Gesteine der Erdkruste können sich immerhin über geologische Zeiträume, also in Millionen von Jahren, auf diese Weise verformen. In der Industrie muß man ein Werkstück jedoch meist in Minuten oder noch schneller in eine bestimmte Form bringen, und bei Keramiken gelingt das nur mit Nanophasen-Material.


Nanophasen-Metalle

Etwa ein Jahr nach dem Beginn unserer Untersuchungen an extrem feinkörnigem Titandioxid wandte ich mich auch erstmals Nanophasen-Metallen zu. Am Rande einer Konferenz in New Orleans 1986 unterhielt ich mich mit Julia R. und Johannes Weertman von der Northwestern-Universität in Evanston (Illinois) darüber, daß Metalle mit abnehmender Korngröße fester werden. Müßte Nanostrukturierung sie nicht noch viel härter machen?

Das wollten wir unbedingt herausfinden. Dazu ermittelten Julia Weertman und ihr Doktorand G. William Nieman mit mir zusammen an Nanophasen-Palladium und -Kupfer den Verformungswiderstand. Erwartungsgemäß stieg er mit abnehmender mittlerer Korngröße (Bild 4). Bei 50 Nanometern Korndurchmesser war Kupfer doppelt und bei sechs Nanometern – kleinere Cluster konnten wir in unserer Synthesekammer nicht ohne weiteres erzeugen – fünfmal so hart wie das gewöhnliche Metall. Weitere Untersuchungen in meinem Labor durch die Doktoranden Gretchen Fougere und Paul Sanders von der Northwestern-Universität sowie in anderen Labors bestätigten unsere Ergebnisse an vielen, zum Teil völlig anders hergestellten Nanophasen-Metallen.

Was die Ursache dieser Festigkeitszunahme angeht, erwies sich unsere ursprüngliche Annahme freilich als falsch. Damit sich ein Metall verformt, müssen die atomaren Ebenen in den kristallinen Körnern übereinandergleiten. Zur Veranschaulichung kann man sich vorstellen, man wolle einen großen, schweren Teppich über einen Parkettboden bewegen. Das geht schwer, wenn man einfach seitlich daran zieht, weil dann die Reibung auf der gesamten Fläche der Zugkraft entgegenwirkt. Wirft man jedoch quer zur Zugrichtung am Rand des Teppichs eine Beule auf und schiebt diese zum anderen Ende, braucht man weit weniger Kraft. Ähnlich erleichtert bei Metallen eine Versetzung in der atomaren Ebene die Verformung. Andererseits aber wirken Grenzflächen zwischen zwei verschieden orientierten Körnern (Korngrenzen) als Barrieren, welche die Bewegung von Versetzungen behindern und so die Festigkeit erhöhen. Auf den ersten Blick schien es angesichts der zahlreichen Korngrenzen in Nanophasen-Metallen also nur logisch, daß sie ungewöhnlich hart sind.

Wie sich herausstellte, ist der tatsächliche Grund jedoch ein anderer: Beim Betrachten von Metallclustern und daraus angefertigten Nanophasen-Proben im Durchstrahlungselektronenmikroskop konnten wir praktisch überhaupt keine Versetzungen feststellen; auch künstlich ließen sie sich nur mühsam erzeugen. Körner von Nanometergröße sind also offenbar zu klein, um eine nennenswerte Anzahl solcher Gitterstörungen zuzulassen – eine später auch von anderen Forschungsgruppen bestätigte Feststellung. Wo aber keine Versetzungen sind, können sie auch nicht wandern. Dies erklärt die stark erhöhte Festigkeit von Nanophasen-Metallen.


Andere Eigenschaften nach Maß

Außer mechanischen können auch optische, chemische und elektrische Eigenschaften von Nanophasen-Materialien auf spezifische Erfordernisse abgestimmt werden. Wiederum fungieren Größe und Anordnung der Cluster oder Körner als bestimmende Parameter.

Zum Beispiel sind Partikel mit Durchmessern zwischen 1 und 50 Nanometern zu klein, um sichtbares Licht zu streuen, dessen Wellenlänge zwischen knapp 400 und 800 Nanometern liegt: Sie vermögen die längeren Lichtwellen genauso wenig abzulenken wie ein kleines Boot die Meereswogen, auf denen es schaukelt. Deshalb kann Material daraus transparent sein, wenn man bei der Kompaktierung darauf achtet, daß keine Poren entstehen, die größer als die Cluster selbst sind. Zusammen mit Parker stellte Hahn, inzwischen an der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey), von dem gewöhnlich trüben Yttriumoxid eine solche durchsichtige Keramik her (Bild 5).

Dagegen vermag Strahlung mit kürzeren Wellenlängen – wie schädliches ultraviolettes Licht – auch extrem feinkörniges Titan-, Zink- oder Eisenoxid nicht ohne weiteres zu durchdringen: Sie wird von den winzigen Clustern absorbiert oder gestreut. Emulsionen derartiger Pulver könnten sich deshalb als Sonnenschutzmittel eignen; erste Tests laufen bereits. Außerdem bewirkt das Phänomen des Quanteneinschlusses, daß bei gewissen Nanophasen-Materialien die Farbe mit der Korngröße variiert (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 52). So hat Louis Brus von der Columbia-Universität in New York, als er noch bei den AT&T-Bell-Laboratorien in Murray Hill (New Jersey) tätig war, Suspensionen von unterschiedlich großen Cadmiumselenid-Clustern hergestellt, die alle etwas anders gefärbt sind (Bild 1). Als Pigmente, die sich durch bloßes Ändern der Clustergröße in fast jeder Spektralfarbe herstellen lassen, werden Nanophasenpulver zunehmend in der Kosmetikindustrie verwandt.

Auch in der Chemie gibt es vielversprechende Anwendungen für extrem feinkörnige Materialien – beispielsweise zur Beschleunigung von Reaktionen. Ultrafeine Partikel von Platin und Rhodium auf Keramikträgern werden schon lange als Katalysatoren eingesetzt. Vor knapp zehn Jahren stellte nun Donald Beck von der Firma General Motors fest, daß Titandioxid gleichfalls Autoabgase zu entschwefeln vermag. Ab 1989 untersuchte er dann gemeinsam mit mir, ob das Material in Nanophasenform nicht noch aktiver wäre. Weil kleine Cluster nämlich ein hohes Verhältnis von Oberfläche zu Volumen haben, bilden sie, wenig verdichtet, einen Körper hoher Porosität mit sehr großer Reaktionsfläche.

Entsprechend spektakulär waren unsere Resultate: In sieben Stunden entfernte Nanophasen-Titandioxid bei 500 Grad Celsius fünfmal soviel Schwefel aus simulierten Autoabgasen wie jede andere Form der Verbindung, die wir untersuchten. Außerdem zeigte es nach dieser Zeit immer noch eine recht hohe Aktivität, während alle übrigen Proben unbrauchbar geworden waren.

Als entscheidend dafür erwies sich außer der großen Oberfläche insbesondere ein allgemeines Sauerstoffdefizit in den Titandioxid-Körnern. Schwefelatome aus dem Gasstrom besetzten sofort die Fehlstellen an der Oberfläche, die Carlos Melendres, Victor Maroni, Parker und ich am Argonne-Nationallaboratorium mit einem laseroptischen Verfahren – der Ramanspektroskopie – früher bereits festgestellt und genauer untersucht hatten. Da sie von dort ins Innere diffundierten, wurden die Plätze schnell wieder frei und konnten neuen Schwefel aufnehmen.

Wie unter anderem die weitverbreitete Verwendung ultrafeiner magnetischer Pulver für Datenträger aller Art erweist, zeichnen sich Nanophasen-Materialien schließlich auch durch besondere elektrische und magnetische Eigenschaften aus, die ebenfalls gezielt einstellbar sind. Großes Aufsehen erregte jüngst die Beobachtung, daß der elektrische Widerstand einer Reihe von Nanostrukturen beim Anlegen eines Magnetfeldes stark abnimmt. Diese sogenannte giant magnetoresistance (Riesen-Magnetowiderstand) wird große Bedeutung für die Technik der Informationsspeicherung haben.

Zum Schluß möchte ich noch auf eine kürzlich gefundene, ebenso wichtige wie interessante Eigenschaft eines keramischen Halbleiters eingehen. In seiner konventionellen grobkörnigen Form ist dotiertes (gezielt mit Verunreinigungen versetztes) Zinkoxid das Ausgangsmaterial für Varistoren, mit denen man in der Elektronik Bauteile vor Überspannungen schützt. Ihr elektrischer Widerstand ist bis zu einer gewissen Schwellenspannung ziemlich hoch, fällt danach aber jäh ab, so daß die Spannung über dem Element in einem weiten Stromstärkenbereich praktisch konstant bleibt. Da dieses nichtlineare Verhalten auf den elektrischen Eigenschaften der Korngrenzen beruht, vermutete ich, daß es in Nanophasen-Zinkoxid besonders ausgeprägt sein müsse.

In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern verschiedener Universitäten gelang kürzlich der Nachweis, daß sich bereits dieses reine Produkt für Varistoren eignet, obwohl seine Schwellenspannung nur etwa ein Vierzigstel derjenigen des herkömmlichen Materials beträgt. Bei geeigneter Dotierung sollte sich die Schwellenspannung über die Korngröße sowie die Menge und Art der Verunreinigungen um mehr als den Faktor 300 variieren lassen. Bis zum marktfähigen Bauteil ist zwar noch ein weiter Weg, aber die Untersuchungen lassen ein großes Anwendungspotential erwarten.

In diesem Beitrag ging es vornehmlich um die ungewöhnlichen Eigenschaften von Nanophasen-Materialien. Ein Großteil der wissenschaftlichen Untersuchungen galt jedoch auch der Frage nach der genauen Struktur dieser Substanzen, deren Kenntnis unerläßlich für ein Verständnis der Eigenschaften ist. Viele Forschergruppen in der ganzen Welt arbeiten zudem an neuen Herstellungsmethoden. Dazu gehören die Synthese aus atomaren oder molekularen Vorläufersubstanzen mit chemischen Mitteln – während wir physikalische Prozesse benutzen – sowie aus massivem Ausgangsmaterial, typischerweise durch mechanische Kornverfeinerung oder durch Aufschmelzen und Abschrecken, so daß der Werkstoff in amorpher (glasähnlicher) Form erstarrt. Von atomaren oder molekularen Substanzen auszugehen hat den Vorteil, daß man die beste Kontrolle über viele mikroskopische Eigenschaften des Materials hat. Aber die anderen Methoden sind oft einfacher und liefern gleichfalls brauchbare Produkte.

Man braucht kein Prophet zu sein, um Nanophasen-Materialien eine große Zukunft in der Werkstofftechnik vorherzusagen. Eine Revolution hat begonnen, und sie wird in dem Maße um sich greifen, wie wir lernen, Materie im atomaren Bereich immer geschickter zu handhaben.

Literaturhinweise

- Nanostrukturierte Materialien. Von Herbert Gleiter in: Physikalische Blätter, Band 47 (1991), Seiten 753 bis 759.

– Nanostructured Materials Made from Ultrasmall Building Blocks Promise to Advance a Range of Technologies. Von R. Dagani in: Chemical & Engineering News, Band 70, Heft 47, Seiten 18 bis 24; 23. November 1992.

– Nanostructured Materials: Mind over Matter. Von R. W. Siegel. Proceedings of the First International Conference on Nanostructured Materials. Herausgegeben von M. José Yacamán, T. Tsakalakos und B. H. Kear in: Nanostructured Materials, Band 3 (1993), Hefte 1 bis 6, Seiten 1 bis 18.

– Nanophase Materials. Von R. W. Siegel in: Encyclopedia of Applied Physics, Band 11. Herausgegeben von George L. Trigg. VCH, Weinheim 1994.

– Nanophase Materials: Synthesis, Properties, Applications. Herausgegeben von G. C. Hadjipanayis und R. W. Siegel. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1994.

– Nanostructured Materials: State of the Art and Perspectives. Von H. Gleiter. Proceedings of the Second International Conference on Nanostructured Materials. Herausgegeben von H.-E. Schaefer, R. Wüschum, H. Gleiter und T. Tsakalakos in: Nanostructured Materials, Band 6 (1995), Hefte 1 bis 4, Seiten 3 bis 14.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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