Naturschutz - jede Art zählt
Muß Artenvielfalt um jeden Preis erhalten werden, oder bleibt ein Ökosystem auch dann stabil, wenn einige vielleicht weniger bedeutende Tiere und Pflanzen aussterben? Langfristige Untersuchungen in der nordamerikanischen Prärie zeigen, daß eine Reduktion der Organismenvielfalt sehr rasch verhägnisvoll wirken kann.
Die Frage klingt ketzerisch, wird aber immer öfter gestellt: Muß denn jede biologische Art geschützt werden? Ist es tatsächlich von Belang, wenn das eine oder andere Insekt oder irgendeine unscheinbare Pflanze aus einem Ökosystem verschwindet? Sicherlich ist jede Art aus ethischen Gründen erhaltenswert; aber wenn es gilt, eine Schadensbegrenzung durchzuführen, könnte man dann auf gewisse Organismen zur Not verzichten? Sind manche Arten wichtiger als andere, um ein Biotop zu stabilisieren?
Im Jahre 1916 führte der amerikanische Ökologe Frederick E. Clements den Begriff der Klimaxgesellschaft ein. Demnach durchläuft ein Ökosystem, ausgehend von einem vegetationslosen Substrat (Wasser, Sand, Fels oder auch Salzboden), eine Reihe von Stadien (eine Sukzession), bis es zu einer den jeweiligen Bedingungen optimal angepaßten Organismengemeinschaft als charakteristischem Endstadium gelangt.
So einleuchtend dieses Konzept schien, stieß es jedoch bald auf Schwierigkeiten. So mußte man zunächst einmal primäre, völlig naturbelassene Sukzessionen von sekundären unterscheiden, die offensichtlich einem menschlichen Einfluß unterworfen waren. Zudem zeigte sich schnell, daß es für jedes Gebiet immer mehrere Endstadien gibt. Man führte darum den Begriff Polyklimax ein oder sprach bei alpinen Ökosystemen gar von Klimaxschwärmen.
Wegen dieser Probleme mehrten sich schließlich die Stimmen jener, die den Klimax-Begriff völlig ablehnten. Trotzdem wird er auch heute noch verwendet – allerdings mit der Einschränkung, daß es keine endgültige Klimaxgesellschaft gibt, sondern nur einen Zustand eines Ökosystems, der unter bestimmten Bedingungen einigermaßen stabil ist. Tatsächlich paßt die Klimax-Hypothese zu einem weitverbreiteten Denkmuster, das in natürlichen Ökosystemen eine Art von harmonischem Endzustand sieht, den es, wenn er erst einmal erreicht ist, unter allen Umständen zu erhalten gilt. Auch die öffentliche Bewertung der ausgedehnten Yellowstone-Brände im Jahre 1988 kann als Ausdruck einer solchen Denkweise angesehen werden (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1990, Seite 114).
Wenn es so etwas wie eine Klimaxgesellschaft (zumindest unter spezifischen Umweltbedingungen) tatsächlich gibt, liegt der Schluß nahe, daß für ihre Ausprägung bestimmte Schlüsselarten notwendig sein sollten, deren Vorhandensein oder Fehlen über den Charakter des jeweiligen Ökosystems entscheidet. Daß man diese Rolle meist den Wirbeltieren zuweist, obwohl auf sie oft nur ein geringer Anteil an Biomasse und Energieumsatz entfällt, wird durch ihren unverhältnismäßig starken Einfluß auf die Struktur der Biotope, auf die Artenzusammensetzung und auf biogeochemische Prozesse gerechtfertigt.
Hinweise darauf, daß solche Schlüsselarten tatsächlich existieren, fanden schon vor mehr als vier Jahren Ökologen der Universität von New Mexico in Albuquerque ("Science", Band 250, Seite 1705, 21. Dezember 1990). Sie konnten zeigen, daß in verschiedenen Habitaten der Chihuahua-Wüste eine Gruppe von Känguruhratten der Gattung Dipodomys die Beschaffenheit des Ökosystems bestimmt. Entfernte man diese (und nur diese) Nagetiere aus mit Schutzzäunen gesicherten Versuchsflächen, verwandelten sich die Wüstenareale in Grasflächen (Bild 1); zugleich änderten sich, wie jüngste Untersuchungen der gleichen Arbeitsgruppe noch einmal eindrucksvoll bestätigten ("Science", Band 267, Seite 880, 10. Februar 1995), Fauna und Bodenstruktur. Entscheidend dafür war vor allem die intensive Grabungsaktivität der Tiere, durch die sich die Streu schneller zersetzte und der Boden gelockert wurde, und ihre Freßvorliebe für große Samen.
Die Änderungen fielen aber wohl auch deshalb so deutlich aus, weil die Testflächen klimatisch in einer Übergangszone zwischen Wüste und Savanne lagen. Durch die inhärente Instabilität war der Einfluß der Känguruhratten besonders ausgeprägt, so daß er sich gut nachweisen und mit umfangreichen Kontrollen absichern ließ.
Wenn nun aber bestimmten Arten eine solche Bedeutung zukommt, wie steht es dann mit den anderen? Wird deren Verschwinden belanglos, solange nur die Schlüsselarten erhalten bleiben?
Diese Frage ist eng verwandt mit einer anderen, die gleichfalls schon länger diskutiert wird: Welcher Faktor hat für die Stabilität eines gegebenen Ökosystems größere Bedeutung – die reine Biomasse, die auch in einer Monokultur sehr hoch sein kann, oder der Artenreichtum, also ein möglichst vielfältiges Organismenspektrum? Nach der zweiten Hypothese besetzt beim Aussterben einer Art eine andere die freigewordene Nische, so daß nur eine hohe Artenvielfalt die Stabilität eines Ökosystems gewährleistet. Die andere Theorie beruht dagegen auf der Annahme, daß die Ökosysteme erhalten bleiben, solange nur spezielle Organismengruppen – also Schlüsselarten – bestimmte Aufgaben wahrnehmen können. Es gibt zwar eine Unzahl theoretischer Computermodelle, mit denen versucht wurde, die Kontroverse zu entscheiden, aber bisher kaum experimentelle Feldforschungen.
David Tilman von der Universität von Minnesota in St. Paul und John A. Downing von der Universität von Montreal hatten die Möglichkeit, detaillierte Untersuchungen in den Prärien von Minnesota durchzuführen ("Nature", Band 367, Seite 363, 27. Januar 1994). Weil dort die Menge des bioverfügbaren Stickstoffs im Boden die Anzahl der jeweils vorkommenden Spezies bestimmt, ließ sich mit einer kontrollierten Düngung die Artenvielfalt verschiedener Versuchsflächen manipulieren. Die extreme Dürre des Jahres 1988, die auch maßgeblich für die Brandkatastrophe im Yellowstone-Park verantwortlich war, lieferte den ökologischen Einschnitt.
In umfangreichen Versuchsreihen konnten die Wissenschaftler eine Korrelation zwischen Artenvielfalt und Dürreresistenz nachweisen: Nach der Trockenheit war die Biomasse der artenarmen Meßflächen auf ein Achtel oder noch weniger zurückgegangen, die der artenreichen dagegen lediglich auf die Hälfte (Bild 2). Andere Faktoren, beispielsweise eine stark unterschiedliche Biomasse, ließen sich dagegen als unwesentlich ausschließen.
Interessanterweise zeigte sich, daß vom Menschen unbeeinflußte Gebiete sich schneller erholten als solche, die früher einmal bewirtschaftet und dann aufgelassen worden waren; es bestand sogar ein Zusammenhang mit der Dauer seit dem Ende der letzten Nutzung. Die Wissenschaftler ziehen aus ihren Ergebnissen den Schluß, daß die Stabilität eines Ökosystems nichtlinear von der Artenvielfalt abhängt: Je mehr Arten verlorengehen, desto anfälliger wird es.
Später analysierten Julie L. Lockwood und Stuart L. Pimm von der Universität von Tennessee in Knoxville die Daten ihrer Kollegen genauer ("Current Biology", Band 4, Seite 455, 1994). Dabei stellten sie fest, daß für die untersuchten Ökosysteme Schwellenwerte für die Artenzahl existieren, unterhalb derer ein Zusammenbruch droht, und daß dieser Schwellenwert jeweils nur knapp unter der jeweils höchsten festgestellten Artenvielfalt liegt. Zumindest bei den bislang untersuchten Biotopen scheint sich die Organismenvielfalt also auf einem Wert eingepegelt zu haben, der das für die Stabilität notwendige Minimum kaum übersteigt. Anders ausgedrückt: In den meisten Ökosystemen dürfen nur sehr wenige Spezies verlorengehen, ehe sie zusammenbrechen. Eine einzelne Art wird unter Umständen also sehr schnell wichtig.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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