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Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Wissen und Weisheit.

Aus dem Amerikanischen von Clemens Wilhelm. Wolfgang Krüger, Frankfurt am Main 1998. 285 Seiten, DM 48,–.


Ken Wilber fängt nicht bei Adam und Eva und der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis an, sondern bei Kepler und Galilei: Erst mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft sei das Verhältnis zur Religion schwierig geworden. Darum hilft es auch nicht, sehnsüchtig den Blick zurück zu den Zeiten zu werfen, als der Mensch sich eins gefühlt hat mit der Natur; denn die Voraussetzungen waren andere, solange die moderne Wissenschaft mit ihren Meßmethoden und Objektivierungen noch nicht existierte. Außerdem sind die Errungenschaften der Moderne nicht zu unterschätzen, denn sie brachten menschliche Würden wie die Abschaffung der Sklaverei, die Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung der Frau.

Die Würde der Moderne ist die Differenzierung in Ich, Wir und Es, denn erst in ihr kann die Meinung des einzelnen gelten, am Kollektiv gemessen und objektiviert werden. Das Thema der "Großen Drei" kennt viele Variationen: das Schöne, das Gute und das Wahre; Kultur, Ethik und Wissenschaft. Ihre Trennung ermöglicht jedem der Bereiche ein begrenztes Eigenleben: Die Kunst kann die Kirche kritisieren, solange sie Kunst bleibt, Wissenschaftler können forschen, ohne Dogmen gehorchen zu müssen.

Allerdings nimmt in der nun zugelassenen Unterscheidung nach Persönlichem, Gemeinschaftlichem und Objektivem letzteres überhand. Der Jubelruf über das Meßbare tönt zu laut; die Seele rollt sich beleidigt ein ob der verfehlten Idee, Shakespeare durch Ausmessen mit dem Lineal und Buchstabenzählen objektivieren zu wollen.

Ken Wilber sieht genau hin. Er verteufelt nicht die Moderne im allgemeinen und schreit auch nicht "zurück zur Steinzeit", sondern pickt sich die Rosinen aus den Kuchen der verschiedenen Lebenseinstellungen und backt dann einen neuen. In diesem Punkt geht sein Buch über eine bloße Sammlung von zeitgenössischen Gedanken zum Thema hinaus.

Was war oder ist gut an der Moderne? Die genannte Differenzierung in die "Großen Drei" – nur hat dummerweise das Dritte überhandgenommen und eine reine Es-Wissenschaft sich entwickelt. Was war gut an der Vergangenheit? Das Bewußtsein von der großen Kette des Seins. Auf der Suche nach dem Gemeinsamen der Religionen tritt aus der Vergangenheit (Plotin, etwa 205–270) und aus der Ferne (Sri Aurobindo, 1872–1950) die große Verschachtelung des Seins auf: der Gedanke, daß es verschiedene Stufen des Seins gibt, vom Materiellen über das Seelische bis hin zum Geistigen. Indem jede Stufe die jeweils niedrigeren umfaßt, weiß sich jedes Individuum in den Kosmos eingehüllt. Solange diese Vorstellung jedoch nur um das Persönliche kreist, trägt sie zur Lösung sozialer Probleme wie Armut und Ungerechtigkeit wenig bei.

Wie kann man nun die Vorteile von Prämoderne und Moderne vereinigen? Wilber löst das Problem mit der Kreativität eines Naturwissenschaftlers: Man nehme die beiden Lebenseinstellungen, die jede für sich genommen ein bißchen flach sind, und stelle sie senkrecht aufeinander. Und schon erhält man ein wunderbares dreidimensionales Gebäude, in dem es sich hervorragend leben läßt. Jede Stufe der "großen Verschachtelung des Seins" wird ausdifferenziert nach Ich, Wir und Es: Kontemplative Erfahrungen können nicht nur persönlich gemacht, sondern auch gemeinsam erlernt werden und sollten schließlich das Bewußtsein für soziale Aufgaben wecken.

Zwei Fragen bleiben dabei offen: Ist Wilbers Analyse zutreffend? Und ist seine Lösung praktikabel?

In der Analyse ist der Autor zu eifrig darum bemüht, die gesamte Menschheitsgeschichte in sein Schema zu pressen: Prämoderne gleich persönliche Naturverbundenheit ohne gesellschaftliches Veranwortungsbewußtsein, Moderne gleich dem Überhandnehmen der Objektivierbarkeit. Sogar Sigmund Freuds Psychoanalyse-Patienten werden in dieses Schema eingepaßt – als Opfer des Kampfes zwischen Es-Wissenschaft und verkümmertem Selbst. In seinem Klagelied von den flachen Wissenschaften, die nur messen, nur Groß und Klein statt Gut und Böse kennen, stolpert Wilber über die Mathematik, die ja vielleicht doch einige Tiefen hat, weil sie nicht nur mit Zahlen spielt, sondern Einsichten in die Ordnung des Kosmos vermittelt. Und daß die Religionen die soziale Reform in der Prämoderne versäumt und ganz der Moderne überlassen hätten, ist zumindest zu grob vereinfacht. So sieht schon die Bibel die Freilassung von Sklaven nach sieben Jahren vor und kennt Frauen mit traditionellen Männeraufgaben, darunter die Richterin Deborah.

Schon um die Diskussion nicht auf nur eine Religion zu beschränken, unternimmt es Wilber zunächst zu definieren, was denn nun den Religionen gemeinsam ist – oder sein sollte. Wo Fundamentalismus herrscht und Abgrenzung im Vordergrund steht, ist an eine Versöhnung mit den Naturwissenschaften vorerst nicht zu denken. Das ist zweifellos richtig; allerdings kann die Überwindung der Abgrenzung nur jedem einzelnen vorgeschlagen, nicht einer ganzen Gesellschaft vorgeschrieben werden. Einzelnen sind schon immer Schritte in diese Richtung gelungen: Albert Einstein (1879–1955; siehe auch meine Rezension zu "Einstein und die Religion" in Spektrum der Wissenschaft, November 1996, S. 134), Vito Volterra (1860–1940), Teilhard de Chardin (1881–1955) oder Blaise Pascal (1623–1662). Wilber bringt aber kaum praktische Vorschläge, wie man ganze Religionsgruppen mit weniger fundamentalistischen Gedanken anfreunden kann.

Bei seinem Versöhnungsvorschlag mit den Naturwissenschaften weist er den Religionen den Raum des Kontemplativen zu. Nur werden die meisten Religionen kaum bereit sein, sich mit dieser Ecke zu begnügen. Mit zum Teil minutiösen Vorschriften wollen sie eine Lebenshaltung vermitteln und Lebenspraxis sein, deren Höhepunkt Kontemplation sein kann, aber nicht muß.

Woher kommt ein Autor, der mit naturwissenschaftlicher Präzision und künstlerischer Kreativität über Kontemplation spricht? Ken Wilber ist ursprünglich Biochemiker und hat sich auf die Evolution des Geistes konzentriert. Das vorliegende Buch ist 1998 mit dem Originaltitel "The Marriage of Sense and Soul" in den USA erschienen.

Wilber scheint auch einer von den vielen zu sein, die, auf dem Hintergrund christlicher Kultur groß geworden, die östlichen Religionen entdeckt haben. Aber deswegen ist er noch lange nicht einer Fritjof-Capra- oder New-age-Hysterie verfallen. Die faire Berücksichtigung aller Religionen und die fruchtbare Kombination positiver Teilaspekte machen sein Werk auf jeden Fall lesenswert.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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