Neandertaler. Der Streit um unsere Ahnen.
Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Krull. Birkhäuser, Basel 1999. 216 Seiten, DM 68,–.
Der Neandertaler – die wohl bekannteste fossile Menschenform – und seine Stellung im Prozess der Menschwerdung sind seit seiner Entdeckung immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen. Frühe Forscher sahen noch Ähnlichkeiten mit den Menschenaffen; einige spätere hielten ihn für den direkten Ahnen des modernen Cro-Magnon-Menschen. Inzwischen wissen wir aus den Erkenntnissen verschiedener Disziplinen, dass der Neandertaler ein naher Verwandter, aber kein direkter Ahne des modernen Homo sapiens war (insofern ist der deutsche Untertitel irreführend).
Wie der renommierte Autor vom American Museum of Natural History in New York überzeugend darlegt, haben Neandertaler und moderner Mensch in Europa 10000 Jahre, im Nahen Osten sogar 60000 Jahre koexistiert (vergleiche Tattersalls Artikel in Spektrum der Wissenschaft 3/2000, S. 46). Warum er vor knapp 30000 Jahren ausstarb, bleibt noch etwas geheimnisvoll.
Nach Tattersall deuten kulturelle Hinterlassenschaften auf Kontakte zwischen beiden Menschenformen hin. Schon aufgrund der langen Koexistenz ist so gut wie sicher, dass solche Kontakte stattgefunden haben. Strittig bleibt, ob die Neandertaler und die sich nach Eurasien ausbreitenden modernen Menschen gemeinsame Nachkommen hatten.
In diesem Falle müssten bei frühen modernen Skeletten typische Neandertalermerkmale zu finden sein, wie etwa das stark vorspringende Gesicht ohne Wangengrube, das haarknotenförmig vorgewölbte Hinterhaupt oder die große Lücke hinter dem Weisheitszahn (Bild rechts unten). Die Indizien dafür sind spärlich und nicht besonders schlüssig.
Ganz offensichtlich ist dagegen die große morphologische Kluft zwischen den frühen modernen Funden Europas und den Neandertalern. Das wird durch molekularbiologische Studien an der DNA der Mitochondrien des Düsseldorfer Neandertalerskeletts eindrucksvoll bestätigt: Nach dem spektakulären Befund der Forschergruppe um den Münchner Molekularbiologen Svante Pääbo haben sich die Entwicklungslinien bereits vor rund 600000 Jahren getrennt (Spektrum der Wissenschaft 1/1994, S. 54).
Gleichwohl erlauben die Untersuchungen an der nur mütterlich und ohne Rekombination weitergegebenen DNA der Mitochondrien keine konkrete Aussage darüber, ob Vermischungen möglich waren und stattgefunden haben. Vielleicht war die Fruchtbarkeit dieser Mischlinge geringer gewesen, sodass sie bereits nach einigen Jahrtausenden wieder ausstarben. Ob der jüngste Fund in Portugal als ein solcher Mischling einzustufen ist, bleibt vorläufig unsicher.
Tattersall hält den Neandertaler für so verschieden vom modernen Menschen, dass er ihm den Status einer anderen Art (Homo neanderthalensis) zuerkennt. Im Gegensatz zu manchen anderen Forschern hält er es sogar für möglich, dass die beiden Menschengruppen miteinander gar keine Nachkommen haben konnten; er räumt jedoch ein, dass selbst heute die Artbildung noch die "black box" der Biologie ist. Zudem sei die Zuordnung des Artstatus allein auf der Grundlage von Skelettmerkmalen problematisch.
Die morphologischen Unterschiede mögen durchaus für eine Zuweisung zu verschiedenen Arten sprechen, gerade für Tattersall. Immerhin gibt es bei Halbaffen, an denen er viel gearbeitet hat, verschiedene Arten, die einander morphologisch weitaus ähnlicher sind.
Nach meiner Auffassung spricht jedoch ein gewichtiges Argument dage-gen: Die Evolution der Gattung Homo ist wesentlich durch die zunehmende Fähigkeit zu planvollem Handeln gekennzeichnet, durch intelligente Anpassung mit kulturellen Mitteln, was in diesem Fall einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Zwei Populationen derselben Halbaffenart können durchaus so große erbliche Unterschiede im Verhalten entwickeln, dass ihre Mitglieder die Angehörigen des "fremden Volkes" nicht mehr als potenzielle Geschlechtspartner wahrnehmen. Dadurch entsteht eine Fortpflanzungsbarriere – notwendige Voraussetzung für die Aufspaltung in getrennte Arten. Die Frühmenschen verfügten jedoch dank der weit fortgeschrittenen Evolution ihres Hirns bereits über eine so hohe Flexibilität des Verhaltens, dass eine derartige Barriere kaum mehr entstehen konnte.
Insgesamt liefert dieses Buch eine hervorragende Darstellung über die Neandertaler, ihre spannende Entdeckungsgeschichte und die Verflechtungen mit anderen Hominidenformen bis hin zur aktuellen Diskussion zum Ursprung des modernen Menschen. Auch die zahlreichen Abbildungen und Fotos von höchster Qualität machen das Werk zu einem der besten derzeit verfügbaren Bücher über die jüngere Evolution des Menschen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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