Neue Krebsbehandlung auf dem Prüfstand
Neue Therapien gegen Krebs setzen auf Hochtechnologie. Teure Technik und komplizierte Methoden sprengen jedoch die nationalen Forschungsbudgets. Deshalb arbeiten heute europäische Forschergruppen zusammen, um neue Therapien zu finden, zu entwickeln und zu testen. Jüngstes Beispiel ist die Neutroneneinfangtherapie.
In der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Union (EU) im niederländischen Petten steht der High-Flux-Reaktor (HFR). Die Leistung des europaweit einzigartigen Forschungsreaktors beträgt 45 Megawatt. Zehn Jahre dauerten die Vorbereitungsarbeiten, dann unterzog sich im Oktober 1997 erstmals in Europa ein Patient der neuartigen Neutroneneinfangtherapie. Das Experiment markierte den Beginn einer sogenannten Phase-I-Studie. Damit wollen die Forscher feststellen, wie verträglich die neue Methode ist – eine wichtige Voraussetzung für ihren späteren Einsatz als Behandlungsmethode.
Die Neutroneneinfangtherapie basiert auf der Fähigkeit des nicht radioaktiven Isotops Bor-10, Neutronen mit niederer kinetischer Energie von bis zu 0,025 Elektronenvolt einzufangen. Anschließend zerfällt das Isotop in einen Helium- und einen Lithiumkern. Die dabei frei werdende kinetische Energie von etwa 2,5 Millionen Elektronenvolt transportiert diese Teilchen durch das Körpergewebe. Die so zurückgelegte Strecke beträgt bis zu acht tausendstel Millimeter, das entspricht etwa einem Zelldurchmesser. Auf dieser kurzen Strecke bewirken die Teilchen so viele Schäden im lebenden Gewebe, daß eine betroffene Zelle nach der Bestrahlung kaum überlebt. Könnte man diese Reaktion auf die kranken Zellen beispielsweise eines Tumors beschränken, ließen sich die wuchernden Krebszellen gezielt zerstören. Die gesunden Zellen im umliegenden Gewebe würden verschont. In der Realität ist diese Trennung aber sehr schwierig. Dennoch wäre es für eine Therapie bedeutsam, im erkrankten Gewebe deutlich mehr Wirkung zu hinterlassen als in gesunden Zellen.
Das Körpergewebe nimmt zudem immer eine zusätzliche Strahlendosis auf, die sich nicht nur gegen den Tumor richtet. So tragen Wasserstoff und Stickstoff über Einfangreaktionen deutlich zur Dosis im bestrahlten Gewebebereich bei. Die Strahlungsquelle im Reaktor sendet ferner Gammastrahlung aus, die ebenfalls berücksichtigt werden muß. Das Resultat ist ein komplexer Strahl mit verschiedenen Dosisanteilen, die auf das Gewebe jeweils unterschiedlich wirken.
Um das Prinzip der Neutroneneinfangtherapie nutzbar zu machen, wird eine Borverbindung benötigt, die sich bevorzugt in Tumorgewebe anreichert. Der Neutronenstrahl muß eine hohe Anzahl von Neutronen im niederen Energiebereich liefern. Das erfordert einen Kernreaktor wie den HFR.
Bereits in den fünfziger Jahren fanden in den USA erste Patiententests mit dieser Methode statt. Wegen gefährlicher Nebenwirkungen für das gesunde Gewebe galten ihre Ergebnisse jedoch als unbefriedigend. Später wurde die Methode in Japan von dem Neurochirurgen Hiroshi Hatanaka eingesetzt. Die Fachwelt nahm die von ihm berichteten exzellenten Ergebnisse nur zurückhaltend auf, da sie außerhalb kontrollierter klinischer Studien erzielt worden waren. Inzwischen finden in den USA kontrollierte klinische Studien am Brookhaven National Laboratory (BNL) und an der Harvard University in Boston statt, die eng mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) zusammenarbeitet. Die Versuche in Petten erfüllen gleichfalls die Anforderungen an solche klinischen Tests.
Phase-I-Studien werden üblicherweise durchgeführt, um sowohl Menge als auch Art der Schäden zu klassifizieren, die ein neues Medikament im Gewebe verursacht. Man spricht auch vom Toxizitätsprofil des Medikaments. Im vorliegenden Fall wirken Medikament und Bestrahlung zusammen. Das Medikament mit dem Wirkstoff Di-Natrium-Mercaptoundecahydro-closo-Dodecaborat trägt die Kurzbezeichnung BSH. Dabei handelt es sich um eine Substanz, deren Toxizität in der verschriebenen Dosis und Anwendung nicht ausreichend bekannt ist. Das Medikament wird erst durch die Bestrahlung aktiv, so daß die dadurch verursachten Effekte in Studien ohne Bestrahlung nicht geklärt werden konnten. Bei der Bestrahlung handelt es sich um eine neue Form der Strahlentherapie. Der eingesetzte Strahl weist unterschiedliche Dosiskomponenten auf, ist also außerordentlich komplex. Wie die Wirkung des Strahls und des Medikaments auf das Gewebe von der Dosis abhängt, ist gleichfalls unbekannt. Deshalb muß die aus zwei Elementen bestehende Therapie zunächst in einer Phase-I-Studie getestet werden.
Bekannt ist bislang, daß sich BSH nach der Injektion in die Blutbahn im Hirn sammelt, bevorzugt in Tumoren. Die gesunden Gehirnzellen schützen sich durch die Bluthirnschranke. Diese Sicherung verhindert, daß bestimmte Mineralstoffe oder Hormone vom Blut auf die Nervenzellen übergehen. Im Tumor ist diese körpereigene Barriere geschwächt, das Medikament kann sich im Tumor anreichern. Während der Bestrahlung befindet sich aber auch eine bestimmte Anzahl der Bor-Isotope im Blut. Diese bestrahlen auch die Blutgefäße, insbesondere die Kapillaren im Gehirn. Die Forscher erwarten deshalb, daß die Neutroneneinfangtherapie in der medizinischen Praxis nur begrenzt zum Einsatz kommen kann.
Seit 1989 liefen die Vorbereitungen am Forschungsreaktor HFR, um dort die Neutroneneinfangtherapie durchzuführen. Das Forschungsprojekt basiert auf einer weitgreifenden Kooperation. Die Universität Essen benutzt den HFR, um Patienten aus Bremen, München, Graz, Amsterdam, Nizza und Lausanne zu behandeln. Die notwendige Technik stellen die niederländische Energieforschungsstiftung (ECN) und die GFS bereit. Die Patienten sind im Krankenhaus der Freien Universität Amsterdam untergebracht. Die Studie wird von der EORTC (European Organization for Research and Treatment of Cancer) getragen. Die Förderung durch die EU verteilt sich auf die verschiedenen Projektpartner, ihre Koordination erfolgt durch einen Wissenschaftler am Fachbereich Chemie der Universität Bremen. Die klinische Gesamtverantwortung hat die Strahlenklinik der Universität Essen. Die externe Kontrolle sowie die Erfassung und Auswertung der Daten organisiert das New Drug Development Office (NDDO) in Amsterdam.
Für ein solches multinationales Vorgehen gibt es keine eindeutigen gesetzlichen Grundlagen. Die nationalen Vorschriften aller beteiligten Länder waren zu berücksichtigen. Um das rechtliche Neuland zu betreten, mußten die Forscher sehr intensiv mit dem holländischen Gesundheitsministerium, dem holländischen Ministerium für Arbeit und Soziales und dem Wirtschaftsministerium der Niederlande verhandeln. Die lokalen Aufsichtsbehörden – sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden – zeigten sich sehr kooperativ und machten pragmatische Lösungen möglich.
Die Studie ist auf drei Jahre angelegt. Vier Gruppen von je zehn Patienten sollen mit steigender Strahlendosis behandelt werden. Die Behandlung der ersten Patientengruppe wurde inzwischen abgeschlossen. Im Rahmen der Studie können Patienten behandelt werden, die an einem besonders bösartigen Hirntumor, dem sogenannten Glioblastom, leiden. Sie müssen älter als 50 Jahre sein, und der Tumor sollte sich vollständig entfernen lassen. Bei bisher zur Verfügung stehenden Therapien überleben solche Patienten die Entdeckung der Erkrankung kaum länger als sechs bis acht Monate. Deshalb suchen die Ärzte neue Möglichkeiten der Behandlung und schlagen ihren Patienten vor, an der Studie zur Neutroneneinfangtherapie teilzunehmen.
Etwa vier Wochen, nachdem das Glioblastom operativ entfernt wurde, kommt der Patient ins Krankenhaus nach Amsterdam. Am ersten Tag der Behandlungswoche wird er nach Petten gebracht, damit dort durch den Strahlentherapeuten der vorbereitete Bestrahlungsplan, die Lagerung während der Therapie und andere Maßnahmen überprüft und notfalls korrigiert werden. Am Abend erhält der Patient das Medikament BSH. Am nächsten Morgen kommt er wieder nach Petten und wird erstmals bestrahlt. Diese Folge wird dreimal wiederholt. Ziel dieser Studie ist es, die maximal tolerierbare Strahlendosis und die zulässige Toxizität der Therapie unter festgelegten Bedingungen zu bestimmen. Dabei sind die Schäden durch das Medikament und die örtlichen Wirkungen durch die Bestrahlung, kurzzeitig wie auch langzeitig, getrennt zu erfassen. Um die Neutroneneinfangtherapie regelmäßig anzuwenden, müssen genaue Standards für ihre Anwendung und Auswertung ausgearbeitet werden.
Ein solches multinationales Forschungsprojekt kommt an administrativen Hindernissen und gesetzlichen Barrieren nicht vorbei. Sie dürfen nicht unterschätzt werden. Die Neutroneneinfangtherapie hat auch diesbezüglich innerhalb der transnationalen klinischen Forschung in Europa eine Schrittmacherfunktion übernommen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 919
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben