Direkt zum Inhalt

Paläanthropologie: Neues Gesicht in der Ahnengalerie des Menschen

Eine ungewöhnliche Kombination "primitiver" und "fortschrittlicher" Merkmale zeichnet einen neu entdeckten Zeitgenossen von Lucy aus. War er unser aller Urahn?


Während der letzten zwei Jahrzehnte haben sich die wissenschaftlich anerkannten Hominidenarten, welche dem Stammbaum des Menschen zugeordnet werden, fast verdoppelt. Dabei schien sich ein relativ klar strukturiertes Bild unserer Evolutions-geschichte abzuzeichnen. Es zeigte eine Einteilung der frühen menschlichen Vorfahren in drei Hauptgruppen: Australopithecus, Paranthropus (ein Sammelbegriff für die grobschlächtigeren Australopithecinen-Verwandten robustus, boisei und aethiopicus) und natürlich Homo, die Gattung, deren einzig heute noch lebender Vertreter wir selbst sind.

Paranthropus
und Homo sollten sich vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren aus einem frühen Vertreter der Gattung Australopithecus, wahrscheinlich A.afarensis, entwickelt haben. Der bekannteste und gleichzeitig namengebende Fossilfund dieser Spezies ist das etwa 3,2 Millionen Jahre alte, zu rund einem Viertel erhaltene Skelett von Lucy, das Donald Johanson und sein Team 1974 in Äthiopien gefunden haben. Aber in jüngster Zeit kam immer wieder Bewegung in die Diskussion, wenn es darum ging, neue Fossilfunde früher Hominiden sinnvoll in unseren Stammbaum einzuordnen.

Bewegung im menschlichen Stammbaum


In den neunziger Jahren machte die Entdeckung weiterer Australopithecinen-Spezies (anamensis, garhi und bahrelghazali) in Nord- und Ostafrika deutlich, dass diese Gattung vor etwa zwei bis vier Millionen Jahren offenbar weitaus artenreicher war als bis dahin angenommen. Auch die erwähnte Dreiteilung ließ sich nicht mehr halten. Vor etwa 4,4 Millionen Jahren, als die Hominiden sich noch nicht allzu weit von ihrem gemeinsamen Vorfahren mit den afrikanischen Menschenaffen entfernt hatten, durchstreifte ein rätselhafter Vormensch das heutige Äthiopien. Nachdem man sein fast vollständig erhaltenes Skelett anfangs den Australopithecinen zugeordnet hatte, ließ eine gründlichere Auswertung dies nicht mehr vertretbar erscheinen. So avancierte der Fund 1995 zum Prototyp einer neuen Gattung namens Ardipithecus.

Anfang dieses Jahres schließlich fand ein französisches Forscherteam in Kenia etwa sechs Millionen Jahre alte fossile Knochen, die sie einem affenähnlichen Wesen namens Orrorin tugenensis zuschrieben. Ob es sich dabei um den ältesten bekannten Hominiden handelt, ist allerdings umstritten.

Nun scheint erneut eine Revision fällig – diesmal am jüngeren Ende unserer Ahnengalerie. Anlass hierfür ist ein neuer Hominidenfund aus Ostafrika, den Meave Leakey und Kollegen kürzlichvorstellten (Nature, Bd. 410, S. 433). Er könnte nach Ansicht seiner Entdecker unser direkter Vorfahre sein und damit A.afarensis auf einen Nebenast des menschlichen Stammbaums verbannen.

Wer aber ist der "Neue" nun genau, dessen vollständiger wissenschaftlicher Name Kenyanthropus platyops ihn als "flachgesichtigen Mann aus Kenia" ausweist? Schon vor drei Jahren wurden Fossilien dieses Hominiden am Westufer des Turkana-Sees in Kenia entdeckt. Der namengebende Fund (KNM-WT 40000) ist ein fast vollständiger Schädel ohne Unterkiefer. Er stammt aus 3,2 bis 3,5 Millionen Jahre alten Schichten und zeichnet sich durch eine einzigartige Kombination morphologischer Merkmale aus.

So teilt Kenyanthropus viele "primitive" Eigenschaften mit Vertretern der Gattung Australopithecus wie A. anamensis und A. afarensis. Dazu gehören unter anderem eine kleine Ohröffnung, Backenzähne mit relativ dickem Zahnschmelz und ein vergleichsweise kleines Gehirnvolumen. Zugleich aber verblüfft der Gesichtsschädel mit "fortschrittlicheren" Merkmalen. Insbesondere verleiht ihm ein flach ausgezogener Bereich unterhalb der Nasenöffnung eine insgesamt flache Struktur. Da die Jochbogenfortsätze des Oberkiefers weiter vorn ansetzen, erscheint die Wangenregion schmaler und stärker vertikal orientiert als etwa bei A. afarensis. Von A. garhi unterscheidet sich K. platyops durch die deutlich kleineren Backenzähne (Prämolare und Molare) sowie den schwächeren Überaugenwulst. Andererseits gibt es morphologische Gemeinsamkeiten zu Paranthropus – so die dreiwurzeligen oberen Prämolaren. Aber am bemerkenswertesten ist sicherlich die auffallende Ähnlichkeit zu jenem berühmten zwei Millionen Jahre alten Schädel, welchen Meave Leakeys Ehemann Richard 1970 am Ostufer des Turkana-Sees fand und der heute unter der Bezeichnung Homo rudolfensis geführt wird.

Die ungewöhnliche Kombination von eher primitiven mit fortschrittlicheren Merkmalen spricht klar dafür, dass es sich bei dem Fund um eine eigene Hominidenart handelt. Doch rechtfertigt sein Merkmalsspektrum auch die Erhebung zu einer neuen Gattung?

Die Ähnlichkeiten zu H. rudolfensis und die morphologischen Unterschiede zu Lucy schließen laut Leakey und ihren Kollegen eine Eingliederung des Fundes in die Gattung Australopithecus aus. Eine Zuordnung zu Paranthropus kommt angesichts der nur geringen Gemeinsamkeiten noch weniger in Frage. Für eine Klassifikation als Homo schließlich reichen die fortschrittlicher ausgeprägten Merkmale nicht aus. KNM-WT 40000 lässt sich somit in keiner etablierten und morphologisch klar definierten Hominidengattung zwanglos unterbringen. Da scheint es nur konsequent, wie von Leakey vorgeschlagen, eine neue Gattung zu postulieren.

Aber so ganz mag diese Lösung nicht befriedigen. Das liegt auch daran, dass außer dem Schädel keine anderen Knochen gefunden wurden, die zum gleichen Fossil gehören könnten. Über den Körperbau von Kenyanthropus ist deshalb nichts bekannt. Seine Besonderheit beruht also letztlich nur auf der ungewöhnlichen Kombination kleiner Backenzähne mit einem großen, flachen Gesicht und einer hohen Wangenregion, die bei früheren oder zeitgleichen Hominidenarten so nicht vorkommt. Alle anderen bekannten Hominidenarten mit großen Gesichtern und ähnlich positionierten Backenknochen haben große Zähne.

Diese Unterschiede deuten auf divergierende Ernährungsstrategien hin. Tim White von der Universität Berkeley zieht deshalb die Möglichkeit in Betracht, dass es sich bei dem neuen Fund vom Turkana-See möglicherweise doch "nur" um eine durch Anpassung an spezifische Umwelt- und Nahrungsbedingungen entstandene Unterart des Australopithecus afarensis handeln könnte.

Ungleiche Zeitgenossen


Datierung und Fundort erlauben in jedem Fall den Schluss, dass K. platyops und A. afarensis gemeinsam vor etwa 3,5 bis 3 Millionen Jahren in Ostafrika lebten. Ob sie sich dabei begegneten, und wenn ja, ob sie dies als Vertreter unterschiedlicher Gattungen oder lediglich unterschiedlicher Spezies taten, lässt sich momentan noch nicht mit Sicherheit sagen.

Eines steht allerdings fest: Die Hominidenevolution ist zu keiner Zeit geradlinig oder gar zielgerichtet verlaufen. Die Existenz nur einer Hominidengattung zu einer bestimmten Zeit – ein Zustand, wie wir als Homo sapiens ihn seit rund 30000 Jahren nicht mehr anders gewohnt sind – ist in unserer Stammesgeschichte (wie auch in der vieler anderer Säugetiere) zweifellos die Ausnahme. Wie uns die Fossilfunde der letzten Jahre verdeutlichen, gab es vor 3,5 bis 2 Millionen Jahren stets mehrere Hominidenarten, die jeweils mehr oder weniger erfolgreich an bestimmte Lebensräume und Klimabedingungen angepasst waren. Bisher ist offen, welche davon in der direkten Abstammungslinie des Menschen stehen und welche sich als Sackgassen der Evolution erwiesen haben. Diese Frage zu beantworten wird die spannende Herausforderung für die Anthropologen in der nächsten Zukunft sein.

Dabei gilt es, sich zur taxonomischen Bestimmung fossiler Funde nicht mehr nur auf die herkömmlichen morphologisch deskriptiven Verfahren zu stützen. Moderne Methoden der Datenerhebung wie die Paläogenetik, die Vergleiche zwischen vorhandenen Resten von Erbgut anstellt, warten darauf, auch von denen genutzt und verbessert zu werden, die einem der interessantesten Rätsel der Wissenschaft nachspüren: der Frage nach dem Ursprung unserer eigenen Art.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.