Neurokritik: Unter Verdacht
Ein Gespenst geht um in den Köpfen, das Gespenst vom allmächtigen Gehirn. Es macht und tut – denkt, fühlt, entscheidet, befiehlt –, und das Ich steht daneben und kommt sich überflüssig vor. So könnte man das Bild beschreiben, das Neuroskeptiker von unserer aktuellen Seelenlage entwerfen. Neuroskeptiker? So bezeichnet sich eine wachsende Zahl von Laien, aber auch von Forschern, die neurowissenschaftliche Erklärungsansprüche argwöhnisch betrachten.
"Ich bin skeptisch, wenn es um die Hirnforschung geht", schreibt etwa der Journalist Ralf Caspary und spricht all jenen aus dem Herzen, die bezweifeln, dass die Betrachtung von Neuronen und Transmittern dem Wesen des Menschen nahekomme. Ebenso wenig könnten die so gewonnenen Erkenntnisse die Schule revolutionieren, das Strafrecht aus den Angeln heben oder uns davon überzeugen, wir seien willenlose Marionetten unseres Gehirns.
Liebe – nichts weiter als Erregungssalven im Belohnungssystem? Pubertierende – Opfer des neuronalen Umbaus in ihrem Stirnhirn, dem Sitz der kognitiven Kontrolle? Kreativität – bloß ein gesteigerter Informationsfluss zwischen Kortexarealen? In einem populären Sachbuch erklärt Caspary stellvertretend für viele neurokritische Geister, dass die Studien von Hirnforschern "nicht an unsere emotionale und kognitive Komplexität heranreichen, ja, nicht heranreichen können, weil sie das Individuum, seine Geschichte und Geschichten ausblenden". Besonders bedenklich sei, wie sich mit der Biologisierung des Geistes "ein radikales Effizienz- und Leistungsdenken etabliert haben. ... Je mehr wir unsere Natur erforschen, desto dringlicher erscheint uns deren Optimierung." ...
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