Nationalsozialismus: "Wir wollen den Opfern ihre Namen zurückgeben"
Herr Professor Fangerau, in Ihrem Forschungsprojekt untersuchen Sie, welche Rolle Neurologen während des Nationalsozialismus spielten. Warum geschieht das erst jetzt, nach über 70 Jahren?
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es verschiedene Phasen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus. Unmittelbar nach 1945 erfolgte die Entnazifizierung durch die Alliierten. Danach hat die Gesellschaft eher versucht, ihre dunkle Vergangenheit zu verdrängen. Erst die nächste Generation verschloss die Augen nicht mehr: Während der 68er Bewegung empörten sich junge Menschen über die mangelnde Befassung mit dem "Dritten Reich". Bei den medizinischen Fachgesellschaften hat die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit noch länger gedauert. Die Aufarbeitung der Verbrechen begann gerade einmal in den 1980er Jahren. Dass die medizinhistorische Forschung zur Neurologie erst in den letzten Jahren systematisch zusammengetragen wurde, hat auch mit der 1935 erfolgten Zwangsvereinigung von Neurologen und Psychiatern zu tun. Vorher hatte die Neurologie gerade angefangen, sich von der Psychiatrie zu emanzipieren. Die Idee dahinter war, schwer zu fassende psychische Phänomene den Psychiatern zu überlassen und sich eher auf anatomisch nachweisbare Störungen zu konzentrieren. Diese Bestrebungen machten die Nationalsozialisten zunichte. Sie versprachen sich von der Zusammenführung der beiden Fachrichtungen in die psychiatrisch dominierte – und rassenhygienisch ideologisierte – "Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater" die medizinischen Fachgesellschaften besser kontrollieren zu können. Mit Ernst Rüdin übernahm ein Psychiater den Vorsitz. All das führte dazu, dass die Neurologie lange als eine wenig belastete Disziplin gesehen wurde. Unsere Arbeit zeichnet allerdings ein anderes Bild.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Untersuchung?
Die Neurologie als Fach war sehr wohl in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt. Die nationalsozialistische Rassenhygiene diente in Verbindung mit Mitleidsargumenten und Kostensenkungsideen als Rechtfertigung für die systematische Tötung von mehr als 70 000 behinderten und kranken Menschen – von den Nazis beschönigend "Euthanasie" genannt. Daran waren nicht nur Psychiater, sondern auch Neurologen beteiligt. Die Trennung, wer Neurologe und wer Psychiater war, fällt dabei nicht immer leicht. Die Ärzte begutachteten Patienten, und wer als störend oder nicht arbeitsfähig galt, wurde in eine Tötungsanstalt verlegt und dort umgebracht. Das Gehirn der Ermordeten aus Pflege- und Heilanstalten nutzten Neurowissenschaftler anschließend zu Forschungszwecken ...
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