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Neuroplastizität: Wie das Gehirn sich selbst heilt

Unser Denkorgan ist hochempfindlich. Abgestorbene Neurone wachsen in der Regel zwar nicht wieder nach, viele Schäden aber repariert das Nervengewebe von ganz allein – vorausgesetzt, wir funken nicht zur falschen Zeit dazwischen!
Künstlerische Darstellung des Gehirns

Als Herr K. sich in unserer Gedächtnisambulanz vorstellte, hatte er bis dahin nichts sonderlich Auffälliges an sich feststellen können. Seine Ehefrau hatte ihn geschickt, er solle sich doch mal wegen seines hin und wieder lückenhaften Gedächtnisses untersuchen lassen. Sein Leben lief bisher völlig normal, er hatte eine mittlere Beamtenlaufbahn eingeschlagen und war nun regulär in Rente.

Beim Routine-Check im Hirnscanner fiel den Medizinern jedoch Erstaunliches auf: Eine riesige Zyste verdrängte die eine Hirnhälfte fast komplett. Vermutlich war Herr K. von Geburt an mit nur einem halben Gehirn herumgelaufen, ohne dadurch nur im Geringsten eingeschränkt gewesen zu sein.

Dieses Beispiel zeigt: Unser Denkorgan ist zu beachtlichen Umbaumaßnahmen fähig! Sowohl angeborene als auch später erworbene Schäden kann es bis zu einem gewissen Grad kompensieren oder gar reparieren. Dazu zählen auch so genannte »stille Hirninfarkte«, also kleine Schlaganfälle, die man zwar im Hirnscanner sehen kann, von denen die Patienten aber nichts spüren, weil das Gehirn sie unbemerkt ausbügelt.

Im Jahr 2019 baten die Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann und ihr Team von der University of Iowa sechs Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren in den Magnetresonanztomografen. Allen sechs Probanden war während ihrer Kindheit wegen schwerer epileptischer Anfälle eine Hemisphäre entfernt worden. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten diverse Hirnfunktionen, darunter auch, wie gut die einzelnen Areale zusammenarbeiteten. Dabei stellten sie kaum Unterschiede zu Kontrollprobanden mit vollständigem Gehirn fest.

Wie ist das möglich? Heißt es nicht immer, nur das periphere Nervensystem sei in der Lage, sich zu regenerieren? Tatsächlich war über Jahrhunderte hinweg gängige Lehrmeinung, die Strukturen des zentralen Nervensystems seien im Erwachsenenalter so stabil, dass eine Schädigung irreversible Folgen hätte. Man nahm an, bestimmte Hirn- oder Rückenmarksareale hätten jeweils eine feste Funktion, die unwiederbringlich verloren gehe, sobald die Region durch einen Schlaganfall oder eine andere Verletzung beschädigt sei.

Vor 10 bis 20 Jahren begann das Bild sich jedoch allmählich zu wandeln  ...

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  • Quellen

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Caracciolo, L. et al.: CREB controls cortical circuit plasticity and functional recovery after stroke. Nature Communications 2250, 2018

Joy, M. T., Carmichael, S. T.: Encouraging an excitable brain state: mechanisms of brain repair in stroke. Nature Reviews Neuroscience 22, 2021

Kliemann, D. et al.: Intrinsic functional connectivity of the brain in adults with a single cerebral hemisphere. Cell Reports 29, 2019

Murphy, T. H., Corbett, D.: Plasticity during stroke recovery: From synapse to behaviour. Nature Reviews Neuroscience 10, 2009

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Wahl, A.-S. et al.: Early reduced behavioral activity induced by large strokes affects the efficiency of enriched environment in rats. Journal of Cerebral Blood Flow and Metabolism 39, 2019

Wahl, A.-S. et al.: Optogenetically stimulating intact rat corticospinal tract post-stroke restores motor control through regionalized functional circuit formation. Nature Communications 8, 2017

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Ward, N. S. et al.: The relationship between brain activity and peak grip force is modulated by corticospinal system integrity after subcortical stroke. European Journal of Neuroscience 25, 2007

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