Teilchenphysik: Neutrinomasse und es gibt sie doch!
Eines der großen Rätsel, das die Physiker seit 1968 beschäftigt, nähert sich mit rasanten Schritten seiner endgültigen Lösung: das Sonnenneutrino-Problem. Die Sonne gewinnt ihre immense Energie bekanntlich aus der Fusion von Wasserstoff zu Helium und anderen schwereren Elementen. Nebenher entstehen dabei zahlreiche Elektron-Neutrinos. Da sie nur sehr schwach mit Materie wechselwirken, braucht es aufwendige Experimente, den auf der Erde ankommenden Strom dieser Teilchen zu bestimmen.
Zwischen 1968 und 1970 gelang Raymond Davis und seinen Kollegen mit Hilfe eines unterirdischen Tanks aus 400000 Litern Perchlorethylen die erste solche Messung. Das Ergebnis überraschte die Sonnenforscher: Der ermittelte Fluss an hochenergetischen solaren Neutrinos hatte nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der erwarteten Intensität. Spätere Messungen bestätigten das Defizit. Dazu zählte insbesondere das Gallex-Experiment im italienischen Gran-Sasso-Tunnel in den 1990er Jahren. Es erfasste erstmals auch die niederenergetischen Neutrinos, die aus dem Hauptzweig der solaren Fusionsreaktionen stammen: der Verschmelzung von zwei Protonen zu einem Deuterium-Kern. Ihre Menge erreichte zwar fast den theoretisch vorausgesagten Wert, die Gesamtzahl der Neutrinos fiel jedoch auch bei diesem Experiment deutlich zu gering aus.
Für den Fehlbetrag diskutieren die Forscher seither zwei mögliche Ursachen: Unzulänglichkeiten im Sonnenmodell oder Besonderheiten im Verhalten der Neutrinos, die in der Standard-Teilchentheorie nicht vorgesehen sind. Erste Entscheidungshilfe lieferten Vergleiche zwischen den Ergebnissen der diversen Experimente, die bis heute durchgeführt wurden. Sie erlauben Rückschlüsse darauf, wie hoch der Anteil von Neutrinos, die von unterschiedlichen Zweigen des Fusionsprozesses stammen, am gesamten Fluss ist. Diese Abschätzungen stehen in Einklang mit dem Sonnenmodell.
Dasselbe gilt für die Ergebnisse helioseismischer Untersuchungen aus neuerer Zeit. Die dabei gemessenen Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Schallwellen in der Sonne stimmen auf 0,1 Prozent genau mit den Vorhersagen des Sonnenmodells überein. Alle denkbaren Erklärungen für einen geringeren solaren Neutrinofluss postulieren eine niedrigere Temperatur im Zentrum unseres Zentralgestirns. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den seismischen Geschwindigkeiten.
Diese Resultate deuteten bereits darauf hin, dass die Ursache des solaren Neutrinoproblems in den Teilchen selbst liegt. Mit dem Ergebnis des jetzigen Experiments am kanadischen Sudbury-Neutrino-Observatorium SNO neigt sich die Waagschale nun endgültig dieser Erklärung zu. Demnach rührt das Defizit aller Wahrscheinlichkeit nach daher, dass die Elektron-Neutrinos auf ihrem Weg vom Zentrum an die Oberfläche der Sonne und auf dem etwa acht Minuten dauernden Flug zur Erde in eine der beiden anderen Neutrino-Arten (Myon- oder Tau-Neutrino) umgewandelt werden, die bei den bisherigen Experimenten nicht nachweisbar waren.
Grundbedingung für eine solche Umwandlung ist, dass Neutrinos eine von null verschiedene Ruhemasse haben. In diesem Falle sind die drei bekannten Arten nur Überlagerungen von verschiedenen Masse-Eigenzuständen, zwischen denen die Teilchen umso schneller wechseln können, je "schwerer" sie sind.
Deutliche Anzeichen für solche Oszillationen und damit für eine von null verschiedene Neutrino-Ruhemasse lieferte erstmals vor drei Jahren das Superkamiokande-Experiment in Japan bei atmosphärischen Antineutrinos (Spektrum der Wissenschaft 8/98, S. 14). Diese entstehen, wenn kosmische Strahlen auf die Erdatmosphäre treffen, und sind anhand ihrer sehr hohen Energie, die mehr als 10 Milliarden Elektronenvolt betragen kann, klar von den solaren Neutrinos zu unterscheiden, die nur bis etwa 20 Millionen Elektronenvolt erreichen. Die Daten des Superkamiokande-Experiments, bei dem ein 41 Meter hoher Tank mit 50000 Tonnen Wasser in einem 1000 Meter tiefen Bergwerksstollen als Detektor diente, deuteten auf die Umwandlung von Myon- in Tau-Antineutrinos hin. Dass der Wechsel von Elektron-(Anti-)Neutrinos in eine der anderen beiden Neutrino-Arten nicht beobachtet werden konnte, verwundert nicht. Er geschieht nämlich wesentlich langsamer – zu langsam, um auf der kurzen Strecke von der Atmosphäre zum Detektor stattzufinden, selbst wenn die Teilchen vorher die Erde durchqueren.
Wechsel der Identität
Auf dem Weg vom Zentrum der Sonne zur Erde ist eine solche Oszillation aber sehr wohl möglich. Das liegt zum einen an der viel längeren Strecke, zum anderen aber auch daran, dass die Umwandlung innerhalb der Sonne bei Neutrinos durch eine so genannte Resonanz beschleunigt wird. Auf diese Tatsache hatten die russischen Physiker Stanislaw P. Michejew und Alexej J. Smirnow schon 1986 auf einem Symposium in Heidelberg hingewiesen. Der Effekt wird heute als MSW-Effekt bezeichnet, wobei W für den US-Physiker Lincoln Wolfenstein steht, der auch zur theoretischen Ableitung beigetragen hat. Wie diese resonante Umwandlung der Elektron-Neutrinos in Myon- und Tau-Neutrinos im Einzelnen stattfindet, hängt von der Energie der Neutrinos, der Entfernung vom Erzeugungsort und der Differenz ihrer Massenquadrate ab. Für das theoretische Modell, das die Identitätsänderung beschreibt, gibt es mehrere Lösungsmöglichkeiten. Welche die richtige ist, muss durch Vergleich mit den experimentellen Daten bestimmt werden.
Das Sudbury-Neutrino-Observatorium (SNO) besteht aus einem kugelförmigen Detektor von zwölf Metern Durchmesser mit 1000 Tonnen schwerem Wasser, eingebettet in 7000 Tonnen normales Wasser. Zur Abschirmung kosmischer Strahlung ist die Anlage in einer Nickelmine über zwei Kilometer tief unter der Erde in Ontario installiert. Etwa fünf Neutrinos pro Tag werden registriert.
Die Nachweisgrenze liegt bei ungefähr fünf Millionen Elektronenvolt. Gemessen werden deshalb nur hochenergetische Elektron-Neutrinos aus einem Seitenzweig der Fusionsprozesse in der Sonne: dem Zerfall von Bor-8 in Beryllium-8 und ein Positron. Das geschieht zum einen anhand der Reaktion der Neutrinos mit dem Deuterium des schweren Wassers. Dabei entstehen je zwei Protonen und ein Elektron. Dieses bewegt sich zunächst schneller als Licht in Wasser und sendet deshalb so genannte Tscherenkow-strahlung aus, zu deren Beobachtung 9456 Photomultiplier (Lichtverstärker) um den Tank herum angebracht sind.
Auf diese "klassische" Weise können gezielt nur solare Elektron-Neutrinos nachgewiesen werden. Parallel dazu erlaubt der Detektor aber auch den Nachweis von Neutrinos, die elastisch an Elektronen gestreut werden. Und dieser Prozess spricht – obwohl nur schwach – auch auf Myon- und Tau-Neutrinos an, die durch Oszillationen entstehen. In 241 Tagen wurden mit beiden Verfahren bisher insgesamt 1169 Ereignisse gezählt.
Interessant ist nun der Vergleich der Ergebnisse beider Nachweismethoden. Die Reaktion mit Deuterium lieferte einen Wert für den Neutrinofluss bei hohen Energien, der um 3,3 Standardabweichungen kleiner ist als derjenige aus der elastischen Streuung, sofern man dafür das mit dem Superkamiokande-Detektor gemessene Präzisionsresultat einsetzt. Demnach wurden mit dem zweiten Verfahren offenbar zusätzlich Myon- oder Tau-Neutrinos nachgewiesen, die durch Oszillationen aus Elektron-Neutrinos entstanden sind. Dies ist das erste direkte Anzeichen für eine solche Umwandlung bei solaren Neutrinos.
Außerdem konnte der gesamte Fluss an aktiven Neutrinos aus dem Zerfall von Bor-8 bestimmt werden. Die gefundenen 5,44 Millionen Teilchen pro Quadratzentimeter und Sekunde stimmen recht gut mit den 5,05 Millionen überein, die sich aus dem Sonnenmodell ergeben. Dies ist ein Triumph für die Theorie der Sternentwicklung, und womöglich der spektakulärste Teil der SNO-Resultate. Demnach haben die Astrophysiker die Zentraltemperatur der Sonne von 15,7 Millionen Kelvin auf immerhin 1 Prozent genau berechnet.
Wenn weitere Messungen die Ergebnisse bestätigen, kann das solare Neutrinoproblem als gelöst gelten: Ursache des Defizits vor allem bei hohen Energien sind in der Tat Neutrino-Oszillationen; am Sonnenmodell ist nicht zu rütteln. Die weit reichende Konsequenz heißt dann aber auch, dass Neutrinos eine von null verschiedene Ruhemasse haben. Deren Betrag lässt sich aus Oszillationsexperimenten jedoch nicht bestimmen, da diese nur die Differenz der Massenquadrate zwischen zwei Neutrinoarten anzeigen. Dieser Wert ergab sich für Elektron- und Myon-Neutrinos zu unter einem tausendstel Elektronenvolt zum Quadrat. Die Superkamiokande-Wissenschaftler hatten seinerzeit bei ihren Messungen von Atmosphärenneutrinos eine Differenz der Massenquadrate von Anti-Myon- und -Tau-Neutrinos von etwa fünf tausendstel Elektronenvolt zum Quadrat ermittelt. Das neue Ergebnis für die Sonnenneutrinos ist unter bestimmten Voraussetzungen damit vereinbar.
Der Nachweis einer endlichen Neutrinomasse unterstreicht die Notwendigkeit einer Erweiterung des Standardmodells der Teilchenphysik, an der Theoretiker seit langem arbeiten. Seine Konsequenzen sind erheblich; denn an die Stelle des vergleichsweise einfachen Bildes masseloser linkshändiger Neutrinos und rechtshändiger Antineutrinos muss eine deutlich kompliziertere Konstruktion treten, deren mathematische Fundierung manchen Lesern gewiss Freude bereiten wird.
Auch wenn sich die Massenwerte der drei Neutrino-Arten nicht einzeln bestimmen lassen, liefern die Ergebnisse der Superkamiokande- und Sudbury-Experimente – zusammen mit der heutigen Obergrenze von 2,8 Elektronenvolt für die Masse des Elektron-Neutrinos – immerhin einen Schätzwert für ihre Summe: Sie kann nicht größer als 8,4 Elektronenvolt sein. Das dürfte Kosmologen enttäuschen, die gehofft hatten, Neutrinos würden auch das Problem der fehlenden Materie im Universum lösen. Bei so geringen Massewerten können sie keinen wesentlichen Beitrag zur dunklen Materie leisten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2001, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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