Physik: Neutronen für Europa
Auf einer internationalen Tagung im Alten Bundeshaus in Bonn wurde im Mai ein neues Projekt der europäischen Forschung mit Neutronen vorgestellt: die geplante Spallationsquelle ESS. Sie soll die leistungsfähigste Neutronenquelle der Welt werden.
Neutronen bilden zusammen mit den positiv geladenen, nur geringfügig leichteren Protonen die Bausteine aller Atomkerne. Gebunden sind sie stabil und ermöglichen so den Aufbau unserer materiellen Welt. Als freie Teilchen zerfallen sie dagegen mit einer Halbwertszeit von 10,2 Minuten. Gemäß dem Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik bilden sie Materiewellen mit einer Wellenlänge, die von ihrer Geschwindigkeit abhängt. Bei "thermischen" Neutronen, die sich nur so schnell bewegen wie die Atome der umgebenden Materie, liegt die Wellenlänge zwischen 0,1 und 0,4 Nanometern, also im Bereich der Atomabstände in Festkörpern. Entsprechend feine Details lassen sich mit ihnen abbilden. Sichtbares Licht mit seiner sehr viel größeren Wellenlänge von 400 bis 800 Nanometern ermöglicht dagegen nur eine deutlich schlechtere Auflösung.
Ultraviolett-Laser arbeiten heute im Bereich von etwa 100 Nanometern (siehe "Licht mit Zukunft", Spektrum der Wissenschaft 4/2002, S. 17); erst Röntgenstrahlung lässt jedoch eine mit Neutronen vergleichbare Auflösung zu. In den für die Zukunft geplanten Quellen – insbe-sondere Tesla – wird sie sogar als Laserlicht verfügbar sein.
Beim Durchqueren von Materie werden Neutronen im Wesentlichen von den Atomkernen gestreut. Da sie ungeladen sind, dringen sie tief in Festkörper ein. Deshalb erlauben sie, deren innere Struktur sehr genau zu untersuchen. Dabei erkennen sie sogar unterschiedliche Isotope eines Elements; denn deren Streukraft für Neutronen ist verschieden, obwohl sie sich chemisch gleich verhalten. Röntgenstrahlung, die zwar auch Wellenlängen unter 1 Nanometer hat, aber von den Elektronen der Atome gebeugt wird, kann das nicht. Außerdem ist sie für die sehr leichten Wasserstoffatome praktisch blind. Neutronen werden dagegen auch an ihnen stark gebeugt und verraten so ihre Position. Das ist vor allem für die Untersuchung biologischer Proben, die Wasserstoff an entscheidenden Positionen enthalten, sehr wichtig.
Schließlich lassen sich atomare und molekulare Bewegungen detailliert analysieren, indem man die Energieänderung der Neutronen bei der Streuung misst. So gelingt es beispielsweise, die Schwingungsenergie eines Kristalls zu ermitteln, was Hinweise auf dessen Wärme- und Stromleitungseigenschaften gibt.
Angesichts all dieser Vorteile hat sich die Neutronenforschung zu einem wichtigen, rasant expandierenden Wissenschaftszweig entwickelt, der die Forschung mit Röntgenphotonen in vieler Hinsicht ergänzt. Die benötigten Neutronen werden dabei entweder in "Spallationsquellen" durch Beschuss eines Targets mit einem energiereichen Protonenstrahl oder in Forschungsreaktoren durch Kernspaltung erzeugt.
Zum zweiten Typ gehört die stärkste Neutronenquelle in Europa: der Höchstfluss-Reaktor am Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble. Der Neutronenfluss ist dort doppelt so hoch wie bei der einzigen vergleichbaren deutschen Neutronenquelle, die allerdings, obwohl weitgehend fertiggestellt, noch immer auf die Betriebsgenehmigung wartet: der Münchner Forschungsreaktor FRM-II.
Die Anlage soll kontinuierliche thermische Neutronen liefern und zunächst mit Brennelementen auf der Basis von hochangereichertem Uran-235 betrieben werden. Da dieser Brennstoff internationalen Bestrebungen zuwiderläuft, die Verbreitung von kernwaffenfähigem Material einzudämmen, stößt sie auf politischen Widerstand. Deshalb ist eine spätere Umrüstung auf Brennelemente aus niedriger angereichertem, nicht waffenfähigem Uran vorgesehen. Das würde Brennelementgröße und thermische Leistung nicht ändern, den Neutronenfluss aber etwas reduzieren und die "Nutzungsqualität" entsprechend mindern.
Weltweit leistungsfähigste Anlage
Spallationsquellen werfen keine Proliferations- und nur marginale Radioaktivitäts- und Sicherheitsprobleme auf; denn sie beruhen auf einem völlig anderen physikalischen Prinzip. Hier wird ein Protonenstrahl in einem Beschleuniger auf hohe Energien gebracht und auf ein Blei- oder Quecksilbertarget geschossen. Die getroffenen Kerne senden dann die gewünschten Neutronen aus. Basis der europäischen Neutronenforschung an Spallationsquellen sind derzeit die gepulste Quelle Isis am Rutherford Appleton Laboratory mit einem Protonenstrahl von 156 Kilowatt Leistung und die weltweit stärkste – allerdings koninuierliche – Spallationsquelle SINQ am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz, deren Strahlleistung 1 Megawatt beträgt. In Amerika ist SNS (Qak Ridge, 1 Megawatt) und in Japan eine vergleichbare Quelle (Tokai, 1 Megawatt) im Bau.
Die geplante Europäische Spallationsquelle ESS (European Spallation Source) mit zweimal 5 Megawatt Strahlleistung soll die weltweit leistungsfähigste Anlage werden; sie wird eine dreißigfach höhere Spitzenintensität haben als Isis. Vorgesehen ist ein Protonen-Linearbeschleuniger mit 1,3 Milliarden Elektronenvolt Einschussenergie, der an zwei Targetstationen Neutronen mit unterschiedlicher Zeitstruktur und verschiedenen spektralen Eigenschaften erzeugt, die dann für die Forschung an vierzig Instrumenten zur Verfügung stehen. Die zeitgemittelte Neutronenintensität wird die des Höchstfluss-Reaktors am ILL um zwei Größenordnungen übertreffen.
Über den Bau und den Standort in Europa – derzeit sind fünf Standorte in der Diskussion, darunter Lund, Leipzig und Jülich – soll bis 2004 entschieden werden, die Inbetriebnahme ist für 2010 geplant. Zu den Perspektiven des Projekts äußern sich der wissenschaftliche Koordinator Dieter Richter und Richard Wagner, für ESS zuständiges Vorstandsmitglied am Forschungszentrum Jülich, in einem Interview auf Seite 12.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2002, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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