Neutronenmessung bei geringer Strahlendosis
Der Mensch ist in vielen Bereichen Strahlung ausgesetzt. Röntgenstrahlung, Gammastrahlung, Alphateilchen und Neutronen können so viel Energie auf den Körper übertragen, daß sich chemische Bindungen im Körpergewebe auflösen. Gesundheitliche Schäden sind die Folge. Vor allem die Neutronenstrahlung ließ sich bisher nur schwer messen. Ein neuer Detektor macht nun ihre Messung auch in großen Höhen möglich.
Die Neutronenstrahlung gehört zur natürlichen Höhenstrahlung. Unmittelbar über der Erdoberfläche ist ihre Wirkung gering. Doch in großen Höhen, etwa auf den Flugkorridoren der Atlantikroute, stellt sie eine bedeutende Strahlungsart dar. Auch bei einigen technischen Anwendungen entstehen Neutronen, insbesondere in Kernreaktoren und bei der Kernfusion. Sie werden außerdem von abgebrannten Brennelementen aus Kernkraftwerken freigesetzt. Weiterhin entstehen Neutronen an Teilchenbeschleunigern für die Medizin und die Forschung.
Neutronen können biologisches Zellgewebe stärker als Gammastrahlung schädigen. Das ist für den Strahlenschutz wichtig und führte zur physikalischen Größe der Äquivalentdosis, deren Einheit das Sievert ist. Mit diesem Begriff beschreiben Wissenschaftler die auf den Körper übertragene Energie und berücksichtigen zugleich die unterschiedliche biologische Wirksamkeit der verschiedenen Strahlungen. Anhand der Äquivalentdosis läßt sich also das Strahlenrisiko abschätzen. Gemessen wird die Äquivalentdosis mit Dosimetern. Ortsdosimeter sind tragbare Geräte, sie zeigen die Strahlendosis an einem bestimmten Ort unmittelbar an. Personendosimeter, etwa am Kittel eines Reaktoringenieurs getragen, erfassen die Dosis einer Person über einen bestimmten Zeitraum. Beim Streit um die Strahlenbelastung für Polizeibeamte an Castor-Transporten war immer wieder von Neutronenstrahlung die Rede, doch es fehlten die geeigneten Personendosimeter. Auch für Flugpersonal fehlen die richtigen Meßgeräte.
Neutronen sind elektrisch neutral. Sie lassen sich nur indirekt über die elektrisch geladenen Teilchen nachweisen, die sie bei Kernreaktionen erzeugen. Dabei sind zahlreiche Varianten möglich, abhängig von ihrer Energie oder von der Art des Atomkerns, auf den die Neutronen treffen. Auch die biologische Wirkung der Neutronen hängt stark von ihrer Energie ab. Sie kann zwischen einem tausendstel und einer Milliarde Elektronenvolt schwanken, das sind immerhin zwölf Zehnerpotenzen. Leider sind Neutronendosimeter bis heute noch sehr unvollkommen. Ihre Empfindlichkeit hängt ebenfalls stark von der Energie der Neutronen ab. Während der letzten Jahre konzentrierten sich Forscher darauf, diese Energieverteilung der Neutronenstrahlung besser zu messen. Neben anderen wissenschaftlichen Untersuchungen förderte die Europäische Union (EU) auch die Entwicklung neuer Dosimeter. Bislang tragen die meisten überwachten Personen Filmdosimeter, in denen die Strahlung je nach Dosis einen empfindlichen Film schwärzt, ähnlich wie das Licht im Fotoapparat. Deren Auswertung nimmt Tage in Anspruch und erfordert aufwendige Apparate. Bei den neuen, tragbaren Detektoren sollte die Dosis sofort auf einer eingebauten Anzeige erscheinen.
Es erfordert normalerweise einen ungeheuren Aufwand, alle Neutronen eines Strahlenfeldes gleichermaßen zu erfassen. Für jeden Energiebereich wäre eine eigene Apparatur notwendig. Nur das Vielkugel-Spektrometer kann alle Energien der Neutronen zugleich messen. Es besteht aus etwa zehn Polyethylen-Kugeln mit verschiedenen Durchmessern und Einsätzen. Im Zentrum jeder Kugel befindet sich ein Detektor, der bevorzugt jene Neutronen registriert, die im Polyethylen abgebremst wurden. Das Meßergebnis besteht somit aus etwa zehn Zahlen. Übertragen auf die gesamte Neutronenstrahlung, die zum Beispiel in hundert verschiedene Energiebereiche unterteilt werden kann, läßt sich daraus noch kein eindeutiges Ergebnis für die Energieverteilung finden. Es gibt vielmehr eine große Anzahl möglicher Verteilungen, die physikalisch mehr oder weniger plausibel sind. Unsinnige Lösungen oder wenig wahrscheinliche Resultate lassen sich aber durch zusätzliche Hinweise ausschließen. Die übrigbleibende Lösung für das Neutronenspektrum im gesamten Energiebereich kann als sehr zuverlässig gelten.
Wissenschaftler der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig haben das Vielkugel-Spektrometer entscheidend verbessert. Sie bestimmten die Anzahl der Meßimpulse im Verhältnis zur Anzahl der auf die Kugel treffenden Neutronen und konnten dies den verschiedenen Neutronenenergien zuordnen. Mit dem Vielkugel-Spektrometer als Referenzgerät läßt sich ermitteln, wie gut andere Dosimeter für Neutronen mit unterschiedlichen Energien geeignet sind.
Dosismessung in Flugzeugen
Das komplexe Strahlungsfeld, das Flugzeuge in großen Höhen durchqueren, ist noch vielschichtiger als das auf der Erde. Zu den Neutronen und zur Gammastrahlung kommen verschiedene elektrisch geladene Teilchen wie Elektronen, Myonen, Protonen und Pionen hinzu. Ihr Einfluß auf die Dosimeter ist noch unbekannt. Zudem sind die für die Kerntechnik entwickelten Neutronendosimeter nicht für den Energiebereich der Höhenstrahlung geeignet. Um die Dosis in Flughöhen zu messen, erwies sich ein spezieller Proportionalzähler als tauglich, der für alle Strahlenarten geeignet ist und die gesamte Dosis ermittelt. Dieser Detektor besitzt eine elektrisch leitfähige Wandung aus Kunststoff, dessen atomare Zusammensetzung dem von Muskelgewebe entspricht. Wie organische Materie besteht er im wesentlichen aus den Elementen Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff und Stickstoff. In seinem Innern befindet sich ein Gasgemisch aus Kohlenwasserstoffen, Kohlendioxid und Stickstoff, das ein biologisches Gewebevolumen simuliert. Dieses Gemisch fungiert als Zählgas des Proportionalzählers, es mißt faktisch, wieviel Energie von der Strahlung auf das Gewebe überging. In großen Flughöhen werden etwa 50 Prozent der Äquivalentdosis durch Neutronen verursacht, der weitaus größte Teil davon mit Energien von mehr als 100000 Elektronenvolt. In diesem Bereich weicht der neu entwickelte Detektor nur ganz gering von den Vorgaben ab. Auf umfangreichen Meßflügen mußte das Gerät den Vergleich mit anderen Dosimetern bestehen. Dabei zeigte sich, daß die Dosis insbesondere von der Flughöhe, der geomagnetischen Breite und der Sonnenaktivität abhängt.
Der Dosisgrenzwert für Menschen, die aus beruflichen Gründen einer Strahlung ausgesetzt sind, liegt nach den Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission bei 0,02 Sievert pro Jahr. Herkömmliche Personen-Neutronendosimeter reichen aus, dieses Limit zu überwachen. Die Begleitpersonen für Castor-Transporte zählen aber nicht zu den beruflich strahlenüberwachten Personengruppen. Für sie gilt 0,001 Sievert pro Jahr, derselbe Grenzwert wie für die übrige Bevölkerung. Dafür benötigt man empfindlichere Personendosimeter. In einem zur Zeit laufenden EU-Vorhaben werden verschiedene Ansätze untersucht, um dieses Ziel mit direkt anzeigenden Dosimetern zu erreichen. Vielversprechend scheinen zum Beispiel Detektoren aus Silizium-Halbleitern oder sogenannte Blasendetektoren, die überhitzte Flüssigkeitströpfchen in einem Gel enthalten und auf diese Weise das Körpergewebe simulieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 948
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben