Nobelpreis für Chemie - automatische Genvervielfältigung und gezielte Mutagenese
Für die Entdeckung eines Verfahrens zur schnellen und einfachen Vervielfältigung von DNA wurde dem amerikanischen Biochemiker Kary B. Mullis der diesjährige Chemie-Nobelpreis verliehen. Er teilt sich die Ehrung mit Michael Smith von der Universität von British Columbia in Vancouver, der für die Entwicklung einer Methode ausgezeichnet wurde, gezielt an einer gewünschten Stelle der Erbsubstanz eine Mutation zu erzeugen.
"Es war ein Geistesblitz – bei Nacht, unterwegs auf einer mondbeschienenen Bergstraße, an einem Freitag im April 1983. Ich fuhr gemächlich mit meinem Wagen zu den Mammutbaumwäldern im Norden Kaliforniens, als aus einem unglaublichen Zusammentreffen von Zufällen, Naivität und glücklichen Irrtümern plötzlich die Eingebung kam: zu jenem Genkopierverfahren, das heute als Polymerase-Kettenreaktion (englisch polymerase chain reaction oder kurz PCR) bekannt ist."
So beschrieb Mullis im Juni 1990 in dieser Zeitschrift jene Entdeckung, die inzwischen alle biowissenschaftlichen Bereiche revolutioniert und ihm nun den Nobelpreis eingebracht hat. "Ausgehend von einem einzigen Molekül der Erbsubstanz DNA", fuhr er fort, "kann man damit an einem Nachmittag 100 Milliarden Kopien des gewünschten Abschnitts erzeugen ... Man braucht nur ein Reagenzglas, ein paar Zutaten und eine Wärmequelle. Die zu kopierende DNA muß nicht einmal in gereinigter Form vorliegen; ein Quentchen davon in einem hochkomplizierten Gemisch biologischer Substanzen genügt. Sie kann aus der Gewebeprobe eines Kranken stammen, aber auch aus einem einzigen menschlichen Haar, einem eingetrockneten Blutstropfen am Ort einer Gewalt tat, einem mumifizierten Gehirn oder einem 40|||000 Jahre alten Mammut, das im Dauerfrostboden leidlich konserviert worden ist."
Dabei hatte Mullis – damals als Wissenschaftler bei der Firma Cetus in Emeryville (Kalifornien) angestellt – gar nicht nach einem Genkopierer gesucht; vielmehr ging es ihm um eine Möglichkeit zu ermitteln, welcher Buchstabe des genetischen Alphabets in der Bauanleitung für den Organismus, als die man die DNA auffassen kann, an einer bestimmten Stelle steht. Naivität kam ins Spiel, weil der Plan zu diesem Verfahren auf allzu vereinfachten, unrealistischen Annahmen beruhte. Und als glücklicher Irrtum erwies sich, daß Mullis seine ursprüngliche Idee über einen Verfahrensschritt fälschlich als nicht machbar verwarf und nach einer Alternative suchte; dabei fand er jenen Trick, bei dem ihm schließlich aufging, daß er für etwas noch viel besseres taugt: eben die unkomplizierte, schnelle, beliebige Vervielfältigung jedes gewünschten DNA-Abschnitts.
Explosive DNA-Vermehrung
Das Verfahren nutzt in genialer Weise die Besonderheiten der Erbsubstanz und der Maschinerie, mit der die Zelle selbst – in der Regel bei der Zellteilung – DNA kopiert. Insbesondere beruht es auf dem Umstand, daß das fadenförmige Erbmolekül aus zwei Strängen besteht, die wie Negativ und Positiv einer photographischen Aufnahme zueinander komplementär sind. Jeder Strang setzt sich aus einem Sortiment von nur vier Bausteinen – Nucleotiden – zusammen, die wie Buchstaben einer stark vereinfachten Schrift aneinandergereiht sind und in deren Abfolge die genetische Botschaft verschlüsselt ist. Zwei dieser Bausteine passen jeweils in dem Sinne zusammen, daß sie sich in dem DNA-Doppelstrang fast wie die Zähne eines Reißverschlusses ineinander verhaken.
Auf diese Weise kann jeder der beiden Stränge als Vorlage oder Matrize für die Synthese des anderen dienen. In der Zelle fährt dazu ein bestimmtes Enzym – die DNA-Polymerase – daran entlang und erzeugt gewissermaßen die passende andere Reißverschlußhälfte, indem sie zu jedem Haken der Matrize jeweils das komplementäre Gegenstück an den wachsenden neuen Strang anfügt.
Allerdings gelten dabei zwei wichtige Einschränkungen. Zum einen kann sich die Polymerase nur in einer Richtung an einem DNA-Strang entlangbewegen – ähnlich wie ja auch bei einer Textzeile eine bestimmte Leserichtung (bei lateinischer Schrift zum Beispiel von links nach rechts) vorgegeben ist; und wie bei gespiegeltem Text verläuft die Leserichtung im Komplementärstrang rückwärts. Zum anderen braucht die Polymerase bereits ein fertiges Stück des neuen Strangs – im Fachjargon Primer genannt –, an dem sie ansetzen und es gleichsam fortspinnen kann.
Um nun einen bestimmten DANN-Abschnitt mit der Polymerase-Kettenreaktion zu kopieren, muß man von einem 20 bis 30 Nucleotide langen Stück links und rechts davon die genaue Nucleotidsequenz kennen und diese kurzen Stücke (Oligonucleotide) vorab herstellen, was seit gut zehn Jahren mit automatischen Verfahren möglich ist. Dabei nimmt man das eine Stück vom Original- und das andere vom Komplementärstrang. Anschließend erwärmt man die zu kopierende DNA, so daß sich ihre beiden Stränge voneinander trennen, versetzt die Lösung mit Polymerase und fügt frische Nucleotide sowie die beiden Oligonucleotide als Primer im Überschuß hinzu (Bild 1).
Wird die Lösung nun abgekühlt, lagern sich die Primer an den passenden Stellen an die beiden DANN-Stränge an: der eine an das – sagen wir – linke Ende des zu kopierenden Abschnitts auf dem Original- und der andere entsprechend an das rechte Ende auf dem Komplementärstrang. Daraufhin beginnt die Polymerase, von diesen Primern über den interessierenden Abschnitt hinweg zum vorliegenden Strang jeweils den dazu komplementären zu synthetisieren. Am Ende sind so aus zwei Strängen vier geworden; je zwei davon liegen wie ein zugezogener Reißverschluß miteinander gepaart vor.
Das Faszinierende an dem Verfahren ist nun, daß man diesen Zyklus nur wiederholen muß, indem man wieder erwärmt, so daß die Reißverschlüsse aufgehen, und abkühlt, damit sich erneut Primer anlagern und die Polymerase jeweils zum Negativ das Positiv und umgekehrt ergänzt. So werden aus vier acht und daraus beim dritten Zyklus 16 Stränge. Mit jeder Runde verdoppelt sich die Anzahl der Kopien des interessierenden DANN-Abschnitts. Ebendies ist das Prinzip einer Kettenreaktion, wie sie auch in Kernwaffen abläuft. Entsprechend explosiv – genauer exponentiell – ist die DANN-Vermehrung. Nach 20 Zyklen liegen bereits mehr als eine Million Kopien der ursprünglichen Erbsubstanz vor.
Genetische Spurensuche
Das Prinzip ist so einfach, daß das Verfahren schon gut 15 Jahre vor seiner Entdeckung praktikabel gewesen wäre und heute von Maschinen automatisch durchgeführt wird. Tatsächlich war Mullis zunächst überzeugt, daß es schon bekannt sein müsse und sich aus irgendwelchen Gründen als untauglich herausgestellt habe. Doch als er weder in der Literatur noch von Kollegen etwas darüber erfahren konnte, probierte er es aus – und es klappte. Aber selbst danach stieß er zunächst durchweg auf Skepsis, wenn er seine Entdeckung Fachkollegen beschrieb.
Inzwischen ist die Polymerase-Kettenreaktion zu einem Standardverfahren nicht nur in der molekularbiologischen Forschung geworden, sondern hat bedeutende Anwendungen auch in Bereichen wie der Medizin, der Paläontologie und der Kriminalistik gefunden. Bekannt ist der genetische Fingerabdruck, mit dem sich ein Verdächtiger eindeutig identifizieren läßt, selbst wenn nur Spuren seiner DNA – in Blut, einem Haar, Hautschuppen oder Sperma – am Tatort zurückgeblieben sind (Spektrum der Wissenschaft, Juli l990, Seite 106).
Mit der Polymerase-Kettenreaktion kann man außerdem Erbkrankheiten oder das Geschlecht von Embryonen bestimmen – und zwar viel schneller und besser als mit der herkömmlichen Amniocentese, bei der embryonale Zellen aus dem Fruchtwasser kultiviert und die Chromosomen untersucht werden müssen. In diesen Fällen ist allerdings strikt darauf zu achten, daß keinerlei Spuren der DNA anderer Personen als Verunreinigung in die Probe gelangen, da sie ebenso vervielfältigt würden.
Eine der Möglichkeiten der PCR schließlich hat – wenn auch in stark übertriebener Form – der Film "Jurassic Park" einem Millionenpublikum vorgeführt: aus Fossilien Erbmaterial ausgestorbener Lebewesen in großen, analysierbaren Mengen zu gewinnen. Das ist zwar bisher nicht bei Dinosauriern gelungen, aber immerhin konnte von einem Zeitgenossen der ausgestorbenen Echsen, einem in Bernstein eingeschlossenen, 120 Millionen Jahre alten Rüsselkäfer, DNA erhalten werden.
Der 1944 in Lenoir (North Carolina) geborene Mullis ist ein genialer, umtriebiger Außenseiter, der es seit dem Chemiestudium am Georgia Institute of Technology in Atlanta und seiner Promotion im Jahre 1972 an der Universität von Kalifornien in Berkeley nie lange an einem Arbeitsplatz ausgehalten hat. Als "chemisch vorbelasteter Generalist", wie er sich selbst bezeichnet, wurde er 1986 Direktor der molekularbiologischen Abteilung der Firma Xytronyx in San Diego. Seit 1987 arbeitet er als selbständiger Berater für Nucleinsäure-Chemie in La Jolla. Die PCR-Patente hat Cetus für 300 Millionen Dollar an das Schweizer pharmazeutische Unternehmen Hoffmann-La Roche verkauft.
Buchstabentausch in der Erbinformation
Anders als Mullis hat der 1932 in Blackpool (England) geborene Smith, der nach Biochemie-Studium und Promotion in Manchester 1956 nach Kanada ging, eine geradlinige Karriere hinter sich. Seit 1970 ist er Professor für Biochemie in Vancouver. Zu den nun preisgekrönten Arbeiten wurde er laut eigener Aussage bei einem Aufenthalt als Gastwissenschaftler am Molekularbiologischen Laboratorium in Cambridge (England) in den Jahren 1971/72 während einer Diskussion in der Kaffeepause angeregt. Bis zur Verwirklichung der Idee brauchte er allerdings sechs Jahre.
Bei seinem Verfahren geht es darum, gezielt ein bestimmtes Nucleotid in einem Gen, auf dem der Bauplan für ein Protein verschlüsselt ist, durch ein anderes zu ersetzen und damit eine Aminosäure in dem zugehörigen Protein auszutauschen. Dazu nutzte Smith die Methode der Klonierung, bei der man den fraglichen DNA-Abschnitt in eine Genfähre einbaut und diese dann auf ein Bakterium überträgt; durch Kultivierung vermehrt sich dieses zu einer Kolonie, deren Mitglieder alle das eingeschleuste Fremdgen enthalten und das zugehörige Protein produzieren.
Als Genfähre verwendete Smith ein Plasmid, also eines jener ringförmigen DNA-Stücke, die Bakterien zusätzlich zu ihrer normalen Erbsubstanz enthalten. Einzelne Schritte seines Verfahrens ähneln dabei der Polymerase-Kettenreaktion (Bild 2). So werden auch hier als erstes durch Erwärmen die beiden DNA-Stränge des Plasmids voneinander getrennt und dann mit einem Oligonucleotid als Primer versetzt. Dieses überspannt das abzuwandelnde Nucleotid und ist zu dem entsprechenden DNA-Abschnitt komplementär – außer an der zu ändernden Stelle. Da man anschließend die Temperatur weiter senkt als bei der PCR, lagert es sich trotz der einen Fehlstelle an den Plasmid-Strang an, und eine zugesetzte Polymerase verlängert es in Gegenwart von freien Nucleotiden zu einem kompletten Plasmid-Doppelstrang (wobei ein anderes Enzym – eine Ligase – den Ring am Ende schließt). Dieser enthält nun miteinander verpaart sowohl das ursprüngliche als auch das abgewandelte Gen.
Überträgt man dieses Plasmid anschließend auf Bakterien, so enthält die Hälfte der daraus herangezüchteten Kolonien (zumindest theoretisch, in der Praxis sind es etwas weniger) die modifizierte DNA und produziert das abgewandelte Protein. Der Trick des Verfahrens ist, daß man nur einen kleinen Abschnitt beiderseits der zu ändernden Stelle und nicht das gesamte, aus Hunderten bis Tausenden von Nucleotiden bestehende Gen künstlich herstellen muß, was technisch nicht machbar wäre.
Entwickelt wurde dieses Verfahren der ortsspezifischen Mutagenese als Mittel, Struktur und Funktion von Genen genauer zu erforschen, indem man die Auswirkung der gezielten DNA-Veränderung auf die Genfunktion analysiert. Vorher war man bei solchen Untersuchungen auf zufällige Mutationen angewiesen, die sich beispielsweise mit Bestrahlung oder Chemikalien (vor allem aber mit Genscheren namens Restriktionsendonucleasen) erzeugen lassen.
Auch heute dient die ortsspezifische Mutagenese noch überwiegend zu solchen Untersuchungen. Allerdings eignet sie sich im Prinzip auch dazu, Proteine gezielt abzuwandeln, um ihre Eigenschaften zu verbessern oder ihnen neuartige Fähigkeiten zu verleihen. Obwohl dieses Protein-Design erste Erfolge vorzuweisen hat – so wurde die Stabilität eines Waschmittelenzyms erhöht –, sind die Möglichkeiten derzeit dadurch beschränkt, daß der Zusammenhang zwischen Proteinstruktur und -funktion meist nur unzulänglich bekannt ist. Besonders vielversprechend und bisher am erfolgreichsten sind in diesem Zusammenhang Versuche, katalytische Antikörper zu erzeugen, die chemische Reaktionen selektiv beschleunigen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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