Nobelpreis für Chemie - von Supersäuren zu Carbokationen und Hyperkohlenstoffverbindungen
Daß bei organischen Reaktionen als Zwischenstufen Carbokationen – also Kationen (positiv geladene Ionen) von Kohlenstoffverbindungen – auftreten, war eine der kühnsten und fruchtbarsten Ideen der organischen Chemie. Für Nachweis und Untersuchung dieser normalerweise extrem kurzlebigen Objekte erhielt George A. Olah den diesjährigen Nobelpreis für Chemie.
Kohlenstoff, der wichtigste atomare Baustein für die organische Chemie und für Moleküle des Lebens, geht genau vier Bindungen mit anderen Atomen ein – auf dieser Grundregel baute der in Heidelberg, Gent und Bonn lehrende August Kekulé (1829 bis 1896) die Fundamente der organischen Strukturchemie auf; und noch heute lernt man in der Schule, daß von jedem "C" einer Formel vier Striche ausgehen müssen und Ladungen in organischen Verbindungen normalerweise den Nicht-Kohlenstoffatomen zugeordnet werden.
Erste Hinweise auf mögliche Ausnahmen von diesen Regeln entdeckte im Jahre 1922 Hans Meerwein (1879 bis 1965) in Marburg. Er postulierte, daß Carbokationen – Verbindungen mit einem Kohlenstoffatom als Träger einer positiven Ladung – als kurzlebige Zwischenstufen organischer Reaktionen auftreten können, selbst wenn Ausgangsverbindung und Produkt elektrisch neutral sind. Damit vermochte man den Ablauf vieler organischer Reaktionen in polaren Lösungsmitteln, etwa Wasser, überzeugend zu erklären. Scheinbar so grundsätzlich verschiedene Reaktionstypen wie Austausch-, Abspaltungs- und Umlagerungsreaktionen lassen sich mit Hilfe dieses Konzepts einfach verstehen und klassifizieren.
Dem dreibindigen Kohlenstoff der Carbokationen fehlt zum Auffüllen einer kompletten Acht-Elektronenschale ein Elektronenpaar. Deshalb reagieren diese elektrophilen, das heißt elektronensuchenden Verbindungen sehr schnell mit solchen, die – wie eben das Wasser – freie Elektronenpaare haben und als Nukleophile bezeichnet werden (den Atomkern, das heißt die positive Ladung suchend).
In nukleophilen Lösungsmitteln treten die meisten Carbokationen darum lediglich für Sekundenbruchteile und in minimalen Konzentrationen auf. Ihre Existenz ließ sich deswegen zunächst nur indirekt durch Analyse der Reaktionsprodukte und -geschwindigkeiten nachweisen.
George A. Olah gelang es nun im Jahre 1962 erstmals, mit sogenannten Supersäuren – extrem sauren und sehr schwach nukleophilen Verbindungen – bei tiefen Temperaturen (bis unter -100 Grad Celsius) die Reaktionen der darin gelösten Carbokationen so stark zu hemmen, daß man sie direkt mit physikalischen Meßmethoden beobachten und ihre Strukturen charakterisieren konnte. Die bahnbrechenden Untersuchungen seiner Arbeitsgruppe etablierten die Chemie stabiler Ionen in Supersäuren als ein neues Forschungsgebiet, das mit Tausenden von Publikationen bis heute sehr intensiv bearbeitet wird.
Magische Säure
Supersäuren können billionenmal stärker sein als hundertprozentige Schwefelsäure. Die zur Erzeugung und Stabilisierung von Carbokationen besonders gut geeignete supersaure Mischung aus Fluorsulfonsäure und Antimonpentafluorid heißt magische Säure, seit Olahs Arbeitsgruppe im Winter 1966 die Wirksamkeit dieser Supersäure an einem von einer Weihnachtsfeier übriggebliebenen Kerzenstummel erprobte, der sich leicht auflösen ließ.
Die Überraschung war groß, als das Kernresonanzspektrum dieser Probe die Bildung eines einheitlichen Carbokations anzeigte: Die langkettigen Paraffine des Kerzenmaterials hatten sich durch Kettenspaltungs- und Umlagerungsreaktionen in vielen Einzelschritten letztlich in das besonders stabile tertiäre Butylkation umgewandelt.
Nach einer Nomenklatur, die Olah schon 1972 vorschlug, lassen die Carbokationen sich in zwei Gruppen einteilen: dreibindige mit der allgemeinen Formel R3C+ (hier hat das zentrale Kohlenstoffatom nur sechs statt acht Elektronen in der äußeren Elektronenschale und ist deshalb, wie oben erwähnt, stark elektrophil) und hyperkoordinierte, die zwar ein vollständiges Elektronenoktett haben, aber mehr als die normalerweise erlaubten vier Bindungspartner – typischerweise sind es fünf.
Weil im Falle solcher pentakoordinierten Carbokationen (R5C+) das zentrale Kohlenstoffatom nicht für jede Bindung zwischen zwei Atomen ein Elektronenpaar zur Verfügung zu stellen vermag, entstehen sogenannte Mehrzentrenbindungen, in denen sich drei Atome ein Elektronenpaar teilen. Eine jahrelange wissenschaftliche Kontroverse über die Existenz von hyperkoordinierten Carbokationen konnte erst durch ihre direkte Beobachtung in Supersäuren entschieden werden.
Hingegen sind hyperkoordinierte Atome in metallorganischen und anorganischen Verbindungen (insbesondere in solchen des elektronenarmen Elements Bor) keine Seltenheit. Indem Olah die Gemeinsamkeiten dieser Verbindungen aufzeigte, hat er – wie auch in vielen anderen Arbeiten – immer wieder die konventionellen Grenzen zwischen anorganischer und organischer Chemie überwunden.
Hyperkohlenstoffverbindungen
Die Erforschung der hyperkoordinierten Carbokationen führte Olah nochmals in wissenschaftliches Neuland: zur Chemie der Hyperkohlenstoffverbindungen. Die Alkane (Verbindungen, die nur aus Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen und Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen aufgebaut sind) galten von jeher als reaktionsträge, was sich auch in ihrer älteren Bezeichnung Paraffine (von lateinisch parum affinis, wenig reaktionsfähig) widerspiegelt. In Supersäuren können jedoch, wie Olah und seine Mitarbeiter herausfanden, die C-H- und C-C-Bindungen der Alkane ein elektrophiles Reagens an ihrem Elektronenpaar teilhaben lassen.
Die so entstandene Dreizentrenbindung wird im weiteren Verlauf der Reaktion gespalten, wobei ein dreibindiges Carbokation als weitere Zwischenstufe auftritt. Je nach Art der angegriffenen Bindung und der Strukturen der Reaktionspartner kann die Gesamtreaktion eine Austauschreaktion (Substitution) oder eine Umlagerung sein.
Diese Chemie hat große Bedeutung für die synthetische Umwandlung fossiler Kohlenwasserstoffe sowie für die Herstellung von hochklopffesten bleifreien Kraftstoffen. Industriell bedeutsam ist auch die durch Supersäuren katalysierte Umwandlung von Methan – dem einfachsten Kohlenwasserstoff und Hauptbestandteil des Erdgases – in höhere Kohlenwasserstoffe oder in andere, reaktivere Verbindungen.
George A. Olah wurde 1927 in Budapest (Ungarn) geboren und studierte dort an der Technischen Universität, wo er auch 1949 in organischer Chemie promovierte. Nach dem ungarischen Aufstand von 1956 emigrierte er nach Kanada und in die USA; zunächst forschte er dort für die Firma Dow Chemical. Ab 1967 lehrte er an der Case Western Reserve University in Cleveland (Ohio), ab 1977 an der Universität von Süd-Kalifornien in Los Angeles, wo er noch heute Professor und Direktor eines Forschungsinstituts ist. Olah gehört zu den zehn meistzitierten Autoren in den Naturwissenschaften. Er ist Autor und Ko-Autor von mehr als 1000 Publikationen und 15 Büchern; zudem hält er rund 100 Patente.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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