Optimierung der Bioverträglichkeit von Kunststoff-Implantaten
Mit dem Durchschnittsalter der Bevölkerung wächst die Zahl derjenigen, die eines Ersatzes beziehungsweise der technischen Unterstützung funktioneller Körpergewebe bedürfen – Kontaktlinsen, Herzschrittmacher sowie künstliche Hüftgelenke und Gefäße sind Beispiele. Auch der Anteil der Altersblinden und schwer Sehbehinderten nimmt weiter zu|; ihre Integration in Gesellschaft und Arbeitswelt wird aber wegen der vermehrten Bedeutung visuell vermittelter Information immer schwieriger. Mediziner suchen im interdisziplinären Verbund mit Ingenieuren, Biologen, Chemikern und Physikern Implantate und Prothesen durch optimierte Werkstoffe, präzisere Fertigungsverfahren, Mikrosystemtechnik und moderne Datenverarbeitung zu verbessern und selbst gelähmte Gliedmaßen mittels Neurotechnologie wieder beweglich zu machen.
Mit zunehmender allgemeiner Lebenserwartung brauchen immer mehr Menschen ein neues Hüftgelenk, eine künstliche Augenlinse oder ein anderes Hilfsmittel beziehungsweise Implantat. Allein in den Vereinigten Staaten wurden 1993 rund 1,4 Millionen Intraokularlinsen bei der Operation des grauen Stars eingesetzt.
Materialien und Systeme, die eine Komponente des Organismus ersetzen und ihre Funktion übernehmen sollen, sind entsprechend den unterschiedli- chen Anforderungen vielfältigster Art. Außer den genannten werden vor allem solche für Ohr- und Gesichtsrekonstruktionen, Kontaktlinsen, Zahnersatz und Kieferimplantate, Herzklappen, Brust- und Urogenitalprothesen, Kniegelenke, Knochenschienen sowie künstliche Haut, Sehnen und Gefäße benötigt. Allerdings bestehen die meisten Implantate nach wie vor aus normalen Kunststoffen; die chemischen, physikalischen und mechanischen Eigenschaften der Polymere werden nur in seltenen Fällen für den speziellen Einsatz optimiert.
Eine Grundforderung ist die Verträglichkeit von Werkstoff und Organismus. Biokompatibilität bedeutet nach moderner Auffassung aber nicht nur das Ausbleiben von Störungen und Folgeschäden, sondern sogar die Fähigkeit der Implantatoberfläche, mit Substanzen, Zellen und Organen des biologischen Systems aktiv zu interagieren und genau die Reaktionen auszulösen, die das entsprechende körpereigene Gewebe hervorrufen würde.
Bedeutung der Grenzfläche
Chemische und physikalische Eigenschaften der Oberfläche des Biomaterials sind für die biologischen Reaktionen bestimmend, insbesondere sind hydrophile und hydrophobe (also wasseranziehende beziehungsweise -abstoßende) Gruppen, kristalline Strukturen, Aufbau und Größe zusammenhängender Bereiche unterschiedlicher Natur sowie die Rauhigkeit von Bedeutung. Bereits innerhalb der ersten Millisekunden nach dem Einsetzen in den Körper lagern sich entsprechend diesen Charakteristiken Proteine aus der umgebenden Körperflüssigkeit an, die ihrerseits die nachfolgenden Reaktionen des Zellsystems kontrollieren. Die Anbindung von Zellen ist schließlich erforderlich, um Implantat und umgebendes Gewebe fest zu koppeln.
Diese Vorgänge an der Grenzfläche zwischen Implantat und Biosystem sind bislang nur ansatzweise bekannt, und Versuche zur Optimierung der Bioverträglichkeit haben meist noch empirischen Charakter. In interdisziplinärer Zusammenarbeit unseres Lehrstuhls für Textilchemie und Makromolekulare Chemie mit dem Institut für Pathologie, ebenfalls an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, charakterisieren wir deshalb Polymeroberflächen hinsichtlich ihrer chemischen Struktur sowie ihrer physikalischen und elektrochemischen Eigenschaften und untersuchen ihre Wechselwirkungen mit biologischen Systemen wie Zellkulturen oder Blut.
Niedertemperatur-Plasmabehandlung
Polymeroberflächen können gezielt verändert werden, um sie bioverträglicher zu gestalten, etwa um das Zellwachstum auf der Fremdoberfläche zu verbessern. Dazu eignen sich naßchemische Verfahren, also solche, die geeignete Substanzen auf dem Polymer abscheiden; sie erfordern allerdings den Einsatz von Lösungsmitteln. Dies ist beim Einbringen des Materials in ein Niedertemperatur-Plasma nicht der Fall. Solche Plasmen sind geradezu prädestiniert für die Oberflächenbehandlung von Kunststoffen, weil sie nur auf die obersten Moleküllagen wirken und keine makroskopischen Eigenschaften des Grundpolymers wie mechanische Festigkeit oder Transparenz verändern.
Niedertemperatur-Plasmen werden durch Einkopplung von Mikrowellen- oder elektrischer Energie in ein Gas erzeugt. Die Temperaturen betragen maximal 50 Grad Celsius, um die Polymere nicht zu zerstören. Aus einem dabei zugeführten Gas entstehen reaktive Teilchen (Ionen, Elektronen und Radikale), die oberflächennahe Moleküle des Werkstücks angreifen, aufbrechen und verändern. Insbesondere Edelgas-, Sauerstoff-, Stickstoff- und Kohlendioxidplasmen vermögen die Hydrophilie beträchtlich zu erhöhen, was eine bessere Zellhaftung zur Folge hat. Der Effekt läßt sich durch die Art des verwendeten Gases und die Verfahrensparameter steuern.
Damit vermag man auch Silikone zu beeinflussen, deren Oberflächen naßchemisch nur schwer zu bearbeiten sind. Gerade diese Werkstoffe sind aber seit mehr als 30 Jahren trotz ihrer sehr wasserabweisenden Oberflächen erfolgreich im medizinischen Gebrauch, etwa für Intraokularlinsen, Brustimplantate oder Herzklappen. Die Behandlung von Silikonfolien mit einem Schwefeldioxid- (SO2)-Plasma verbesserte im Versuch schon nach einer Minute Behandlungszeit die Zellhaftung und damit die Gewebeverträglichkeit erheblich. Die chemischen Veränderungen lassen sich mit spektroskopischen Mitteln, etwa mit der Röntgenphotoelektronen-Spektroskopie, im Vergleich zu einer unbehandelten Probe nachweisen.
Hydrophilie hat auch den physikalischen Aspekt der Benetzbarkeit: Je kleiner der Winkel ist, den der Rand eines Wassertropfens mit einer Oberfläche bildet, desto leichter benetzbar und damit hydrophiler ist sie. Durch die Plasmabehandlung der Silikonoberfläche sinkt dieser Kontaktwinkel von 110 auf etwa 40 Grad. Ähnlich wie ein Wassertropfen breiten sich auch die ursprünglich kugeligen Zellen auf einer mittels SO2-Plasma modifizierten Silikonfolie besser aus, werden also flacher. In dieser Gestalt vermögen sie sich schneller zu vermehren. Erste Tests mit behandelten Intra-okularlinsen aus Silikon und Zellkulturen konnten wir erfolgreich abschließen, Tierversuche sollen in Kürze beginnen.
Die Modifikation mit Niedertemperatur-Plasmen ist auf viele Biomaterialien anwendbar. Dabei sind jedoch die Auswirkungen von Behandlungsparametern wie der Art des Plasmas auf die Oberflächeneigenschaften stets neu zu prüfen. So übertraf das Zellwachstum auf einem elastischen Polyvinylchlorid, das sechs Minuten lang einem SO2-Plasma ausgesetzt war, das auf der Kontrolloberfläche um drei Prozent (Bild 1). Messungen ergaben einen Kontaktwinkel von 67 Grad, was für ein ausgewogenes Verhältnis der hydrophilen und hydrophoben Oberflächengruppen zu sprechen scheint – schon 1987 hatten andere Wissenschaftler einen solchen Winkel als ideale Voraussetzung für Zellhaftung und Wachstum postuliert. Des weiteren wurden in die Polymeroberfläche Sulfonat- und Sulfatgruppen eingebaut, die vermutlich als Adhäsionsvermittler für wichtige Proteine fungieren und so die nachfolgende Zellhaftung fördern.
Hybrid-Blutgefäße
Die Blutverträglichkeit gilt allgemein als größtes Problem der Biokompatibilität. Die meisten Materialien, die mit Blut in Kontakt kommen, fördern seine Gerinnung; das gilt auch für Polymeroberflächen. Deshalb werden künstliche Blutgefäße mit einem Durchmesser von weniger als fünf Millimetern schon innerhalb weniger Sekunden durch Gerinnsel verstopft, was bei natürlichen die Auskleidung mit einer einlagigen spezifischen Zellschicht – dem Endothel – verhindert.
Weil es bislang keine antithrombogene Polymeroberfläche gibt, wurde das Konzept entwickelt, vor der Implantation auf dem Kunststoff körpereigene Endothelzellen dauerhaft anzusiedeln. Dazu muß dessen Oberfläche in mehreren Schritten verändert werden. Um die nötigen festen Bindungen mit sehr spezifischen Molekülen zu erzielen, geht man naßchemisch vor. Als Trägerpolymer wurde eigens ein Polyurethan entwickelt, das geeignete funktionelle Gruppen zur Ankopplung eines Abstandshaltermoleküls (Spacer genannt) enthält.
Ein solches Molekül verbindet dann das Polymer und eine Substanz, welche die Zellhaftung ermöglicht (Bild 2). Dafür kommt insbesondere das Fibronectin in Betracht, ein Protein, das im Körper unter anderem die Wechselwirkung der Gefäßinnenhautzellen mit ihrer natürlichen Wachstumsunterlage vermittelt. Es reicht auch, lediglich die kurze Kette von Aminosäuren des Proteins, die für diese Zelladhäsion verantwortlich ist (die Peptidsequenz Glycin-Arginin-Glycin-Asparaginsäure-Serin), an die Abstandshalter zu binden. Das Fibronectin oder das Peptid bildet dabei einen Anker, an den Endothelzellen zumindest in der Zell- kultur andocken, ohne ihre Gestalt zu verändern.
Auf diese Weise sollte sich ein künstliches Gefäß mit einer natürlichen Zellschicht auskleiden lassen, um Bio- und Blutkompatibilität herzustellen. Der Einsatz solcher Hybrid-Blutgefäße beim Menschen wird derzeit vorbereitet. Das Prinzip läßt sich sowohl auf andere Trägerpolymere als auch auf andere Zelltypen übertragen. So wird man wohl künftig mit spezifischen Zellen als Auskleidung synthetischer Substrate sogar Hybrid-Organe mit den Funktionen von Bauchspeicheldrüse, Leber und Niere entwickeln.
Je nach Zweck und Anwendung eines Kunststoff-Implantats wird man die Oberfläche naßchemisch oder mittels Plasma modifizieren. Auch Kombinationen sind möglich. So läßt sich eine Polymeroberfläche durch die reaktiven Plasmateilchen aktivieren und somit seine Bindungsbereitschaft erhöhen; die anschließende Ankopplung funktioneller Moleküle bewirkt man dann mit den spezifischeren chemischen Verfahren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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