Oxytozin: Ein Hormon mit vielen Facetten
Das Mutterschaf lässt sich ins tiefe Gras sinken. Sein Bauch spannt sich unter der Wucht der Presswehen rhythmisch an. Ein winziger Fuß erscheint, dann noch einer, dann ein Kopf. Ein paar letzte Kontraktionen, und der Rest des kleinen Körpers gleitet aus der Gebärmutter. Die Mutter dreht sich um und zerreißt mit ihren Zähnen die Eihäute, die das Neugeborene umhüllen. Nun beginnt sie, ihr Lamm sauberzulecken.
Die Zungenmassage sorgt dafür, dass der Nachwuchs ungehindert Luft bekommt, und regt seinen Kreislauf an. Daneben dient sie aber noch einem anderen Zweck: Das Muttertier lernt auf diese Weise, wie sein Kind riecht. Denn weibliche Schafe (Auen genannt) verteilen ihre Zuneigung nicht mit der Gießkanne, sondern ausgesprochen exklusiv: Sie lassen nur die eigenen Nachkommen in ihre Nähe. Fremde Jungtiere vertreiben sie dagegen mit rabiaten Kopfstößen. Milchdiebe haben so keine Chance.
Das Lecken ist für dieses selektive Bonding äußerst wichtig. Dabei finden Schafe den Geruch von Neugeborenen die meiste Zeit ihres Lebens höchst abstoßend. Das ändert sich erst kurz vor ihrer Niederkunft. Denn dann bilden sich im Riechkolben der Muttertiere neue Nervenzellen, die speziell auf das Bukett von Fruchtwasser ansprechen. Die Auen finden den Duft daher plötzlich ziemlich attraktiv – eine Voraussetzung dafür, dass sie mit ihrer Reinigungsaktion überhaupt beginnen. In den Stunden nach der Geburt entstehen zudem massenhaft Neurone, die ausschließlich auf den individuellen Geruch des eigenen Lamms hin feuern.
Ein entscheidender Auslöser dieser Änderungen ist ein Neuropeptid namens Oxytozin. Das kleine Molekül – es besteht gerade einmal aus neun Aminosäuren – wird im Hypothalamus produziert, einer wichtigen Steuerzentrale im Gehirn. Ein großer Teil gelangt über die Hirnanhangsdrüse in den Blutstrom, der es im Körper verteilt. Dort beeinflusst es etwa die Regeneration der Muskeln, kontrolliert den Knochenaufbau oder sorgt dafür, dass Mütter nach der Geburt Milch bilden.
Doch auch im Gehirn selbst existiert ein ausgedehntes Wegenetz für Oxytozin. Es besteht aus Nervenfasern, die vom Hypothalamus ausgehen. Über sie gelangt das Neuropeptid wie auf Schienen zu verschiedenen Zielregionen, wo es an spezielle Rezeptoren andockt und die Verarbeitung von Informationen verändert.
In Schafen löst die Dehnung von Gebärmutterhals und Scheide bei der Geburt einen Reflex aus. Er sorgt dafür, dass der Hypothalamus kurzzeitig große Mengen Oxytozin freisetzt und im Gehirn verteilt. Dort trifft es auf entsprechend vorbereitete Nervenzellen: In den letzten Wochen der Schwangerschaft bewirkt der steigende Östrogenspiegel, dass sich in den Neuronen ungewöhnlich viele Oxytozinrezeptoren bilden. So kann das Neuropeptid genau zu der Zeit, in der die Basis für die Bindung zwischen Mutter und Lamm gelegt wird, besonders gut wirken. Sind diese exakt koordinierten Abläufe dagegen gestört, ...
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