Paradoxien des Bundestags-Wahlsystems
Die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag spiegelt den Wählerwillen wider – sollte man meinen. Doch mehr Stimmen können durchaus weniger Mandate bedeuten und weniger Stimmen einen Zugewinn an Sitzen zur Folge haben.
Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag gilt gemeinhin und zu Recht als kompliziert. Selbst der Gesetzgeber scheint es nicht bis ins letzte Detail durchschaut zu haben. Denn wie sonst wäre zu erklären, daß sich gravierende Systemfehler eingeschlichen haben?
So kann es beispielsweise geschehen, daß eine Partei mehr Sitze im Bundestag erhalten hätte, wenn weniger Stimmen auf sie entfallen wären. Auch bei der letzten großen Wahl im September 1998 hat ein Teil der Wähler durch Ankreuzen der favorisierten Partei – unwissentlich – die Anzahl der auf sie entfallenden Mandate vermindert.
Ursächlich für solche Paradoxien ist in einem zweistufigen Verfahren der Mandatszuteilung die Konkurrenz der Landeslisten innerhalb einer Partei sowie die Art und Weise, wie die sogenannten Überhangmandate entstehen können.
Bekanntlich hat jeder Wähler bei der Bundestagswahl zwei Stimmen. Mit der Erststimme wird in jedem der – bisher 328, künftig nur noch 299 – Wahlkreise ein Direktkandidat gewählt, mit der Zweitstimme hingegen die Landesliste einer Partei. Eine solche Kandidatenliste ist für jedes Bundesland separat aufzustellen; eine bundesweite Liste ist nicht möglich. Ob beispielsweise eine Partei die Sperrklausel von fünf Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen überwunden hat und überhaupt Sitze zugeteilt bekommt, wird allerdings nach dem bundesweit errechneten Anteil der Zweitstimmen festgestellt. Die Anzahl der Sitze der Parteien und ihrer Landeslisten ergibt sich aus einem zweistufigen Verfahren.
In einem ersten Schritt (der Oberverteilung) werden alle 656 – ab der nächsten Wahl 598 – Sitze proportional dem Stimmenaufkommen auf die Parteien verteilt. Dazu dient das Zuteilungsverfahren nach Hare-Niemeyer: Die Gesamtsitzzahl wird mit der Stimmenzahl einer Partei multipliziert und durch die Gesamtstimmenzahl aller am Verhältnisausgleich teilnehmenden Parteien dividiert. Die sich dadurch ergebenden ganzzahligen Anteile werden als Sitze direkt zugeteilt, die dann noch freien in der Reihenfolge der größten Reste zugeordnet (vergleiche "Wählerwille, Mandate, Macht", Spektrum der Wissenschaft, Januar 1987, Seite 32).
Analog werden im zweiten Schritt (der Unterverteilung) die so ermittelten Sitze einer Partei auf ihre Landeslisten verteilt. Dabei wird die Zahl der in den Wahlkreisen direkt gewählten Kandidaten einer Landesliste auf deren nach Zweitstimmen ermittelten Anspruch angerechnet. Das heißt: Wenn durch die Erststimme der Kandidat einer Partei im Wahlkreis gewählt wird, ist automatisch ein anderer Listenkandidat dieser Partei ausgeschieden. Falls aber in einem Bundesland eine Partei mehr Direktmandate errungen haben sollte, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zusteht, verbleiben ihr diese zusätzlichen Sitze als Überhangmandate, ohne daß es einen Ausgleich für andere Parteien gibt.
Durch die Überhangmandate kann folglich eine Proporzverzerrung auftreten, die allerdings meist mit der besonderen Bedeutung der Direktmandate gerechtfertigt und auch vom Bundesverfassungsgericht toleriert wird. Dieses bekannte Phänomen soll hier nicht weiter interessieren. Viel mehr erstaunt der Einfluß der Zweitstimmen: Eine Partei erhält um so mehr Überhangmandate, je weniger Zweitstimmen auf sie entfallen.
Ein Beispiel: Die SPD hatte bei der letzten Bundestagswahl alle sieben Direktmandate in Hamburg gewonnen; weil ihr nach dem Zweitstimmenanteil nur sechs Sitze zugestanden hätten, erhielt sie ein Überhangmandat. Dieses hätte sie nicht bekommen, wenn auf sie in der Hansestadt 20000 Zweitstimmen zusätzlich entfallen wären. Dieser Mehranteil hätte bei der Sitzvergabe die Oberverteilung nicht beeinflußt, aber bei der Unterverteilung wäre auf Hamburg ein Mandat mehr und auf Rheinland-Pfalz eines weniger entfallen (siehe Tabelle Seite 70 links). In der Hansestadt selbst wäre es zwar nach wie vor bei insgesamt sieben Mandaten geblieben – nämlich den Direktmandaten, nur jetzt ohne Überhang –, aber durch den eingebüßten Sitz in Rheinland-Pfalz hätte die SPD bundesweit ein Mandat weniger gehabt. Leidtragende wäre in diesem Falle die SPD-Abgeordnete Birgit Roth aus Speyer gewesen.
Analog säße Kerstin Raschke aus Berlin zusätzlich für die SPD im Bundestag, wenn zum Beispiel 30000 SPD-Wähler in Bremen und 1000 in Brandenburg sich der Zweitstimme enthalten hätten. Ähnlich wirken sich auch Veränderungen der Zweitstimmen in mehreren anderen Bundesländern aus.
Hierbei handelt es sich keineswegs nur um Einzelfälle, sondern eher um die Regel. Weil bei der Bundestagswahl die Überhangmandate intern, also nur für einzelne Landeslisten entstehen, machen sich die Zweitstimmen - ohne jeden Vorteil für die gewählte Landesliste – für andere Landeslisten dieser Partei negativ bemerkbar. Der Fehler im Wahlsystem tritt also systematisch immer dann auf, wenn ein interner Überhang besteht. (Im Gegensatz dazu sind bei den meisten Landtagswahlsystemen die Überhangmandate extern, das heißt, es gibt keine Unterlisten der Parteien, so daß dieser Effekt nicht auftreten kann.)
Wie vorhersehbar dies teilweise ist, wird insbesondere am Beispiel der Stimmen für die SPD in Bremen deutlich (siehe Tabelle Seite 70 rechts). Hier – wie im übrigen bei allen Landeslisten mit Überhängen – tritt dieser Fehler seit Einführung der Listenverbindungen im Jahre 1957 fast immer auf. Die drei Wahlkreise werden traditionell von den SPD-Kandidaten direkt gewonnen, und nach dem Zweitstimmenanteil stehen den Sozialdemokraten immer zwischen zwei und drei Mandaten zu. Bei einem eher guten Ergebnis wird – zu Lasten der SPD insgesamt – aufgerundet, bei einem schlechten Ergebnis abgerundet, und es entsteht ein Überhangmandat.
Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen bloßen Rundungsfehler, durch den – wie zum Beispiel bei einigen der Quotenverfahren – die Monotonie verletzt wird (beispielsweise kann beim Verfahren nach Hare-Niemeyer eine Neuberechnung bei insgesamt mehr zu verteilenden Sitzen trotz gleicher Stimmenanteile für eine Partei einen Sitz weniger bringen); vielmehr ist die Wirkung von Abrunden und Aufrunden als solche vertauscht. Das gewählte Sitzzuteilungsverfahren hat keinen Einfluß auf die prinzipielle Möglichkeit negativer Stimmen. Sowohl bei dem d'Hondt-Verfahren (das bis 1983 bei Bundestagswahlen verwendet wurde) als auch bei Hare-Niemeyer (seit 1987) oder anderen Verfahren kann dieser Fehler auftreten. Selbst bei der Annahme nichtganzzahliger Sitze würde durch jede Zweitstimme für eine überhängende Landesliste ein Bruchteil eines Abgeordneten dieser Partei abgewählt.
Dem Wähler, der die Konsequenzen des Wahlsystems erkennt und einen wahrscheinlichen Überhang der bevorzugten Partei vermutet (beispielsweise Bremer SPD-Sympathisanten), verbietet es sich, dieser Partei die Zweitstimme zu geben, will er ihr damit nicht schaden. Er muß sich vielmehr dieser Stimme enthalten, oder er kann sie seiner zweitliebsten Partei geben. Denjenigen Wählern, die keine Einschätzung des Wahlergebnisses hinsichtlich des Anfallens von Überhangmandaten treffen können, ist keine rationale Wahlentscheidung mehr möglich. Allerdings bietet sich auch hier ein mögliches Stimmensplitting an, so daß sowohl das unnötige Verfallenlassen der Stimme als auch die negativen Auswirkungen der Stimmabgabe vermieden werden.
Weil die Wähler durch die genannten Eigenheiten des Wahlsystems zu völlig irrationalem Verhalten bei der Stimmabgabe gezwungen werden, läßt sich das Wahlergebnis nur eingeschränkt als Ausdruck ihres Willens ansehen. Eine Wählerstimme darf sich nie nachteilig für den Gewählten auswirken, ansonsten wären Gleichheit, Freiheit und Unmittelbarkeit einer Wahl verletzt. Dieser Grundsatz ist eine Mindestanforderung an ein Wahlsystem, und jeder Wähler muß darauf vertrauen können, daß sie eingehalten wird.
Zudem ist ein Mandatszuwachs infolge eines Stimmenverlustes völlig unnötig. Der Gesetzgeber muß sich lediglich entscheiden, wer das letzte Mandat erhält: die durch die geänderte Unterverteilung begünstigte Landesliste oder die Landesliste mit dem Überhang.
Im ersten Falle müßte ein überhängendes Direktmandat gestrichen werden, im zweiten würden die noch vorhandenen Listenmandate der Partei zur Kompensation genutzt. Das Nichtzuteilen eines Direktmandates und die damit verbundene Nichtvertretung eines Wahlkreises im Bundestag erscheint dabei als politisch kaum durchsetzbar. Bei einer Kompensation zu Lasten der anderen Landeslisten würde hingegen die jetzt schon bestehende Verzerrung des parteiinternen Landesproporz durch das Überhangmandat unwesentlich im Rahmen der unvermeidlichen Unschärfen erweitert. Darüber hinaus sollte sowohl bei der Unterverteilung, als auch bei der Oberverteilung das Verfahren Hare-Niemeyer durch ein anderes ersetzt werden, das die bekannten Monotoniebedingungen erfüllt. Dazu bieten sich Divisorverfahren an – insbesondere das des französischen Mathematikers André Sainte-Laguë, das die quadratische Abweichung der Größe "Sitze pro Stimmenzahl" minimiert und somit keine Partei oder Landesliste bevor- oder benachteiligt.
Solange der Gesetzgeber sich nicht gründlich mit dem Wahlsystem auseinandersetzt und das Bundesverfassungsgericht kein Machtwort spricht, wird weiterhin die Stimmabgabe eines Großteils der Wahlberechtigten ins totale Gegenteil verkehrt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 70
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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