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Parvoviren - krebshemmende Symbioten?

Vier Fünftel der Bevölkerung zumindest in Europa und den Vereinigten Staaten sind mit einer ungewöhnlichen Gruppe offenbar harmloser Viren infiziert|; unter Patienten mit bestimmten Formen von Krebs ist der Anteil hingegen geringer. Die Aufklärung der Schutzfunktionen solcher Viren könnte zu einer neuen Art von Tumortherapie beitragen, die auf natürlichen Prinzipien beruht.

Mit Viren, die den Menschen be- fallen, verbindet man gewöhn- lich sogleich Infektionskrankheiten – eher harmlose wie Mumps oder Schnupfen, aber auch so bedrohliche wie AIDS, Pocken oder Gelbfieber. Sogar an der Entstehung von Krebs können einige beteiligt sein, Papillomviren beispielsweise an der von Gebärmutterhalskrebs, Hepatitis-Viren an der von Leberkrebs.

Daß andere Arten dem entgegenwirken könnten scheint zunächst überraschend, gar unglaubwürdig. Doch Parvoviren (lateinisch parvus, klein) und speziell die uns interessierende Untergruppe der den Menschen infizierenden adeno-assoziierten Parvoviren entfalten, wie Experimente an Zellkulturen und Versuchstieren zeigen, durchaus gewisse Schutzfunktionen. Solche Infektionen könnten auch beim Menschen das Risiko, an bestimmten Tumoren zu erkranken, mindern; beispielsweise sind bei gesunden Frauen Antikörper gegen adeno-assoziierte Viren häufiger nachzuweisen als bei Patientinnen mit Gebärmutterhalskrebs.

Den Indizien nach bauen diese Viren ihre Erbsubstanz überwiegend an bestimmten Stellen in die menschlichen Chromosomen ein. Somit ließen sie sich auch zur Übertragung von Genen zu therapeutischen Zwecken nutzen – vorausgesetzt, keine unerwünschten Nebenwirkungen treten auf. Anders als bei vielen gängigen Genfähren wäre bei ihnen zumindest kaum zu befürchten, daß ein eventuell unpassender Einbau krebsfördernd wirken könnte.

Eine gewisse Vorsicht ist allerdings angebracht. Nach jüngsten Erkenntnissen sind adeno-assoziierte Parvoviren bei Frauen besonders häufig im Bereich des Gebärmutterhalses anzutreffen – im gleichen Gewebe, das durch Infektionen mit bestimmten Papillomviren krebsig entarten kann. Ihr Schutz ist hier zwar erwünscht, doch könnte er mit einem gewissen Nachteil erkauft werden: Bei einem Drittel aller Fehlgeburten im ersten Schwangerschaftsdrittel ist Parvovirus-Erbsubstanz in jenen Zellen des Embryos nachzuweisen, die an der Bildung der Plazenta (des Mutterkuchens) beteiligt sind. Ob die Viren hier wirklich pathologisch wirken wird derzeit untersucht.

In Abwägung aller Risiken dürfte jedoch gerade bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung wie Krebs das inzwischen erkannte therapeutische Potential adeno-assoziierter Viren interessant werden: Sie machen bereits bestehende Tumorzellen empfindlicher gegenüber Chemotherapeutika und Bestrahlung, und sie verlangsamen das Tumorwachstum.


Winzig und ungewöhnlich

Parvoviren wurden in den sechziger Jahren in tierischen Tumorgeweben entdeckt und darum sogar eine Zeitlang verdächtigt, an der Entstehung von Krebs beteiligt zu sein. Mit einem Durchmesser von nur etwa 20millionstel Millimetern sind sie die kleinsten bekannten Viren (Bild 1 oben; die meisten tierischen Zellen sind rund 1500mal größer). Als Träger ihrer genetischen Information enthalten die Partikel eine einzelsträngige Desoxyribonucleinsäure (DNA) und keine doppelsträngige wie die Chromosomen von Zellen oder die meisten anderen DNA-haltigen Viren; der Einzelstrang wird erst innerhalb der Wirtszelle zum Doppelstrang ergänzt.

Parvoviren sind weit verbreitet. Sie kommen bei praktisch allen Tierarten und beim Menschen vor. Wie alle Viren sind sie allein nicht lebens- oder vermehrungsfähig: Dazu benötigen sie die biochemische Maschinerie der befallenen Zellen. Parvoviren sind allerdings weit mehr als andere Viren auf zelluläre Hilfsfunktionen angewiesen. Die zusätzlich erforderlichen Leistungen haben offenbar mit der Zellteilung zu tun, denn neue Partikel treten nur in sich vermehrenden Zellen auf. Bei ihrer Freisetzung wird die Zelle meist abgetötet, regelrecht aufgelöst (lysiert), wie man dies auch von anderen lytischen Viren kennt.

Manchen Parvoviren verhelfen jedoch nicht einmal die besonderen Teilungsprozesse von Tumorzellen zur Vermehrung. Sie brauchen dazu weitere Unterstützung durch Adeno oder Herpesviren – daher der Name adenoassoziiert. (Menschliche Adenoviren verursachen akute Infektionen der Atemwege und der Augen; zu den Herpesviren gehören beispielsweise die Erreger der Lippenbläschen und der Windpocken.) Solange also normale Zellen nur mit diesen bedürftigen Parvoviren, nicht aber mit einem der Helfer infiziert sind, sterben sie nicht ab; ihre Infektion bleibt äußerlich verborgen (latent).

Beim Menschen ist bislang nur ein einziges krankmachendes Parvovirus bekannt: der Erreger der recht harmlosen Ringelröteln (Erythema infectiosum), einem Infekt mit allgemeinem Krankheitsgefühl, Fieber und entzündlichen Rötungen, der spontan nach etwa zwei Wochen abheilt; betroffen sind meist Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren. Nur selten kann das mit dem Kürzel B-19 gekennzeichnete Ringelröteln-Virus gefährlich werden – in bestimmten Stadien der Schwangerschaft sowie bei einer Abwehrschwäche oder bestimmten Formen der Blutarmut. Als Vertreter der autonomen Parvoviren braucht es keine Helferviren.

Bis zu 80 Prozent der Bevölkerung tragen Antikörper gegen B-19 und gegen adeno-assoziierte Viren im Blut; die meisten Menschen haben sich demnach – oft unbemerkt – in der Kindheit damit infiziert.

Tumorhemmende Eigenschaften

Entdeckt hat die krebshemmenden Eigenschaften von Parvoviren Helen Toolan vom Institut für Medizinische Forschung am Putnam-Memorial-Hospital in Bennington (Vermont): Im Jahre 1967 berichtete sie, daß bei Hamstern Tumoren bis zu 25mal seltener als sonst auftraten, wenn die Tiere chronisch mit einem damals "H" (für Hamster) genannten autonomen Parvovirus infiziert waren.

Weitere Untersuchungen mit diesem und mit anderen Parvoviren, darunter adeno-assoziierten, ergaben, daß Entsprechendes auch für experimentell erzeugte Tumoren von Nagern gilt – gleich ob man sie mittels onkogener (krebsauslösender) Viren zu induzieren versuchte oder mittels karzinogener Substanzen. Offenbar war also das Entstehen, das Überleben oder das sonst starke Wachstum von Tumorzellen beeinträchtigt – beziehungsweise irgendeine Kombination dieser Prozesse. Der Effekt zeigte sich eindrucksvoll, als man Versuchstieren bereits in Richtung Krebs veränderte Nagerzellen implantierte: Eine Parvovirus-lnfektion konnte die Vermehrung und Weiterentwicklung solcher transformierter Zellen (die einige, aber nicht alle Charakteristika von Krebszellen aufweisen) zu Tumoren unterdrücken.

Diese Beobachtungen veranlaßten uns zu Untersuchungen an Zellkulturen, um den Mechanismus hinter den offenbar relativ unspezifischen tumorhemmenden Eigenschaften der Parvoviren zu ergründen. Dabei konzentrierten wir uns in der Arbeitsgruppe um Harald zur Hausen, zunächst im Institut für Virologie der Universität Freiburg und später am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, auf adeno-assoziierte menschliche Viren, unter anderem weil zur Hausen und Ursula Bantel-Schaal Anfang der achtziger Jahre einen neuen Typ dieser Untergruppe (den Typ 5) aus menschlichem Genitalgewebe isoliert hatten (Bild 1 oben).

Bereits bei unseren ersten Untersuchungen, an denen Regine Heilbronn maßgeblich beteiligt war, vermochten wir eine anti-mutagene Wirkung der adeno-assoziierten Viren in Zellkultur nachzuweisen. Trotz aller Fortschritte seither ist aber noch immer ungeklärt, ob die Infektion Mutationen (aufgrund derer Zellen entarten) von vornherein verhindert oder ob sie die Überlebensrate mutierter Zellen verringert. Die meisten Indizien sprechen für letzteren Mechanismus, worauf ich noch genauer eingehe.

Wie wir ferner zeigten, verhinderten adeno-assoziierte Viren zudem eine Amplifikation der DNA: Eine solche Vervielfältigung begrenzter Gensequenzen ist eine übliche Gegenmaßnahme von Zellen, um beispielsweise die schädlichen Folgen von Stoffen zu kompensieren, die letztlich das Entstehen kompletter neuer DNA-Stränge vor einer Zellteilung in irgendeiner Weise beeinträchtigen. Zu solchen Substanzen gehören verschiedene Chemotherapeutika gegen Krebs wie das bei Leukämien eingesetzte Methotrexat; es wirkt zellwachstumshemmend (cytostatisch), indem es ein wichtiges Enzym blockiert. Dieses Enzym ist Teil von Stoffwechselwegen, über die unter anderem wichtige Bausteine für die Synthese von Proteinen und DNA entstehen. Auf eine Methotrexat-Behandlung reagieren Zellen leider schließlich mit der Vervielfältigung des Gens für das Enzym; sie können dann mehr von diesem Protein erzeugen, als durch die toxische Substanz ausgeschaltet wird (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1981, Seite 98).

Auf entsprechende Weise werden Krebszellen auch gegen verschiedene andere Cytostatika resistent. Untersuchungen von Özkan Yalkinoglu aus unserer Arbeitsgruppe deuten darauf hin, daß sich die amplifikationshemmende Eigenschaft adeno-assoziierter Viren möglicherweise einmal dazu nutzen läßt, der Ausbildung von Medikamenten-Resistenzen bei der Chemotherapie vorzubeugen.

Auch Karzinogene können sich auf Enzyme auswirken, wenn die von ihnen ausgelösten DNA-Mutationen die Funktionsfähigkeit eines solchen Proteins beeinträchtigen. Die eingebüßte Qualität läßt sich wiederum durch Quantität ausgleichen – indem sich in der Zelle der Bereich mit dem geschädigten Enzym-Gen vervielfacht; zahlreiche schlecht wirkende Enzym-Moleküle bringen dann so viel zustande wie wenige gut funktionierende. Die amplifikationshemmende Eigenschaft von Parvoviren liefert daher zugleich eine mögliche Erklärung für deren tumorhemmende Wirkung: Ohne kompensatorische DNA-Amplifikation sollte sich die Überlebenschance einer Zelle, die einem Karzinogen ausgesetzt ist, verringern – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich vermehrt und so den Keim zu Krebs weitergibt (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1995, Seite 36).

Regine Heilbronn hat vor einigen Jahren am Krebsforschungszentrum den Abschnitt des parvoviralen Erbguts identifiziert, der für die Hemmung der Zell-DNA-Amplifikation verantwortlich ist. Die auf ihm verschlüsselten Proteine unterdrücken eigentlich die Replikation – das Kopieren – der viralen DNA und damit die Vermehrung des Virus, solange nötige Helfervirus-Funktionen oder geeignete Zellbedingungen fehlen (Bild 1 links unten).

Offenbar treten in karzinogen-behandelten Zellen jedoch Veränderungen auf, welche die Vermehrung von Parvoviren hinreichend begünstigen, und dies wiederum hat meist den Untergang der infizierten Zellen zur Folge. Letzteres vermag einen unserer früheren Befunde zu erklären: Zu unserem Erstaunen wurden in Zellen, die eine Karzinogen-Behandlung genetisch geschädigt hatte, nach einer Infektion Kopien der viralen DNA hergestellt, ohne daß ein Helfervirus anwesend gewesen wäre; in einigen Fällen bildeten sich sogar komplette neue Viruspartikel. Solche Zellen starben weitaus häufiger als nicht-infizierte ab.

Es gibt noch weitere Beobachtungen, welche die tumorhemmenden Effekte adeno-assoziierter Viren erklären könnten. Wie die Arbeitsgruppe um Ernest Winocour am Weizman-lnstitut in Rehovot (Israel) sowie Ursula Bantel-Schaal und Petra Klein-Bauernschmitt am Deutschen Krebsforschungszentrum feststellten, kann bei kultivierten Gewebezellen der Teilungszyklus durch eine Neu-lnfektion angehalten werden. Damit wäre die Teilungsrate vermindert – und mit ihr die ungezügelte Zellvermehrung (Proliferation), eines der Hauptcharakteristika von Tumorzellen.

Auch eine dauerhafte latente Infektion mit adeno-assoziierten Viren wirkt tumorhemmend. Seit den siebziger Jahren ist bekannt, daß – zumindest in Gewebekultur – die virale DNA sich sehr leicht ins zelluläre Erbmaterial integriert, ohne daß man äußerlich etwas davon merkt. Die Zellen teilen sich weiter, wobei sie vor jedem Schritt mit ihrem eigenen Erbgut zwangsläufig auch das virale verdoppeln. Erst bei einem Befall mit Helferviren, die sich zellzerstörend vermehren, oder unter gentoxischem Stress (der ei-ne Zelle krebsig entarten lassen kann) wird die integrierte virale DNA wieder herausgeschnitten, und die Herstellung von Parvovirus-Partikeln läuft an. Diese verlassen sozusagen das sinkende Schiff.

Was geschieht nun in einer Zelle, die eingebaute DNA adeno-assoziierter Viren enthält? Christian Walz aus unserer Arbeitsgruppe hat das 1992 für HeLa-Zellen genauer untersucht (diese Tumorzell-Linie, seit Jahrzehnten in Dauerkultur, leitet sich von einer Gewebeprobe aus einem Gebärmutterhalskrebs ab und ist nach dem Namenskürzel der Patientin benannt). Sobald sich die Virus-DNA integriert hat, teilen sich diese Zellen seltener und sprechen sehr viel empfindlicher auf genschädigende Substanzen und auf Bestrahlung (mit ultraviolettem Licht oder Gammastrahlen) an.

Das bestätigte sich auch nach experimenteller Übertragung in Nacktmäuse, die kein funktionsfähiges Immunsystem haben und deshalb eingebrachte körperfremde Zellen nicht abstoßen: Die latent infizierten HeLa-Zellen wuchsen viel langsamer als sonst zu Tumoren heran, und diese reagierten empfindlicher auf eine Strahlenbehandlung. Bei einigen Tieren bildeten sich die Wucherungen sogar gänzlich zurück (Bild 2).

Eine solche Sensibilisierung – und dies nicht nur gegenüber Strahlung, sondern auch gegenüber Chemotherapeutika – erzielte kürzlich Petra Klein-Bauernschmitt bei einer ganzen Reihe verschiedener menschlicher Krebszellen, indem sie sie mit adeno-assoziierten Viren infizierte (Bild 3). Damit werden Parvoviren für ein therapeutisches Konzept noch interessanter.

Schließlich könnte man bei einem weiteren wesentlichen Charakteristikum von Krebszellen ansetzen: Die meisten befinden sich in einem unreifen, nicht ausdifferenzierten Zustand. Normale Zellen, die aus bedarfsgerecht sich teilenden Bildungszellen hervorgehen, spezialisieren sich auf eine bestimmte Aufgabe und sind dann ausgereift meist nicht mehr teilungsfähig. Dagegen bleiben Krebszellen im charakteristischen Fall auf einem bestimmten Differenzierungs- oder Entwicklungsstadium stehen und vermehren sich weiter. Gelänge es, sie zur Differenzierung zu bringen, sollten sie sich nicht mehr teilen, sondern ihre eigentliche, für den ursprünglichen Zelltyp spezifische Aufgabe erfüllen. Dafür geeignete körpereigene und synthetische Substanzen sind bereits bekannt (etwa für die Reifung der Blutkörperchen), und man nutzt sie auch schon zur Therapie von Leukämien (Spektrum der Wissenschaft, September 1988, Seite 70, sowie März 1986, Seite 100).

Wie nun Petra Klein-Bauernschmitt sowohl an Linien leukämischer Zellen als auch an kultivierten Stammzellen aus der Keimschicht der menschlichen Haut (Keratinocyten) nachwies, kann eine Infektion mit adeno-assoziierten Viren die Produktion differenzierungsspezifischer Proteine anregen (Bild 4). Wie das geschieht, ist zwar noch nicht geklärt, doch stellt diese Eigenschaft der Parvoviren möglicherweise ein weiteres Steinchen in dem Mosaik ihrer tumorhemmenden Eigenschaften dar.

Wahrscheinlich nistet sich bei einer natürlichen Infektion des Menschen ihre DNA ebenfalls in einige Zellen dauerhaft ein. Solche latent infizierten, aber sonst normalen Zellen würden dann möglicherweise die toxischen Effekte irgendwelcher einwirkenden Karzinogene oder Strahlen seltener überstehen. Damit sänke das Risiko, daß sie sich zu Tumorzellen weiterentwickeln – und damit das der infizierten Person, an Tumoren des Gewebes zu erkranken, in dem die Viren schlummern.


Viren als Symbionten?

Welche Bedeutung haben all diese experimentellen Befunde für das Krebsgeschehen beim Menschen? Wie erwähnt, infizieren sich die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mit adeno-assoziierten Viren oder dem B-19-Virus, oft ohne es zu bemerken. Ihr Blut enthält entsprechende Antikörper. Forscher in Belgien und den Vereinigten Staaten hatten bereits in den siebziger Jahren festgestellt, daß Patientinnen mit Gebärmutterhals-Karzinom seltener Antikörper gegen adeno-assoziierte Viren aufweisen als Kontrollpersonen. Ähnliches fand Brigitte Georg-Fries im Labor von zur Hausen für den später in Freiburg isolierten neuen Typ 5. Anfang dieses Jahrzehnts berichtete dann die Gruppe von John R. Pattison vom University College of Medicine in London, daß Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen (einer Krebsform des lymphatischen Systems) seltener Antikörper gegen das autonome Parvovirus B-19 haben. All dies spricht dafür, daß auch beim Menschen eine zurückliegende Parvovirus-lnfektion das Risiko, an bestimmten Tumoren zu erkranken, vermindern dürfte.

Angesichts solcher Vorteile könnte man diese Viren geradezu als Symbionten des Menschen bezeichnen. Es ist also zu hoffen, daß sich mit der Aufklärung jener viralen Funktionen, die Krebszellen in ihrer Malignität beeinträchtigen, neuartige therapeutische Ansätze entwickeln lassen, die auf natürlichen Anti-Tumor-Prinzipien beruhen.

Ein anderer Aspekt sei der Vollständigkeit halber erwähnt: Wie bereits angedeutet, können adeno-assoziierte Viren ihr Erbgut effizient in das einer norma-len menschlichen Wirtszelle integrieren, ohne ihr zu schaden. Es findet sich dann fast immer in einem bestimmten Bereich von Chromosom 19 oder 17; das ist auch bei Tumorzellen so (Photo in Bild 2). Daraus ist zu schließen, daß die virale DNA entweder gezielt eingebaut wird oder daß Zellen fast immer absterben, wenn sich die DNA an anderen Stellen einnistet. Sollte ersteres – was naheliegender ist – wirklich zutreffen, böten sich neue Möglichkeiten zu einem kontrollierten Miteinschleusen gewünschter Gene ins zelluläre Erbgut und damit zur Gentherapie. Zuerst allerdings müssen die Bedingungen und Mechanismen der Integration sowie deren Stabilität noch eingehend untersucht werden. Da bisher keine menschlichen Krankheiten bekannt sind, die von adeno-assoziierten Parvoviren verursacht werden, gelten diese als ideale Genfähren – die zu erwartende Nebenwirkung, die Tumorhemmung, nähme man selbstverständlich gern in Kauf.


Pathogenität bei der Embryonalentwicklung

Wenn nun aber gleich mehrere Indikationen für den bewußten Einsatz solcher Parvoviren denkbar sind, stellt sich um so dringlicher die Frage, ob sie nicht vielleicht doch schädliche Effekte haben könnten. Bis vor kurzem wurde das für die Untergruppe der adeno-assoziierten allgemein ausgeschlossen.

Unseren Untersuchungen der letzten Jahre zufolge muß man die natürlichen Infektionen jedoch vorsichtiger beurteilen. Nach unserer Entdeckung, daß adeno-assoziierte Viren Differenzierungsvorgänge induzieren können, wollten wir prüfen, ob sich diese Eigenschaft auch auf entsprechende Vorgänge während der Embryonalentwicklung auswirkt (Bild 5). Dabei konnte Valerie Botquin zeigen, daß eine Infektion embryonaler Mäusezellen in Kultur ebenfalls Differenzierungsvorgänge auslöst und daß eine Infektion von Mäuse-Weibchen in der ersten Trächtigkeitswoche regelmäßig das Absterben der Embryonen – also Fehlgeburten – zur Folge hat. Infizierte sie befruchtete Mäuse-Eizellen außerhalb des Mutterleibs, so starben sie ebenfalls oder blieben in einem wenig späteren Stadium stehen. Ja, es genügte sogar, Teile der DNA von adeno-assoziierten Viren in die befruchteten Eizellen zu injizieren; sie entwickelten sich dann höchstens noch bis zu einem als Maulbeerkeim bezeichneten Stadium weiter.

Diese Befunde passen zu früheren Beobachtungen, wonach Parvoviren, die bei Tieren pathogen sind, dort meist Fehlgeburten oder embryonale Entwicklungsstörungen und mitunter noch bei neugeborenen Tieren Krankheitssymptome bewirken. Das veranlaßte uns, dem Problem auch beim Menschen nachzugehen. Immerhin kann das menschliche autonome Parvovirus B-19, wie erwähnt, bei Schwangeren Fehlgeburten auslösen oder den Embryo schwer schädigen.

In Zusammenarbeit mit Michèle Rabreau, einer Spezialistin für Fetopathologie am Institut für Histo-Cyto-Pathologie in Bordeaux (Frankreich), hat deshalb meine Mitarbeiterin Edda Tobiasch am Deutschen Krebsforschungszentrum nach DNA adeno-assoziierter Viren gefahndet, wenn sich im ersten Drittel der Schwangerschaft eine Fehlgeburt ereignet hatte. Sicherheitshalber schabt der Gynäkologe danach die Gebärmutter aus, um Gewebereste zu entfernen; in derartigem Material ließ sich mittels Polymerase-Kettenreaktion tatsächlich die Virus-DNA in etwa einem Drittel der Fälle nachweisen (mit die-ser hochempfindlichen Methode vermag man selbst winzige Spuren eines Stückes interessierenden Erbmaterials gezielt zu vervielfältigen und dann zu analysieren; Spektrum der Wissenschaft, Juni 1990, Seite 60).

Die DNA saß, wie Gensonden verrieten, in den Zellen des Syncytiotrophoblasten der Plazenta: Das sind verschmolzene Zellen des Embryos, die bei seiner Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut den Weg zum mütterlichen Blut öffnen und an der Bildung der Plazentazotten beteiligt sind (Bild 6). Mit spezifischen Antikörpern ließen sich zudem entsprechende virale Proteine nachweisen; die Virus-Gene waren demnach in den Zellen aktiv.

Parallel dazu haben Edda Tobiasch in Heidelberg und Olivier Malhomme aus meiner zweiten Arbeitsgruppe am Pasteur-lnstitut in Lille (Frankreich) Gebärmuttergewebe analysiert, das Michèle Rabreau bereits mikroskopisch untersucht hatte. Bei bis zu zwei Drittel der Proben, vor allem wenn sie aus dem Gebärmutterhals stammten, fand sich DNA des adeno-assoziierten Virus vom Typ 2.

Es liegt nahe anzunehmen, daß überdauernde Viren dieser Art unter bestimmten, noch unbekannten Bedingungen während der Schwangerschaft reaktiviert werden und dann die neu gebildete Plazenta infizieren können. Ob sie deren Entwicklung stören, weil sie Differenzierungsvorgänge beeinflussen, oder ob andere Effekte, etwa immunologische Reaktionen gegen den Virusbefall, bei Fehlgeburten mitspielen, untersuchen wir gegenwärtig.

Eine Erst-Infektion ist eher unwahrscheinlich; denn mit einem von uns entwickelten serologischen Test konnten wir bestätigen, daß etwa 80 Prozent der Bevölkerung sich bereits in der Kindheit infiziert und Antikörper ausgebildet haben. Außerdem fanden wir bei einem Drittel der Frauen, die eine Fehlgeburt hatten, Antikörper der Klasse M gegen das Typ-2-Virus, was eine Reaktivierung in der Schwangerschaft vermuten läßt, vielleicht aber auch Anzeichen für ei-ne neuerliche Infektion ist. Antikörper-Moleküle dieser Klasse erscheinen bevorzugt beim Auftreten partikulärer Antigene und ausschließlich in der Frühphase der Abwehrreaktion.


Wechselspiel mit Papillomviren

Bisher gibt es überraschenderweise keine Anhaltspunkte für die gleichzeitige Anwesenheit eines der bekannten Helferviren im Genitalbereich. Allerdings legt das Vorkommen von adeno-assoziierten Viren dort eine Wechselwirkung mit humanen Papillomviren nahe, die ja ebenfalls im Gebärmuttergewebe überdauern und zum Beispiel Genitalwarzen hervorrufen. Bestimmte Papillomvirus-Typen (vor allem Typ 16) können das Epithel des Gebärmutterhalses entarten lassen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei jene ihrer Gene, die für die sogenannten E6/E7-Proteine codieren: Diese fördern die Teilung und Vermehrung jener Zellen des Epithels, die den Nachschub an neuen Zellen liefern.

Zusammen mit Michèle Rabreau haben wir Biopsie-Material von entsprechenden Krebsvorstufen des Epithels untersucht. Tatsächlich ließ sich in einigen Zellen außer der DNA solcher Papillomviren auch vermehrungfähige DNA von adeno-assoziierten Viren nachweisen (daraus entstanden neue Viruspartikel). Je stärker jedoch das Gewebe entartet war, desto seltener kam das parvovirale Erbmaterial darin vor (Bild 7).

An Zell-Linien, zum Beispiel an kultivierten menschlichen Keratinocyten, hat Walz in meinem Labor erstmals schlüssig belegt, daß Papillomviren als Vermehrungshelfer für adeno-assoziierte Viren fungieren können. Dabei wurde die Produktion ihrer onkogenen E6/E7-Proteine stark gedrosselt, und infolge der Interaktion der beiden Viren zeigten sich pathologische Veränderungen in den Keratinocyten, die dann abstarben. Diese Drosselung wird durch die Proteine des parvoviralen Replikations-Gen induziert, wie Paul Hermonat von der Universität von Arkansas in Little Rock 1994 im Reagenzglasversuch nachwies.

Daß beide Arten von Viren auch im Organismus zusammenwirken, ist deshalb sehr wahrscheinlich. Möglicherweise begünstigen die adenoassoziierten Viren die Differenzierung der neu gebildeten Epithelzellen, und das wiederum könnte die Vermehrung oder Reifung von Papillomviren fördern, welche die einzelnen epithelialen Differenzierungsstufen für ihren Vermehrungszyklus brauchen. Gleichzeitig aber würden, weil die E6/E7-Onkogene weniger stark ausgeprägt werden, die Funktionen gehemmt, welche die Proliferation der Basalzellen veranlassen und somit den Weg zum Krebs begünstigen. Auf diese Weise könnten adeno-assoziierte Viren einer krebsigen Entartung des Gebärmutterhals-Epithels entgegenwirken (Bild 8). Weil infolge ihrer Anwesenheit die Zellen zudem leichter an gentoxischen Belastungen zugrunde gehen, wie auch Karzinogene sie ausüben, wäre ein wichtiger weiterer Schritt der Krebsentstehung gehemmt; denn Papillomviren allein reichen nicht zur Entstehung von Krebs – es müssen auslösende gentoxische Faktoren dazukommen.

Mit der Entdeckung adeno-assoziierter Viren im Gebärmutterhalsgewebe konnten wir erstmals einen Zelltyp und einen Ort im Körper nachweisen, wo sie wahrscheinlich beim Menschen überdauern. Sicherlich ist die Gebärmutter nicht das einzige infizierbare Gewebe, weil auch Männer Antikörper gegen diese Parvoviren haben. Die Identifizierung anderer natürlicher Zielzellen im Organismus und die Abklärung einer möglichen Pathogenität ist heute um so notwendiger, als diese Viren – wie erwähnt – als geeignete Vehikel zum Einschleusen therapeutisch nützlicher Gene angesehen werden.

Ob und auf welche Weise Infektionen mit adeno-assoziierten Viren in der Schwangerschaft eventuell ein Problem darstellen, wird zur Zeit in unseren Labors untersucht. Einem Einsatz zur Verbesserung einer Krebstherapie – etwa zur Sensibilisierung von Tumorzellen gegenüber Chemotherapeutika und Bestrahlungen, die dann möglicherweise niedriger dosiert werden könnten – würde das jedoch nicht entgegenstehen. Man müßte Frauen im gebärfähigen Alter natürlich zur Empfängnisverhütung raten (was angesichts der erbgutschädigenden Effekte von Bestrahlungen und vielen Krebsmitteln ohnehin angezeigt ist) und sie über die eventuellen Nebenwirkungen der Virusbehandlung aufklären. Mit gentechnisch umgebauten Viren wären die interessierenden Fähigkeiten vielleicht gezielter und gefahrloser zu nutzen.

Basierend auf den vielfältigen tumorhemmenden Eigenschaften von adeno-assoziierten Parvoviren lassen sich möglicherweise nicht nur neue Konzepte zur Therapie, sondern auch zur Prävention von Krebs entwickeln, die auf natürlichen Prinzipien beruhen. Für den Aspekt der Vorbeugung besonders bedeutsam erscheint die von uns entdeckte Interaktion adeno-assoziierter Viren mit humanen Papillomviren. Zunächst muß aber im Detail geklärt werden, wie tumorhemmende und tumorfördernde Viren – die zudem im selben Gewebe natürlicherweise vorkommen – miteinander wechselwirken.

Literaturhinweise

- Tumorsuppressive Properties of Adeno-associated Viruses. Von J. R. Schlehofer in: Mutatation Research, Band 305, 1994, Seiten 303 bis 313.

– Antagonism of Two Virus Infections in the Development of Cervical Cancer? Von M. Rabreau und J. R. Schlehofer in: Oncology Reports, Band 2, 1995, Seiten 95 bis 97.

– Antineoplasic Activity of Parvoviruses. Von J. Rommelaere und J. J. Cornelis in: Journal of Virological Methods, Band 33, 1991, Seiten 233 bis 251.

– Human Pathogenic Papillomaviruses. Herausgegeben von H. zur Hausen in: Current Topics in Microbiology and Immunology, Band 186, Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 1994.

– Improved Efficacy of Chemotherapy by Parvovirus-mediated Sensitization of Human Tumor Cells. Von P. Klein-Bauerschmitt, M. von Knebel-Doeberitz, M. Ehrbar, K. Geletneky, J. Kleinschmidt und J. R. Schlehofer in: European Journal of Cancer, Band 32 A, Nr. 10, Seiten 1774 bis 1780, 1996.

– Interaction of Human Papillomavirus Type 16 and Adeno-associated Virus Type 2 Co-infecting Human Cervical Epithelium. Von C. Walz, A. Deprez, T. Dupressoir, M. Dürst, M. Rabreau und J. R. Schlehofer in: Journal of General Virology, 1997 (im Druck).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 44
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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