Patentrezept gegen Arbeitslosigkeit?
Erst seit kurzem wird das Potential neuer Dienstleistungen von Forschung und universitärer Lehre in Deutschland ernst genommen. Am 31. August hat nun das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) ein Handlungs- und Förderkonzept vorgelegt.
Zum Dienstleistungssektor zählen gemeinhin mehr Berufe als diejenigen, die vom direkten Kontakt zum Kunden geprägt sind. So sind nicht etwa nur Friseure, Pflegebedienstete, Verkäufer, Mitarbeiter von Reparaturdiensten und Sachbearbeiter in der Verwaltung als Repräsentanten dieses Sektors anzusehen, sondern auch hochqualifizierte Planungsingenieure, Computerspezialisten, Unternehmens- und Finanzberater, Marketingexperten und Handelsspezialisten – alles Berufe, die eng mit der Produktion verbunden sind.
Gerade dieser letzten Gruppe kommt eine stärker werdende wirtschaftliche Bedeutung zu. In seinen "Handlungsempfehlungen zur Stärkung des Dienstleistungssektors" führt der Beirat des BMBF-Forschungsprojektes "Dienstleistungen 2000" folgende acht zu diesem Sektor gehörige Branchen auf, die gemessen am Umsatz bis zum Jahr 2010 das größte Wachstum verzeichnen werden: Unternehmensberatung (Wachstum um 200 Prozent), Datenverarbeitung (185 Prozent), Personalvermittlung (177 Prozent), Vermögensberatung (137 Prozent), Kultur und Unterhaltung (132 Prozent), Marktforschung (128 Prozent), Abfallbeseitigung (124 Prozent) sowie Forschung und Entwicklung (118 Prozent). Auf Dienstleistungen entfällt bereits heute in Deutschland mehr als die Hälfte der wirtschaftlichen Wertschöpfung; rechnet man die öffentlichen Dienste hinzu, sind es sogar zwei Drittel. Und 63 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute in diesem Sektor; in den alten Bundesländern beträgt der Anteil gar mehr als 70 Prozent (Bild 1).
Es ist deshalb auch nicht übertrieben, wenn Klaus Mangold, der Vorsitzende des genannten Beirats, die weitere Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft mit einem tiefgreifenden Strukturwandel verbunden sieht. Gerade die unternehmensnahen Dienstleistungen – vor allem die Informations- und Kommunikationstechnologien – haben in den letzten Jahren eine gewaltige Wachstumsdynamik entfaltet. Der letzte Bericht "Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands" (siehe Spektrum der Wissenschaft, Mai 1998, Seite 104) stellt dazu fest: "Für Produktion und Absatz in der Industrie werden Dienstleistungen immer wichtiger, Industrieprodukte definieren sich immer häufiger über die zugehörigen Dienstleistungen. Dienstleistungen schaffen häufig erst die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vermarktung der Güter."
Qualifikationen für produktorientierten Service
Dieser unternehmensorientierte, auf technologische Innovationen gerichtete Bereich verlangt deutlich höhere Qualifikationen als die traditionellen Servicebereiche und die Industrie. Darum wächst die Zahl der Hochschulabsolventen, die im Dienstleistungsbereich tätig sind, beständig. Im Jahre 1995 waren dort mehr als die Hälfte der Informatiker, etwa ein Drittel der Physiker und Mathematiker sowie mehr als ein Viertel der Ingenieure beschäftigt.
Zentrum des Wandels von der Informations- zur Dienstleistungsgesellschaft ist die neuerdings so genannte Weiße Wirtschaft. Deren Bestandteile haben Manfred Bobke und Herbert Schaaff von der Deutschen Telekom auf einem internationalen Ingenieur-Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn Ende Mai aufgezählt: Medienwirtschaft, Kommunikationsbranche, Telekommunikation, Bildungssektor, Forschung und Entwicklung, Kultur und Tourismus, Sport-, Spiel- und Vergnügungssektor, Gesundheitswesen und Altenpflege, soziale und humanitäre Dienste, Umweltschutzorganisation, Rechtspflege, Beratungswirtschaft sowie private Haushaltswirtschaft.
Was die Beschäftigungswirkung betrifft, darf man sich aber womöglich keinen Illusionen hingeben. Bobke und Schaaff meinen, zunächst werde die Informationstechnik vor allem in der Produktion und in unternehmensbezogenen Diensten eingesetzt und weniger konsumorientiert sein. Gegen die These vom Jobwunder durch die Dienstleistungsgesellschaft wird vorgebracht, daß die enormen Potentiale vor allem zur Steigerung der Produktivität genutzt werden mit der Folge, daß mehr Arbeitsplätze verloren gehen als hinzukommen. Diese Möglichkeit machen die Antworten von Experten zum Thema "Dienstleistung und Konsum" in der Studie "Delphi '98" (siehe Spektrum der Wissenschaft, September 1998, Seite 108) besonders deutlich: Sie sehen die Zukunft der Dienstleistungen vor allem in entpersönlichten internationalen Computerdiensten – von Tele-Einkäufen bis zu frei programmierbaren Maschinen zur Unterstützung der Krankenpflege.
Die Janusköpfigkeit der Weißen Wirtschaft
Entsprechend nüchtern sind deshalb die ersten Voraussagen über die große positive Beschäftigungswirkung der Informationstechnologie zu beurteilen. "Multimedia ist ein Januskopf mit zwei Gesichtern: sowohl Beschäftigungsmotor als auch Produktivitätstechnologie", stellt der SPD-Bundestagsabgeordnete Siegmar Mosdorf fest. Er war im letzten Bundestag Vorsitzender der Enquete-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft". Die übersprudelnden Erwartungen etwa der Europäischen Kommission, allein in Deutschland könnten bis zu fünf Millionen Arbeitsplätze durch Multimedia geschaffen werden, wurden gedämpft. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little hatte die mögliche Entwicklung in den sogenannten TIME-Branchen (Telekommunikation, Informationstechnik, Medienindustrie und Elektronik) untersucht und kam zu dem Schluß, daß dort bis zum Jahre 2000 die Rationalisierungswirkungen größer sein würden als die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Erst danach könne der Arbeitsplatzabbau allmählich aufgefangen werden.
Zugleich komme es, so Mosdorf, "zu einer Polarisierung von Arbeitsplatzanforderungen: Einerseits wird in der Serviceverrichtung ein Betätigungsfeld für Angelernte entstehen, andererseits wird in der Produkt- und Serviceerstellung zunehmend hohe Qualifikation gefragt sein." Bis zum Jahre 2010 wird demnach der Anteil der höherqualifizierten Tätigkeiten von 28 Prozent im Jahre 1985 auf fast 40 Prozent ansteigen, während die einfachen Arbeiten von 27 auf 17 Prozent zurückgehen werden.
Wegen der raschen technologischen Entwicklung in der Wissensgesellschaft wird dabei das lebenslange Lernen, also die Weiterbildung neben der schulischen, beruflichen und universitären Bildung, immer wichtiger werden. Darauf hat auch der Technologierat in seinem Kompetenz-Gutachten nochmals hingewiesen (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1998, Seite 113).
Der Service-Bereich: ein vernachlässigtes Stiefkind
Dienstleistungen sind die wichtigsten Anwender technologischer Neuerungen. Offensichtlich wird dieser Innovationsbereich bislang vernachlässigt. So klagt Mangold darüber, daß nur zehn Prozent der staatlichen Forschungsaufwendungen darauf entfallen, während es in den USA rund 25 Prozent sind. Und selbst die Öffentlichkeit meint, Deutschland bleibe mit den ausgeübten Dienstleistungstätigkeiten weit hinter den USA zurück; dort seien einfache Dienste weit verbreitet, weshalb die Arbeitslosenquote niedriger sei als hierzulande.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ist dieser Frage in den letzten Jahren in mehreren Untersuchungen nachgegangen. Mit den bisherigen Methoden ermittelte Bilanzen zeigen Deutschland und noch stärker Japan im Dienstleistungsexport im negativen Bereich, während die USA weit im positiven liegen (Bild 2). In seinem Wochenbericht vom 27. August 1998 wiederholt das DIW nun aber seine These, daß für Westdeutschland gegenüber den USA "von einer gesamtwirtschaftlichen Dienstleistungslücke nicht die Rede sein kann". In einen solchen Vergleich müßten nämlich nicht nur die in Deutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, sondern auch die nicht sozialversicherungspflichtigen Geringverdienenden mit 620-Mark-Jobs, die Beamten und die Selbständigen einbezogen werden. Dann lasse sich für Deutschland kein Rückstand beim Anteil "einfacher Dienste" nachweisen. Für die aktuelle Arbeitsmarktpolitik von Bedeutung ist die Folgerung des DIW: "Die Hoffnung, daß Anreize zur Ausübung einfacher Dienste das deutsche Arbeitsmarktproblem lösen, ist somit empirisch nicht belegbar und darüber hinaus theoretisch ohnehin nur schwach untermauert." Notwendig sei es vielmehr, einfache Dienste nicht in versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse zu pressen, sondern in den normalen Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dem entspricht auch eine Forderung von Mangold. Er weist einerseits darauf hin, daß auf den meisten der Dienstleistungsarbeitsplätze in den USA keine Mindestlöhne bezahlt werden. Ein immer größerer Anteil von ihnen gewinnt, wie auch die Entwicklung in Deutschland zeigt, ständig an Wert. Auch das BMBF bestreitet, daß in den USA überwiegend die bad jobs zugenommen hätten. Vielmehr sei die Entwicklung der Dienstleistungstätigkeiten den Beziehern mittlerer Einkommen und den Frauen zugute gekommen. Andererseits warnt Mangold: Der amerikanische Weg sei nicht auf allen Ebenen auf Deutschland und Europa übertragbar. Hier solle vermieden werden, daß sich wie in den USA eine Schicht von working poor herausbildet, die trotz Job ihre Familie nicht ernähren können.
Statistik gibt ein ungenaues Bild
Die Widersprüche in diesen Thesen sind nicht zu übersehen: Stützt sich die US-amerikanische Wirtschaft nun auf schlecht bezahlte Dienstleister, oder geht deren Anteil kontinuierlich zurück? Die USA zeigen allerdings Mangold zufolge, "wie tief verwurzelt der Servicegedanke im gesamten Wirtschaftsprozeß sein muß, um den Weg in die Dienstleistungsgesellschaft erfolgreich zu beschreiten".
Für Deutschland wird dieser Weg trotz der vielen positiven Ansätze nicht leicht sein. Nicht nur Forschung und Öffentlichkeit sind darauf schlecht vorbereitet, auch der Dienstleistungsbereich selbst ist äußerst komplex. Das Förderkonzept des BMBF bezeichnet es als "nicht möglich, mit einheitlichen Konzepten alle Bereiche zu erschließen". Selbst so simple Dinge wie die Statistik sind hierzulande Hindernisse. Sie dürfte nach Meinung des BMBF die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen des Dienstleistungssektors systematisch unterschätzen, denn sie erfaßt nur natur- und ingenieurwissenschaftliche Aufwendungen, nicht aber etwa Forschungstätigkeiten von Banken, Handelsunternehmen und Versicherungen. Gesellschaften, die als Tochterunternehmen von Großunternehmen Forschung und Entwicklung als Dienstleistung erbringen, werden der Branche zugeordnet, für die sie forschen; sie erscheinen nicht als Dienstleistungsunternehmen. Die maßgebende Abteilung Wissenschaftsstatistik des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat dieses Problem erkannt und arbeitet zur Zeit an einem neuen "Dienstleistungsansatz" für die nächste Erhebung in der deutschen Wirtschaft.
Im internationalen Vergleich liegt die Dienstleistungsforschung in Deutschland weit zurück. Verbesserung der Infrastruktur für Forschung und Entwicklung sowie internationale Kooperation im Bereich Dienstleistung und Konsum zählen darum zu den wichtigsten Wünschen der im Rahmen von Delphi '98 Befragten. Vorreiter sind nach einer Untersuchung von Hans-Jörg Bullinger vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen in den USA sowie in Singapur und Hongkong. In Europa führen Großbritannien und Schweden. In den letzten Jahren wurden Forschungsaktivitäten zu Dienstleistungsthemen auch in Frankreich, der Schweiz und in Italien verstärkt, allerdings meist nur als Adaption amerikanischer Trends. Die Stärke Europas sieht Bullinger in branchenspezifischen Forschungsaktivitäten, etwa im Finanzbereich, bei öffentlichen Dienstleistungen, in Warenwirtschaft und Tourismus.
Auf einem Kongreß im Rahmen des BMBF-Förderprogramms wurde am 31. August und 1. September in Bonn eine Fülle neuer Ansätze auch in Deutschland vorgestellt. Sie betreffen unter anderem Multimedia, Handwerk, Privathaushalte, ökologische Dienstleistungen, Arbeitsschutz, Bildung sowie generelle Themen des Servicebereichs. Das Förderkonzept des BMBF sucht nun einen neuen Weg: Es schlägt keine Branchenprogramme vor, weil sich neue Dienstleistungen branchen- und unternehmensübergreifend entwickeln. Schwerpunkte sind vielmehr innovative Dienstleistungen in Klein- und Mittelunternehmen, das Beseitigen rechtlicher Hemmnisse, das Etablieren von Qualitätsstandards und Vergleichsmethoden, neue Unternehmensmodelle und Managementverfahren, Standardisierung und Normung, Service-Engineering und Service-Design sowie Studien und Vorarbeiten für neue Arbeitsfelder wie Freizeit und Tourismus, Finanzsektor und öffentliche Arbeiten. Zentral dürfte aber die Förderung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Dienstleistungsstatistik sein. Beim Statistischen Bundesamt läuft dazu ein Pilotprojekt zum Bereich "Datenverarbeitung und Datenbanken". Gemeinsam mit einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, die im Dienstleistungsbereich noch unterentwickelt ist, könnte sich daraus eine sichere Methodenbasis für Dienstleistungen entwickeln.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 144
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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