Perspektiven dualer Berufsausbildung aus gewerkschaftlicher Sicht
Nach wie vor wird in Deutschland die Mehrzahl der Jugendlichen – es sind jeweils knapp 70 Prozent eines Jahrgangs – im dualen System beruflich ausgebildet. Dieses System galt viele Jahre, auch über die Ländergrenze hinaus, als optimal zur Vorbereitung junger Menschen auf den Übergang in die Beschäftigung. Als wesentliche Gründe werden stets genannt:
- Die Dualität der Lernorte Betrieb/Berufsschule garantiere, daß die Auszubildenden sowohl betriebsspezifische als auch berufsfeldbreite Qualifikation und damit einen Grundstock für berufliche Handlungsfähigkeit erwerben.
- Der ausbildende Betrieb sei potentiell auch der spätere Beschäftigungsbetrieb.
Den Realitätsgehalt dieser Annahmen will ich hier nicht systematisch erörtern. Dringlicher in der gegenwärtigen Situation ist vielmehr, jene Probleme aufzuzeigen, die etwas über den aktuellen Stellenwert des dualen Systems aussagen und entschiedenes Handeln erfordern; dabei konzentriere ich mich auf die aus gewerkschaftlicher Sicht nötigen Maßnahmen.
Eine kritische Entwicklung
Bereits in den achtziger Jahren gab es in der Bundesrepublik heftige öffentliche Auseinandersetzungen über die Leistungsfähigkeit und die Grenzen des dualen Systems. Dabei konnten sich dessen Befürworter vor allem auf das enorme gesteigerte Angebot an Ausbildungsplätzen berufen: Während im Jahr 1975 rund 1,3 Millionen Jugendliche dieses System absolviert hatten, waren es 1,8 Millionen im Jahre 1985. Kritiker – vor allem aus den Gewerkschaften und zum Teil auch aus der Berufsbildungsforschung – führten dagegen an, daß das vermehrte Angebot bei weitem nicht ausreichte, die noch stärker gestiegene Nachfrage zu befriedigen; so blieben bereits damals Hunderttausende von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz.
Nachweislich wurde zudem die Ausbildung am künftigen Bedarf vorbei gesteuert, nämlich in Bereiche mit geringen Verwertungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Es wurden Gärtner, Maler, Lackierer oder Friseusen ausgebildet, nicht Anwärter auf qualifizierte Metall- und Elektroberufe sowie auf Tätigkeiten in neuen Sparten oder anspruchsvollen Dienstleistungsbereichen. Vor allem aber ging die Ausweitung des Angebotes an Ausbildungsplätzen nicht mit einer entsprechend erhöhten Nachfrage nach ausgebildeten Fachkräften einher. Die Folgen für die Jugendlichen waren Chancenungleichheit, Arbeitslosigkeit im Anschluß an die Ausbildung sowie unterwertiger Einsatz oder berufsfremde Beschäftigung.
In den neunziger Jahren hat sich nun die Ausbildungskrise erneut dramatisch zugespitzt. Ein wesentlicher Grund ist, daß strukturelle Reformen der politischen Rahmenbedingungen für das duale System unterblieben sind. So ist die gesamtwirtschaftliche Ausbildungsquote Jahr für Jahr zurückgegangen. Nur noch 5,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten befanden sich 1996 in einer beruflichen Ausbildung. Im Jahre 1989 lag diese Quote immerhin bei 7,7 und vor zehn Jahren bei 8,5 Prozent. In den stets als industrielle Schlüsselberufen bewerteten Metall- und Elektroberufen verringerte sich die Zahl neu abgeschlossener Verträge von 1986 bis Mitte der neunziger Jahre um 60 Prozent. Es ist paradox: Während gerade aufgrund des krisenhaften Beschäftigtenabbaus in der Metallwirtschaft der beruflichen Qualifikation wachsende Bedeutung zukommt, was auch niemand ernsthaft bestreitet, baut die Metall- und Elektroindustrie Ausbildung in einem Ausmaß ab, das den Beschäftigtenabbau weit übersteigt. So ging die Zahl der Neueinstellungen in den industriellen Elektro- und Metallberufen von 1986 bis 1993 um mehr als die Hälfte (52,7 Prozent) zurück. Rein statistisch übertraf dieser Abbau den Rückgang von Neueinstellungen für die gewerblich-industrielle Ausbildung insgesamt (minus 51,3 Prozent).
Zu fragen ist also, wie sich der drastische Abbau von Ausbildungsplätzen zu der immer wieder prognostizierten Renaissance der Facharbeit und den damit verbundenen erweiterten Beteiligungs- und Gestaltungschancen verhält. Wie ist er mit der auch von Arbeitgebern stets betonten wachsenden Bedeutung höherqualifizierter Tätigkeiten vereinbar? In welchem Zusammenhang damit steht die angebliche Gefahr der Facharbeiterlücke, wie sie vor allem Mitte der achtziger Jahre beschworen wurde, aber auch heute noch immer wieder angeführt wird? Schon damals allerdings wußten die Arbeitnehmer in den Betrieben sehr überzeugend darzustellen, daß nicht Facharbeiter fehlten, sondern vor allem Arbeitsplätze für sie.
Aktuelle Probleme
Für die Gewerkschaften bleibt die Verringerung des Anteils von Ungelernten und beruflich Fehlqualifizierten eine zentrale Zukunftsaufgabe. Ebenso wichtig ist allerdings nach wie vor die Qualitätsverbesserung von Inhalten und Strukturen der beruflichen Ausbildung.
Insgesamt geht es darum, wer bei einem knapper werdenden Angebot an Arbeit gewinnen und wer verlieren wird. Mit Sicherheit werden nicht diejenigen die Sieger sein, die – falls sich die gegenwärtigen Trends in der Berufsbildungspolitik durchsetzen – in sogenannten Anlernberufen und damit einer Art Facharbeiterausbildung zweiter Klasse untergebracht werden sollen. Vielmehr ist die Sicherung eines flächendeckenden Ausbildungsangebots in zukunftsfähigen Berufen und hoher Standards unerläßlich, um nicht vielen Jugendlichen nachrückender Jahrgänge den Zugang zu einer am Arbeitsmarkt anerkannten, qualifizierten beruflichen Erstausbildung zu verbauen.
Die aktuellen Anforderungen an ein auch künftig taugliches System beruflicher Bildung sind aus ge- werkschaftlicher Sicht so zu konkretisieren:
- Da sich viele Berufsbilder immer rascher ändern und die Anforderungen an fachliche und soziale Handlungskompetenz, an selbständiges Arbeiten und Kreativität immer weiter steigen, wird der gleichberechtigte Zugang zu qualifizierender Aus- und Weiterbildung für alle Jugendlichen und Erwachsenen immer wichtiger.
- Ein auf künftige Anforderungen ausgerichtetes System beruflicher Bildung muß gleichzeitig zur Sicherung der internationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft beitragen. Dabei werden ohne Zweifel qualitative Standortfaktoren gegenüber quantitativen wichtiger. Insofern muß berufliche Bildung helfen, qualitatives Wachstum auf betrieblicher, regionaler und gesamtwirtschaftlicher Ebene zu fördern.
Von der Erfüllung dieser Aufgaben ist das duale System gegenwärtiger Prägung weit entfernt. Von seiner krisenhaften Entwicklung, vom Abbau von Ausbildungsplätzen und der Verweigerung von Reformen sind die sozialen Gruppen der Bevölkerung allerdings sehr unterschiedlich betroffen. Mit dem Mangel an betrieblicher Ausbildung sind im Osten Deutschlands mehr Jugendliche konfrontiert als im Westen. Er trifft – in Ost wie West – vor allem jene, die aufgrund schlechter sozialer oder schulischer Voraussetzungen ohnehin benachteiligt sind. Er trifft häufiger ausländische Jugendliche als deutsche. Er trifft besonders in den neuen Bundesländern verstärkt junge Frauen.
In dem Maße, wie junge Menschen nach der Ausbildung nicht in ein Beschäftigungsverhältnis übernommen werden, vertiefen sich die Spaltungslinien zwischen den Generationen. Das Fehlen betrieblicher Weiterbildungsangebote geht vor allem zu Lasten ungelernter Arbeitskräfte, Behinderter sowie älterer Arbeitnehmer und Frauen. Werden Bildung und Berufsbildung nicht mit einer vorausschauenden Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik verzahnt, haben Beschäftigte und Arbeitslose insbesondere in Krisenregionen und Krisenbranchen die Folgen zu tragen.
Auf eine knappe Formel gebracht: Reformverzicht in Bildung und Berufsbildung vertieft zwangsläufig die gesellschaftliche Spaltung zwischen Arm und Reich. Die Krise der Berufsbildung verschärft somit die gegenwärtige soziale Polarisierung und ist Teil der Krise des Sozialstaates.
Gewerkschaftliche Strategien
Auf den dramatischen Abbau an Ausbildungsplätzen reagieren Politik und Wirtschaft, allen voran der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT), mit der Forderung nach Qualitätsabbau, umschrieben als Abbau ausbildungshemmender Vorschriften, sowie nach gesetzlicher Deregulierung und der Aufkündigung des Konsensprinzips beim Erarbeiten neuer Ausbildungsberufe. Die IG Metall wertet solche rückwärtsgewandten Vorstellungen als das hilflose Eingeständnis, daß den Verantwortlichen für die Ausbildung im dualen System die Kontrolle über das Ausbildungsgeschehen verlorengegangen ist: Perspektiven einer auf aktuelle und künftige Erfordernisse angelegten Politik zur Steuerung beruflicher Qualifizierung sind nicht erkennbar.
Laut einer Umfrage des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie ist ein erklärtes Ziel der Unternehmen, die Facharbeiterquote zu erhöhen, da sie bei der betrieblichen Umsetzung neuer Produktionskonzepte auf eine qualifizierte Belegschaft und qualifizierten Nachwuchs angewiesen sind. Wie die Lage auf dem Ausbildungsmarkt zeigt, werden zwar einerseits junge Menschen in den Wettbewerb um entsprechende Ausbildungsplätze gedrängt; andererseits stehen aufgrund steigender Schulabschlüsse und höherer Ansprüche von Jugendlichen an die Qualität der Arbeit auch die Betriebe im Wettbewerb um qualifizierte Auszubildende. Um die Zukunft der Facharbeit zu sichern, ist es unabdingbar, die berufliche Ausbildung attraktiver zu machen: Es geht – ein neuer Begriff – um Sicherung und Förderung der Produktionsintelligenz.
Die Betriebe sind immer weniger in der Lage, diese Aufgabe allein wahrzunehmen. Ein entsprechendes Eingeständnis wäre der erste notwendige Schritt, die Perspektiven dualer Berufsausbildung insgesamt zu sichern. Wir fordern deshalb den DIHT und die Kammern auf, ihre bisherige Politik des Beharrens auf dem Status quo ebenso aufzugeben wie ihre Politik des Alleinvertretungsanspruchs. Transparenz und Kooperation sind notwendige Voraussetzungen, um rechtzeitig und zielgerichtet auf das betriebliche Ausbildungsangebot und die Ausbildungsqualität einzuwirken. Die gewerkschaftlichen Mitbestimmungsrechte auf Kammerebene dürfen nicht länger ausgehebelt werden.
Wir fordern, daß der DIHT seine Blockadepolitik beim Erstellen integrierter Prüfungen ebenso aufgibt wie seine Verzögerungstaktik beim Erarbeiten bundeseinheitlicher Weiterbildungsregelungen. Der immer wieder beklagte Mangel an Abstimmung zwischen den Ausbildungsinhalten des Betriebs und der Berufsschule muß durch verbindliche Zusammenarbeit in örtlichen Arbeitskreisen endlich behoben werden. Berufsschulen sind keine Bittsteller der Betriebe, und die Freistellung der Auszubildenden für den Berufsschulunterricht ist keine Gefälligkeit. Angesichts des dramatischen Mangels an Ausbildungsplätzen sind der Lernort Schule sowie überbetriebliche und außerbetriebliche Ausbildungsstätten verstärkt für die duale Berufsausbildung zu nutzen. Deren Qualität kann auch nur professionelleres Ausbildungspersonal verbessern; Haupt- und nebenberufliche Ausbilder müssen darum regelmäßig zur Weiterbildung freigestellt werden, und dafür sind wiederum verbindliche Lehrgänge zu schaffen.
Über die unmittelbar notwendigen Maßnahmen der Qualitätsverbesserung betrieblicher Erstausbildung hinaus kann auf strukturelle Reformen im Bildungssystem nicht verzichtet werden. Jahrzehntelang haben sich die Arbeitgeberverbände gegen den Ausbau integrierter Bildungsgänge im Schulsystem gewehrt und damit – gegen ihre eigenen Interessen – die Ungleichheit von allgemeiner und beruflicher Bildung verfestigt. Erst wenn beide gleichwertig sind, kann es in Deutschland ein leistungsfähiges duales System geben. Qualifizierte Berufsausbildung kann nur dann zur Alternative zum Gymnasium werden, wenn ihr erfolgreicher Abschluß zum Studium berechtigt. Parallel dazu sollte das duale System durch duale Fortbildungsgänge, die ebenfalls zum Hochschulabschluß führen, aufgestockt werden.
Zur Lösung der Ausbildungskrise fordern die Gewerkschaften sowohl im Interesse der Betriebe als auch der Jugendlichen, daß die Arbeitgeberverbände ihren Widerstand gegen jede Art von überbetrieblichen Finanzierungsregelungen aufgeben. Die Bundesrepublik ist das einzige Land Europas, das den Betrieben ein Monopol über Ausbildungsplätze einräumt; sie allein entscheiden, ob sie ausbilden wollen und können oder eben nicht. In der Regel treffen sie diese Entscheidung aber nicht nach der Maßgabe, was gesamtwirtschaftlich sinnvoll und notwendig ist, und schon gar nicht danach, was Bildungsansprüchen und Zukunftserwartungen junger Menschen gerecht wird, sondern nach einzelbetrieblichem Kosten-Nutzen-Kalkül. Kurzfristige Gewinnerwartungen haben dabei in der Regel Vorrang – auch gegenüber mittelfristiger Wettbewerbsfähigkeit. Wer Verantwortung trägt, hat auch Pflichten. Wenn die Unternehmer nicht bereit oder in der Lage sind, ihrer Verantwortung für die Ausbildung gerecht zu werden, müssen Instrumente geschaffen und bereitgestellt werden, die ihnen das ermöglichen. Ein solches Instrument ist eine gesetzliche Finanzierungsumlage in Verbindung mit einer festzusetzenden Ausbildungsquote der Betriebe. Es geht uns auch um eine gerechtere Kostenbelastung: Vor allem Firmen, die von der Ausbildung in anderen Betrieben profitieren, sich aber selbst nicht dafür engagieren, sind an den Kosten zu beteiligen. Berufsbildung ist schließlich auch Politik zur Standortsicherung. Mithin ist staatliches Handeln dringend erforderlich.
Allerdings: Das wachsende Problem der Nichtübernahme ausgebildeter junger Fachkräfte in den alten und neuen Bundesländern und die massenhafte Arbeitslosigkeit auch qualifizierter Fachkräfte zeigen sehr deutlich die Grenzen einer isolierten Ausbildungspolitik. Daraus ergibt sich zwingend, daß berufliche Qualifizierungsstrategien mit beschäftigungspolitischen Maßnahmen zu verknüpfen sind. Wir brauchen ein Bündnis für Arbeit und Ausbildung. Denn ohne genügend qualifizierte Arbeitsplätze, ohne Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation und ohne den Abbau von Arbeitslosigkeit insgesamt werden die Ausbildungsprobleme von Jugendlichen lediglich von der ersten auf die zweite Schwelle und damit auf den Übergang in den Arbeitsmarkt verschoben.
Selbstverständlich kann dies nicht bedeuten, Unternehmen und Betriebe seien aus der Verantwortung für die berufliche Qualifikation zu entlassen. Neue Formen der Arbeitsorganisation, neue Inhalte der Arbeitnehmerqualifizierung, neue Wege der Arbeitnehmerbeteiligung sind vielmehr Schritte zu einer demokratisierten Arbeitswelt. Wenn aber nun, wie zu beobachten ist, die Sicherung des Fachkräftenachwuchses vom Einzelbetrieb in erster Linie nach kurzfristigen Bedarfs- und Kostenrechnungen behandelt wird, dann sind steuernde und regelnde Eingriffe, dann ist eine Stärkung der öffentlichen Verantwortung in der beruflichen Bildung dringend geboten. Im Gegensatz zur aktuellen Deregulierungspolitik würde dies das duale System beruflicher Bildung nicht schwächen. So würden vielmehr erst die Voraussetzungen geschaffen, eine seiner entscheidenden Stärken – die Ausbildungsplatznähe beruflichen Lernens – erneut zur Geltung zu bringen und notwendige Weiterentwicklungen endlich voranzutreiben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 36
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