Pflanzen in Aktion. Krümmen, Klappen, Schleudern
Obwohl auch Pflanzen durchaus nicht unbeweglich sind, können wir die meisten aktiven Bewegungen mit bloßem Auge kaum wahrnehmen – bis auf einige wenige bemerkenswerte Ausnahmen wie die Blattbewegung der Mimose oder der Venusfliegenfalle. Denn zum einen werden die Bewegungen häufig von kaum sichtbaren Mikroorganismen (zum Beispiel Einzellern oder Keimzellen) ausgeführt; zum anderen bewegen sich höhere Pflanzen oft extrem langsam. Um so eindrucksvoller ist es, wenn mit Hilfe einfacher optischer und technischer Mittel diese Bewegungserscheinungen sichtbar gemacht werden.
So kann man die Verlagerung der Chloroplasten (der für die Photosynthese verantwortlichen Organellen) unter dem Mikroskop beobachten. Sie weichen in vielen Pflanzen starkem, ihnen schädlichem Sonnenlicht aus, indem sie an die lichtärmeren Stellen der Zelle wandern. Auch suchen viele phototaktische Einzeller den Ort der für ihre Photosynthese zuträglichsten Lichtintensität aktiv auf, indem sie durch Geißelbewegungen dorthin schwimmen. Die begeißelte, einzellige, ungefähr ein hunderstel Millimeter lange Grünalge Chlamydomonas reinhardtii legt dabei pro Sekunde bis zum 24fachen ihrer Körperlänge zurück – bis zu 86 Zentimeter pro Stunde; die entsprechende Geschwindigkeit eines Personenwagens der gehobenen Mittelklasse wäre mehr als 400 Kilometer pro Stunde. Nicht nur die Intensität, sondern auch die Einfallsrichtung des Lichtes spielt bei dieser Bewegung eine Rolle.
Auch große Pflanzen richten sich nach dem Licht aus. So folgen im Laufe eines Tages die jungen Blütenstände von Sonnenblumen der Sonne (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1981, Seite 52), was besonders bei einem ganzen Feld eindrucksvoll anzusehen ist. Diese langsame Wachstumsbewegung ist dem Phototropismus zuzuordnen. Aber nicht nur das Licht weist dem Sproß die Richtung nach oben und der Wurzel den Weg in den Erdboden, sondern auch die Schwerkraft induziert Wachstumsbewegungen, den sogenannten Geotropismus. Die wesentliche Funktion des nach oben gerichteten Wachstums photosynthetisch aktiver Organismen ist nicht, der Sonne näher zu sein, sondern der Beschattung durch andere Pflanzen zu entgehen.
Für die räumliche Verbreitung der Art und zur Vermeidung von Konkurrenz zwischen Eltern- und Kinderorganismen ist es vorteilhaft, wenn die Nachkommen in einiger Entfernung vom Mutterorganismus aufwachsen. Der Pilz Pilobolus ("Pillenwerfer") aus der Klasse Zygomycetes erreicht das durch Überdruck. Ein kappenförmiger, knapp halbmillimetergroßer Sporenbehälter (das Sporangium) sitzt auf dem wenige Zentimeter hohen, schlauchartigen Sporangienträger des Pilzes. Dessen hoher Innendruck (Turgor) schießt das Sporangium ins Licht – mehr als einen Meter hoch und zwei Meter weit. So können die Sporen in einiger Entfernung vom Elternorganismus zu neuen Pilzen auskeimen.
Diese wenigen Beispiele zeigen, wie interessant die Bewegungsphysiologie der Pflanzen ist. Das vorliegende Buch bietet dazu einen übersichtlichen Querschnitt. Nach älterer botanischer Definition sind die Bakterien und Pilze großzügig mit in das Pflanzenreich einbezogen. Wolfgang Hensel erklärt, soweit bekannt, wie ein Reiz aufgenommen, weitergeleitet und schließlich in eine Reaktion umgesetzt wird; er beschäftigt sich auch mit dem nicht immer offensichtlichen Sinn einiger Bewegungen und gibt manche amüsante anthropomorphe Interpretation. Exkurse beschreiben bestimmte, für das Allgemeinverständnis wichtige Aspekte genauer.
Hensel hat sich als Botaniker mit einer Arbeit zur Bewegungsphysiologie habilitiert und war als Privatdozent an der Universität Bonn tätig. Die sehr schönen Illustrationen hat Elisabeth Jansen eigens für diese Neuerscheinung angefertigt.
Es gelingt Hensel in der Regel recht gut, die teilweise recht komplizierten Vorgänge hinter einer pflanzlichen Bewegung verständlich darzustellen. Zusätzliche Abbildungen hätten die Erklärungen vereinfachen können, und bei den vorhandenen wäre eine detailliertere Beschriftung hilfreich gewesen. Einige kleinere Fehler sollten in der nächsten Auflage korrigiert werden. So ist die Infrarotstrahlung, die immerhin mehr als 40 Prozent der auf die Erdoberfläche auftreffenden Globalstrahlung ausmacht, einfach vernachlässigt worden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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