Philosophie des menschlichen Bewußtseins
Daniel C. Dennett, Philosoph an der Tufts-Universität in Medford (Massachusetts), will das Geheimnis des Bewußtseins lüften. In entlegenen Winkeln von Forscher- und Philosophen-Gehirnen vermutet er Vorurteile über Bewußtsein, die er mit den Etiketten "Dualismus", "kartesisches Theater" und "kartesischer Materialismus" versieht und die er mit seiner Explanation (der Originaltitel ist "Consciousness Explained") vollständig auszurotten hofft.
Dualistisch nennt Dennett eine Auffassung, derzufolge eine Geistseele (mind) vom Gehirn unterschieden werden müsse, weil sie nicht aus gewöhnlichem, sondern aus besonderem Stoff bestehe. Der dem Philosophen René Descartes (1596 bis 1650) zugeschriebene Körper-Geist-Dualismus, den der britische Philosoph Gilbert Ryle (1900 bis 1976) als "Dogma vom Geist in der Maschine" gebrandmarkt hat, habe – so Dennett – einen defensiven Rückzug angetreten. Dagegen sieht sich der Materialismus, zu dessen Anhängern sich der Autor zählt, auf dem Vormarsch und hat die Materie zum alleinigen Stoff ausgerufen, zum Stoff, mit dem Chemie, Physik und Physiologie arbeiten. Kurzum, die "Geistseele ist das Gehirn – nicht mehr".
In der Tat, eine Wechselwirkung zwischen der res cogitans und der res extensa des Descartes scheint physikalischen Gesetzen zu widersprechen. Wie sollte denn nicht-materieller Geist materielle Hirnvorgäne beeinflussen können und umgekehrt? Dennett versucht das Dilemma aufzulösen, indem er die Geistestätigkeit als Operationen einer virtuellen Maschine im Gehirn beschreibt. Bewußtsein ist dann die Software dieser virtuellen Maschine, was an die Software-Geister des amerikanischen Psychologen Jerry A. Fodor erinnert (vergleiche dessen Artikel "Das Leib-Seele-Problem", Spektrum der Wissenschaft, März 1981, Seite 26).
Mit dem Schlagwort "kartesisches Theater" versieht Dennett die Auffassung, es gebe im Gehirn einen Ort, an dem alles zusammenkomme. Sinneseindrücke, Handlungsentwürfe und Gedanken würden auf einer einzigen Bühne zusammengeführt und böten dem Ich die Repräsentation der Welt. Einen solchen Ort gibt es nicht, muß Dennett immer wieder feststellen. Außerdem wäre diese Theaterbühne der Ort einer mentalen Trennlinie zwischen Ein- und Ausgängen des Gehirns. Hier stellt Dennett ein großes Warnschild mit der Aufschrift "kartesischer Materialismus" hin für diejenigen Neurowissenschaftler, die meinen, die Reihenfolge der Ankunftszeiten von Ereignissen an dieser kritischen Grenzlinie im Gehirn entspreche der Reihenfolge ihrer "Präsentation" in der bewußten Erfahrung.
Die altehrwürdige kartesische Theaterbühne ersetzt er durch ein zeitgemäßes Cinemaxx mit zahllosen nebeneinander herlaufenden Vorführungen. Dies ist sein Modell der "vielfältigen Entwürfe" (multiple drafts): "Alle Arten von Wahrnehmung – tatsächlich auch alle Formen des Denkens und der mentalen Aktivität – werden im Gehirn durch parallele, vielstufige Prozesse der Interpretation und Elaboration von Sinnesdaten vollzogen" (Seite 151). Zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Plätzen des Gehirns finden sich "Erzählfragmente" in allen Stadien der Korrektur. Bei näherem Hinsehen zerrinnt die wahrgenommene Einheit der Person zu einem Strom "narrativer" Fragmente.
"Manchmal erinnern wir uns an Erlebnisse, die wir nie hatten", meint Dennett und nennt solche Vorgänge orwellsche Revisionen der Erinnerung in Anlehnung an George Orwells Roman "1984", in dem ein Ministerium für Wahrheit emsig die Geschichte umschreibt. Außer dieser orwellschen gibt es die stalinistische Revision, die durch Inszenierung von Schauprozessen die Wirklichkeit verfälscht.
So kann die Erinnerung an eine vor wenigen Tagen gesehene langhaarige Frau mit Brille das Gedächtnis so verunreinigen, daß der Betrachter, der später flüchtig eine langhaarige Frau ohne Brille sieht, glaubt, diese habe eine Brille getragen. Eine solche Erinnerungsverfälschung ist à la Orwell, wenn die Frau noch ohne Brille wahrgenommen, aber mit Brille erinnert wird, jedoch à la Stalin, wenn schon bei Erscheinen der unbebrillten Frau die Gedächtnisaufzeichnung "Frau mit Brille" vorgespielt wurde (Bild).
Diese Überlegungen dienen Dennett als Haupteinwand gegen den kartesischen Materialismus. Eine Reihe verblüffender neuropsychologischer Experimente, ausführlich und brillant beschrieben, soll belegen, daß aus objektivierbaren zeitlichen Sequenzen bei den Probanden "bewußte Wahrnehmungen" entstehen, die entweder nur einen Teil der Vorgabe reproduzieren oder aber die Vorgabe in völlig neue Szenen verwandeln. Das erklärt er damit, daß ein stalinistischer Zensor in einem noch "vor dem Bewußtsein gelegenen Redaktionsraum des Gehirns" Korrekturen vornimmt.
Es werde weder von innen (mittels Introspektion) noch von außen (zum Beispiel durch neurowissenschaftliche Forschung) je möglich sein zu erkennen, ob die Gedächtnisverfälschung orwellscher oder stalinistischer Natur war (Seiten 166 bis 169). Es sei prinzipiell nicht erforschbar, ob "irgendein Moment in den Gehirnvorgängen als Bewußtsein, als Moment des Bewußtseins" (Seite 170) ausgezeichnet werden könne. Dennett lastet einigen Neurowissenschaftlern an, durch eine unvorsichtige Formulierung des "Bindungsproblems" (siehe "Bildung repräsentationaler Zustände im Gehirn" von Andreas K. Engel, Peter König und Wolf Singer, Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 42) den Eindruck zu erwecken, es gebe nur einen einzigen Abbildungsraum im Gehirn, kleiner jedoch als dieses.
Offensichtlich genügen diese Argumente Dennett nicht, "das autoritäre Gedankengebäude vom kartesischen Theater ins Wanken" (Seite 227) zu bringen. Vielmehr betrachtet er die Komplexität des Bewußtseins auch unter dem Aspekt der Evolution. Wie die über viele Generationen hinweg nahezu stagnierende Hardware des menschlichen Gehirns durch "virtuelle Drähte" erweitert werden könne, zeigt Dennett an einem Gedanken des russischen Psychologen Lew S. Wygotski (1896 bis 1934), dessen geistige Urheberschaft er allerdings verschweigt: Ein innerer Prozeß wird nach außen verlegt, wenn zum Beispiel Kinder Selbstgespräche führen und auf diese Weise ein Problem lösen, aber auch, wenn ein Mathematiker einen Bleistift nimmt, seine Gedanken aufs Papier bringt und sie wiederum seinem Gehirn zuführt (vergleiche "Kindliche Selbstgespräche und mentale Entwicklung" von Laura E. Berk, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1995, Seite 72).
In diesem Prinzip der Autostimulation sieht Dennett einen von vielen Wegen, die Hirn-Software unter der Prämisse einer unverändert bleibenden materiellen Hirnstruktur schrittweise zu verbessern. Wie auf der Turing-Maschine, dem Prototypen für alle bislang gebauten Computer, bei gleichbleibender Maschinenkonfiguration beliebig komplexe Programme installiert werden könnten, so bleibe auch die "Hardware" des menschlichen Gehirns über Jahrtausende unverändert, lediglich seine Programme würden schrittweise verbessert. Am Ende eines Evolutionsprozesses ohne die üblichen genetischen Spielregeln wäre dann die "Joyce-Maschine", eine virtuelle Maschine mit Bewußtsein, entstanden.
Das klingt aufregend, ist jedoch kaum vereinbar mit einigen neueren Forschungsergebnissen. Danach sind nämlich stets – zum Beispiel bei Lernprozessen – funktionelle mit minimalen mikrostrukturellen Änderungen auch des erwachsenen Menschengehirns innig verquickt.
Immer auf der Suche danach, neue Gespenster aus der Maschinerie des Bewußtseins zu vertreiben, wendet sich Dennett dann der Spracherzeugung zu. Einem diktatorischen "Begriffsbildner", den er in linguistischen Theorien zu finden glaubt, stellt er eine Horde ausgelassener Dämonen gegenüber, die sich gegenseitig in mannigfaltigen Versionen Konkurrenz machen, ehe irgendeine Art von Selektion ihnen ermöglicht, nach außen zu dringen.
Zwar nennt er ein solches Pandämonium vorsichtig eine Karikatur, bemerkt jedoch ganz unverblümt, daß wir als menschliche Sprecher kaum beeinflussen könnten, was die Worte mit uns machen. "Uns wird erst deutlich, was wir sagen, wenn wir gesprochen haben." Wie die Physiker den Schwerpunkt als Bezugsgröße einer Masse definieren, so sei das Selbst als "narrativer Schwerpunkt" eine ähnlich abstrahierende Vereinfachung und kein "Ding" im Gehirn. "Nicht du bist es, der spricht, sondern du bist das, was aus dir heraus spricht." Diese Umkehrung unserer tiefverwurzelten Überzeugung, wir selbst seien es, die denken und Entscheidungen treffen, muß – obschon heilsam – betroffen machen.
An dieser Stelle gibt Dennett eine Quelle seiner Inspiration preis, nämlich einige neuere belletristische Werke, führt aber im Literaturverzeichnis nicht den britisch-amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson (1904 bis 1980) auf, der solche Überlegungen schon vor langer Zeit anstellte.
Dennetts Buch ist begrüßenswerte Kritik an manchen Formen naiver Neurowissenschaft. Eher bedauerlich, aber vielleicht unvermeidbar, sind Widersprüche, die aus der Art der Kritik entstehen.
So evoziert das Modell der multiplen Entwürfe ein Ich, das einem Teil dieser Entwürfe den privilegierten Status des Bewußten erteilt. Auch Dennetts übrige Versuche, das "Ich" oder andere zentrale Kommandostellen aus dem Gehirn zu verbannen, locken neue Geister in die Maschine. Die stalinistische Gedächtnisrevision erfordert einen Editor, oder, schlimmer noch, einen Zensor "vor dem Bewußtsein" (Seite 163) fast im Sinne des Freudschen Über-Ich. Davon abgesehen ist das Attribut "stalinistisch" nicht eben geschmackvoll.
Der Titel "Consciousness Explained" (bieder mit "Philosophie des menschlichen Bewußtseins" übersetzt) provoziert. Denn man kann mit gutem Grund das Bewußtsein weiterhin als Rätsel betrachten (vergleiche "Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?" von Peter Bieri, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1992, Seite 48). Es ist auch gemogelt, wenn ein Materialist Bewußtsein zu erklären vorgibt, von dessen Existenz er nicht überzeugt sein kann.
Oder ist er es vielleicht doch? Jedenfalls vertritt Dennett – unbeabsichtigt – nicht-materialistische Standpunkte: Bewußtsein und Welt sind weitgehend ohne Zusammenhang, Bewußtsein ist nicht erforschbar. Er erzeugt sogar einen neuen Dualismus, nämlich den von Hard- und Software.
Das Buch ist auch eine grandiose neuropsychologische Geschichtentruhe. Es liest sich selbst in der deutschen Übersetzung hinreißend; denn der Text ist robust. Er übersteht es sogar, daß Fußnoten falsch numeriert sind oder fehlen (zum Beispiel Seite 213 ab Fußnote 9), ganze Abschnitte und Seiten, wie etwa die Seiten 438 bis 440 des Originals, in der deutschen Ausgabe nicht erscheinen und viele Fachausdrücke unzutreffend übersetzt werden. Ein predictor ist ein Prädiktor und kein Prädikator, ein masking stimulus ein maskierender, kein verschleierter Reiz (Seite 189). Auch ist multiple personality disorder unter der Bezeichnung "multiple Persönlichkeitsstörung" bis in die Regenbogenpresse vorgedrungen, und niemand wird die Übersetzung "Vielfältige-Persönlichkeits-Unordnung (VPU)" auf Anhieb verstehen. Als Übersetzung von folk psychology ist meist "Alltagspsychologie" und nicht "Volkspsychologie" üblich.
Dennetts Buch ist spannend, häufig ungenau und voller Zukunftsvisionen. In der Terminologie der Forschung zur künstlichen Intelligenz könnte man zur überfließenden Fülle des Buches sagen: Dennett breitet immens viel deklaratives Wissen aus, bietet jedoch wenig prozedurale philosophische Explanation, wie wir sie seit Sokrates so lieben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1995, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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