Polare Kristalle durch molekulare Selbstorganisation
Die Entdeckung eines neuen Mechanismus der Kristallisation ermöglicht die maßgeschneiderte Synthese supramolekularer Materialien mit nichtlinearen optischen Eigenschaften, die von großem technischem Interesse sind.
Beim Wort "Kristalle" denkt man üblicherweise an Mineralien und Schmucksteine. Einheitlich durchkristallisierte (einkristalline) Materialien bilden jedoch auch die Grundlage der modernen Elektronik, Optik und Mechanik. Unzählige Produkte aus Forschung und Technik – darunter ausgesprochene Massengüter – haben eine verborgene kristalline Natur; so wird mit jedem Tastendruck auf einem Personal Computer eine Fülle von Informationen in Siliciumkristallen verarbeitet.
Die heute technisch genutzten einkristallinen Werkstoffe sind chemisch durchweg sehr einfach aufgebaut: Sie bestehen aus nur wenigen Elementen, und die einzelnen Atome sind durch ein den gesamten Festkörper überspannendes Netz aus metallischen, kovalenten oder ionischen Bindungen fest miteinander verknüpft. Weitaus vielfältigere Möglichkeiten bieten jedoch Kristalle, in denen abgegrenzte Moleküle als Grundeinheiten fungieren, die sich wie Legobausteine zu komplizierten dreidimensionalen Gebilden zusammenfügen. An solchen maßgeschneiderten Konstrukten mit gezielt einstellbaren Eigenschaften wird deshalb intensiv geforscht. Dabei kombiniert man die Methoden der klassischen Molekülsynthese mit denen der modernen supramolekularen Chemie (siehe Spektrum der Wissenschaft, August 1996, Seite 62).
Raffiniert konstruierte Molekülkristalle lieferten in den letzten zehn Jahren neuartige Materialien mit interessanten magnetischen, elektrischen und vor allem nichtlinear-optischen Eigenschaften. Sie bilden die Grundlage für wichtige technische Anwendungen wie die Frequenzverdopplung oder Amplitudenmodulation von Laserlicht, holographische Speicherung von Informationen und optische Computer, die dereinst die heutigen Elektronenrechner ablösen dürften.
Die gewünschten nichtlinearen Effekte lassen sich allerdings nur dann erzielen, wenn polare Moleküle derart im Kristallgitter angeordnet werden, daß die Summe ihrer Dipole eine Netto-Polarisation ergibt. Bei der spontanen Zusammenlagerung der molekularen Bausteine während der Kristallisation ist dies im allgemeinen nicht der Fall. Eine von mir geleitete Forschungsgruppe an der Universität Bern hat jedoch einen neuen Mechanismus der Kristallbildung entdeckt, der die gezielte Synthese polarer Werkstoffe ermöglicht.
Zur Veranschaulichung diene ein einfaches Experiment. Dabei lösen wir zwei Substanzen in einer Flüssigkeit auf: eine farblose, deren Moleküle die Form dreieckiger Scheiben haben, und eine farbige, die aus zylindrischen Molekülen besteht. Die klare Lösung lassen wir langsam eindunsten. Dabei scheiden sich einheitliche farbige Kristalle aus, in denen sich die beiden Ausgangsbausteine offenbar in einer neuen Kombination zusammengefunden haben (Bild 1).
Wie diese aussieht, läßt sich durch Röntgenstrukturanalyse ermitteln. In unserem Falle stellen wir fest, daß sich die dreieckigen Scheiben zu Säulen-Prismen übereinandergestapelt und diese sich zu einer Bienenwabenstruktur aneinandergelagert haben; in regelmäßiger Weise werden dabei durch Auslassung einzelner Säulen an deren Stelle kettenförmig aufgereihte Zylinder eingefügt (Bild 2). Dies ist die logisch erscheinende Architektur einer dichtesten Packung von Scheiben und Zylindern geeigneter relativer Größe.
Zunächst einmal haben wir damit nichts anderes geschaffen als eine jener faszinierend schönen Strukturen, die das Markenzeichen der supramolekularen Chemie darstellen. Ein interessanter neuer Aspekt ergibt sich jedoch, wenn die ausgewählten Zylinder dipolar sind, also chemisch unterschiedliche Enden haben. Dann stellt sich die Frage, welche Orientierung sie in den Kanälen annehmen.
Der Ausrichtungsmechanismus
Im Normalfall würde man eine zufällige Ausrichtung erwarten, bei der, über den gesamten Kristall gemittelt, ebenso viele Dipole nach oben wie nach unten weisen. Unterscheiden sich die beiden Enden der Zylinder jedoch in Art oder Ausmaß der Wechselwirkung miteinander, so bewirkt ihre gegenseitige Anziehung oder Abstoßung, daß diejenige Orientierung, bei der überwiegend Enden mit anziehender Wechselwirkung aneinanderstoßen, gegenüber der anderen bevorzugt ist. Wie entsteht dadurch ein polarer Kristall?
Bezeichnen wir die beiden Enden mit vorn (v) und hinten (h), so gibt es drei mögliche Wechselwirkungen: vorn-vorn (vv), vorn-hinten (vh), und hinten-hinten (hh). Intuitiv würde man erwarten, daß die Wechselwirkung vorn-hinten entscheidend ist und besonders stark anziehend sein sollte. Dies reicht jedoch nicht aus. Unter dieser Bedingung würden sich die Dipole zwar jeweils gleichsinnig zu längeren Ketten in den Kanälen anordnen – zum Beispiel vhvhvhvh...vh; diese könnten jedoch in verschiedenen Kanälen gegenläufig orientiert sein, so daß sich ihre Polarisierungen insgesamt ausmitteln.
Tatsächlich entscheidet deshalb der Unterschied zwischen der Wechselwirkung vorn-vorn und hinten-hinten über das Ausmaß der Polarität des Gesamtkristalls. Der Grund läßt sich mit etwas Nachdenken durchaus verstehen. Angenommen, der Keimkristall enthalte die gleiche Anzahl von Ketten vhvhvhvh... und hvhvhvhv.... Ist nun zum Beispiel hh sehr viel stärker abstoßend als vv, werden alle Ketten vhvhvhvh... nur ganz selten durch einen anders herum orientierten Baustein (hv) abgebrochen, weil es dabei zu der stark abstoßenden Wechselwirkung hh kommt. Dagegen lagert sich an eine Kette hvhvhvhv... relativ oft ein Baustein mit der entgegengesetzten Orientierung (vh) an, da sich die beiden v-Enden nur minimal abstoßen. Aus diesem Grunde werden Ketten vhvhvhvh... sehr getreu fortgesetzt, solche vom Typ hvhvhvhv... während des Wachstums dagegen in vhvhvhvh... überführt.
Insgesamt überwiegt unter diesen Umständen also die Orientierung vh. Aus der geschilderten Überlegung ergibt sich zugleich, daß die Anordnung der ersten Zylinder in den Kanälen – wiederum im Widerspruch zur Intuition – für die bevorzugte Ausrichtung der Dipole im Gesamtkristall keine Rolle spielt. Die rechnerische Behandlung des Problems nach den Gesetzen der Thermodynamik liefert eine ähnliche Gleichung, wie sie 1935 bereits Walter Schottky (1886 bis 1976) für Punktdefekte in Kristallen abgelei- tet hat.
Als nächstes gilt es zu bedenken, daß die Kanäle in beide Richtungen wachsen und nicht nur, wie bisher stillschweigend angenommen, in eine: An die ersten Zylinder lagern sich sowohl oben als auch unten weitere Dipole an. Wenn man die bisherigen Überlegungen analog anwendet, kann man sich allerdings leicht klarmachen, daß sich dadurch in beide Richtungen der Kanalachse Polarität ausbildet, wobei die in der oberen Hälfte entgegengesetzt zu derjenigen im unteren Teil ist. Der Kristall insgesamt ist also unpolar; wenn man ihn jedoch in der Mitte zerteilt, erhält man zwei polare Hälften.
Kristalle wachsen aber nicht nur in Richtung der Kanäle, sondern auch senkrecht dazu. Die Orientierung des ersten Dipols bei der Bildung eines neuen Kanals ist wiederum rein zufällig. Dasselbe gilt weitgehend auch für den Ort, an dem das Querwachstum an der Außenseite existierender Kanäle beginnt. Wegen dieser beiden Faktoren sollte sich die ungleiche Verteilung der beiden Dipol-Orientierungen nur innerhalb eines Doppelkegels mit dem Kristallkeim im Zentrum einstellen (Bild 3). Daß dies zutrifft, konnten meine Mitarbeiter und ich durch eine stochastische Simulation bestätigen; den experimentellen Beweis lieferte Michael Wübbenhorst von der Universität Delft durch pyroelektrische Mikroskopie – eine neue Untersuchungsmethode, mit der sich die Polarität einer Probe ortsaufgelöst darstellen läßt.
Als scheibenförmigen Baustein verwenden wir die organische Verbindung Perhydrotriphenylen; darin sind drei Kohlenstoff-Sechsecke sternförmig um ein viertes angeordnet. In die Kanäle des daraus gebildeten Wabengitters konnten wir bisher schon über 40 verschiedene Moleküle als Zylinder einlagern und dabei Kristalle mit nichtlinear-optischen Eigenschaften erzeugen, die Effekte wie die Frequenzverdopplung zeigten. Außerdem hatten sie die Fähigkeit, sich bei rascher Erwärmung elektrisch aufzuladen. Diese Pyroelektrizität läßt sich zum Beispiel für Wärmesensoren nutzen. In neuesten Untersuchungen konnten wir schließlich auch einen lichtinduzierten Ladungstransport entlang der Kanäle nachweisen. Als Folge davon läßt sich durch Beleuchtung der Brechungsindex lokal ändern – Grundlage für die holographische Speicherung von Informationen.
Die Selbstorganisation von nur zwei molekularen Bausteinen – Scheiben und dipolaren Zylindern – bietet somit erstmals einen einfachen Zugang zu Werkstoffen mit vorhersagbaren polaren Eigenschaften. Die spontane Ausbildung von Polarität beim Kristallisieren eröffnet eine Fülle von synthetischen Möglichkeiten, die zur gezielten Optimierung optischer und elektrischer Phänomene dienen können und für die Materialforschung von unschätzbarer Bedeutung sein dürften.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 25
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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