Polymere - beim Schlängeln ertappt
In Polymerschmelzen sind die einzelnen Kettenmoleküle wie Spaghetti heillos ineinander verknäuelt. Pierre-Gilles de Gennes von der Universität Orsay (Physik-Nobelpreis l991)erkannte 1971 als erster, daß in einem solchen Knäuel keine normale Diffusion möglich ist. Um die besonderen Fließeigenschaften von Polymerlösungen oder -schmelzen zu erklären, entwickelte er das sogenannte Reptationsmodell (nach lateinisch reptare, kriechen). Danach ist jede Kette in dem Geflecht der anderen wie in einer Röhre gefangen und vermag sich nur schlangenartig durch diesen Kanal zu winden, indem sie ihrer eigenen Kontur folgt und mit der Spitze in vorhandene oder sich öffnende Lücken vorstößt.
Zwar ist diese Vorstellung einleuchtend und allgemein anerkannt, war aber bisher nicht experimentell zu beweisen: Auch mit den raffiniertesten mikroskopischen Techniken ließ sich in einem Polymerknäuel die Bewegung einer einzelnen Kette nicht sichtbar machen.
Doch nun ist es Thomas P. Russell vom Almaden-Forschungszentrum der Firma IBM in San Jose (Kalifornien) und etlichen über die USA verstreuten Kollegen gelungen, in einem pfiffigen Experiment die Reptation von der normalen Diffusion zu unterscheiden ("Nature", Band 365, Seite 235). Dazu brachten sie zwei geschmolzene Polystyrolproben zusammen, die sie auf komplementäre Weise markiert hatten: In der einen waren im ersten und letzten Viertel jeder Kette, in der anderen dagegen jeweils im Mittelabschnitt alle Wasserstoffatome durch das schwerere Isotop Deuterium ersetzt. Die beiden Kettentypen seien hier kurz als DHD und HDH bezeichnet.
Bei einer Temperatur von 118 Grad Celsius begannen die Polymere, von einer Probe in die andere überzutreten. Nach verschiedenen Zeiten zwischen 30 Minuten und 48 Stunden ließen die Forscher die Schmelze erstarren, um den momentanen Zustand einzufrieren, und ermittelten in einem Profil senkrecht zur Kontaktfläche die Verteilung der Deuterium- und Wasserstoffatome. Als Analyseverfahren verwendeten sie die sogenannte Sekundär-Ionen-Massenspektrometrie: Sie bombardierten das Polymer mit Sauerstoffatomen und maßen die herausgeschlagenen Wasserstoff-Ionen.
Die Idee hinter dem Experiment war, daß die Moleküle, wenn sie wirklich schlangenartig kröchen, mit dem Ende zuerst die Grenzfläche überqueren müßten (Bild auf Seite 23). Dabei würden die DHD-Ketten mit ihrem deuterierten Teil in die HDH-Probe und die HDH-Ketten mit dem H-Ende in die DHD-Probe dringen. Dadurch verschöbe sich beiderseits der Kontaktfläche die in den Proben ursprünglich homogene Gleichverteilung von Deuterium- und Wasserstoffatomen; denn auf der HDH-Seite gingen leichte Wasserstoffatome verloren und kämen Deuteriumatome hinzu, so daß dieses Isotop das Übergewicht erhielte, während auf der DHD-Seite genau das Umgekehrte geschähe. Bei normaler Diffusion bliebe die Verteilung dagegen gleichförmig.
Tatsächlich maßen Russell und seine Kollegen die erwartete Ungleichverteilung. Sie ließ sich nach etwa zwei Stunden erstmals nachweisen, erreichte nach 18 Stunden ihr Maximum und war nach 48 Stunden wieder verschwunden. Dieser Zeitverlauf stimmt gut mit Berechnungen überein, wonach die Reptationszeit – nach der sich eine Kette im Mittel um ihre volle Länge weitergeschlängelt hat – für Polystyrol der verwendeten Kettenlänge bei 118 Grad Celsius knapp 40 Stunden betragen sollte. (G. T. )
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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