Direkt zum Inhalt

Medizin und Ethik: Priorisierung im Gesundheitswesen- Anlässe, Methodik und ethische Positionen


Medizin ist primär nicht dazu da, Geld zu sparen oder sich als Wachstumsbranche zu etablieren, wie die gegenwärtige öffentliche Diskussion darum gelegentlich glauben machen will. Sie ist vielmehr einer der stets kostspieligen Versuche einer Gesellschaft, das menschliche Leben zu erhalten oder zu verlängern und krankheitsbedingte Leiden so weit wie nur möglich und für möglichst alle zu vermindern.

Die Aufwendungen für medizinische Versorgung stehen also, unabhängig von jedem utilitaristischen Kalkül, im Dienste eines Grundrechts, und zwar des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 (2) Grundgesetz). Spezifischer formuliert es das Sozialgesetzbuch in Paragraph 4 SGB I: "Wer in der Sozialversicherung versichert ist, hat... ein Recht auf... die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit...".

Unser Sozialgesetzbuch fordert in

Paragraph 70 SGB V eine "bedarfsgerechte und gleichmäßige" Versorgung der Versicherten; es ist gleichzeitig an den Grundsätzen der medizinischen Notwendigkeit, des diagnostischen und therapeutischen Nutzens und der Wirtschaftlichkeit orientiert. Was steht nun aber hinter den Normen der Gleichmäßigkeit in der Versorgung sowie Bedarfsgerechtigkeit? Und was fundiert sie?

Ein Sozialversicherter ist Mitglied einer sogenannten Solidargemeinschaft, einer Gemeinschaft also, die auf dem Grundsatz einer am jeweiligen Bedarf orientierten Umverteilung von Leistungen basiert. Doch ist der Begriff Versicherung irreführend. Versicherungen sind im allgemeinen nach dem Äquivalenzprinzip organisiert; das heißt, die Höhe des Beitrags richtet sich nach der Höhe des Risikos der kleinen und möglichst homogenen Gruppe, der man zugerechnet wird. So zahlt in der Privatkrankenversicherung, die genau auf diesem Prinzip beruht, jeder für sich, eine Frau mehr als ein Mann, ein Älterer mehr als ein Jüngerer, ein Kranker – wenn von der Versicherung überhaupt angenommen – mehr als ein Gesunder.

Eine Solidargemeinschaft kennt dagegen nur das mittlere Risiko aller ihrer inhomogenen Mitglieder; in der Gesetzlichen Krankenversicherung sind dies Frauen und Männer, Junge und Alte, Kranke und Gesunde, Alleinstehende und beliebig große Familien. In steuerfinanzierten Gesundheitssystemen, wie etwa in Schweden, umfaßt die Solidargemeinschaft alle Steuerzahler und die von ihnen Abhängigen.

Solidargemeinschaften orientieren sich nicht nur an einem Menschenrecht, nämlich dem Anspruch auf Hilfe in der gesundheitlichen Not, sondern sie kennen auch eine Menschenpflicht, die Pflicht zu einem Mehr an Solidarität auch mit Personen, die der Solidarische nicht kennt:

Der Reiche, Gesunde, Junge, Alleinstehende kann und soll mehr leisten als der arme Kranke. Hinter der Pflicht – und Bereitschaft – zur Solidarität steht das Ideal einer ausgleichenden Gerechtigkeit: Nicht jeder bekommt dasselbe, sondern jeder, der mehr braucht, bekommt auch mehr. Und mit "jeder" ist buchstäblich jedes Mitglied der Solidargemeinschaft gemeint: Es gibt keine Diskriminierung etwa nach Alter, Geschlecht, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit oder Wohnort.

Nach der ausgleichenden Gerechtigkeit, die ich für das wichtigste Prinzip halte, geht es auch um Gleichheit. Bei gleicher Indikation soll gleich oder, wie es im Sozialgesetzbuch V heißt, "gleichmäßig" behandelt werden – jedenfalls dem Grundsatz nach und ohne ablehnende Entscheidungen der Patienten zu mißachten.

Erst im Zusammenwirken von ausgleichender Gerechtigkeit und Sorge für Gleichheit verwirklicht sich nach unserer bisherigen Vorstellung soziale Sicherheit – ein wesentlicher Faktor der sozialen Kohäsion unserer Gesellschaft.

Die Wirklichkeit der Versorgung sieht indes in vielen Bereichen anders aus. Bedarfsgerechtigkeit und Gleichmäßigkeit scheinen nicht ausreichend, jedenfalls nicht in dem uns möglichen Maße verwirklicht. Dies gilt unter anderem für die ambulante, wohnortnahe Versorgung chronisch Kranker und für die medizinische Rehabilitation berufstätiger und alter Mitbürger.

Einerseits ist eine Überversorgung festzustellen: Zu oft werden annähernd Gesunde kostspielig untersucht und behandelt, und es werden bei Gesunden und Kranken zahlreiche annähernd unwirksame Verfahren angewandt und von den Kostenträgern bezahlt.

Zweitens gibt es eine Fehlversorgung: Es werden wirksame diagnostische und therapeutische Verfahren bei Kranken angewandt, bei denen sie nicht indiziert sind.

Drittens müssen wir auch in Deutschland eine nennenswerte Unterversorgung registrieren, besonders von chronisch Kranken. Nur eine Minderheit der Diabetiker, Rheumatiker oder Lungenkranken erfährt die Behandlung, welche die jeweiligen Fachmediziner für notwendig halten. Dies gilt besonders auch für die rehabilitative Versorgung, zum Beispiel von chronisch Rheumakranken oder Schlaganfallopfern.

Ich bin sicher, daß die Unterversorgung, also Versäumnisfehler, die Über- und Fehlversorgung, also Leistungsfehler, übersteigt. Sicherlich könnten sich erhebliche und dringlich zu realisierende Einsparungspotentiale ergeben, wenn Leistungsfehler vermieden werden. Diese dürften in verschiedenen Bereichen aber nicht ausreichen, um den Ausgleich der Versäumnisfehler zu finanzieren. Verschärft wird diese Situation dadurch, daß gegenwärtig die Finanzmittel für verschiedene Leistungsbereiche tatsächlich gekürzt werden oder nur noch in sehr eingeschränktem Maße steigen dürfen. Die Mittel für die medizinische Rehabilitation etwa sind per Gesetz im wesentlichen auf den Stand von 1993 zurückgeführt worden.


Die Notwendigkeit, Priorisierung zu diskutieren

So wird sehr deutlich, wie außerordentlich wichtig eine öffentliche Diskussion um Priorisierung inzwischen ist. In der medizinischen Versorgung versteht man unter Priorisierung die ausdrückliche Feststellung, daß bestimmte Patientengruppen, Verfahren oder Indikationen vor anderen den Vorrang haben. Ihr Gegenteil wird mit Posteriorisierung bezeichnet.

Stehen mehr als zwei Patientengruppen, Verfahren oder Indikationen zur Diskussion, bedeutet Priorisierung, daß eine Rangreihe aufgestellt werden muß: Dies ist gewissermaßen die Essenz. Am oberen Ende der Rangreihe steht das, was nach Datenlage und dem Konsensus der Beteiligten als unverzichtbar erscheint. Nach unten zu nimmt die Bedeutung der Behandlungsanlässe, Verfahren oder Indikationen ab; am Ende steht das, was keinen Nutzen beziehungsweise mehr Schaden als Nutzen stiftet.

Um Priorisierung wird in anderen Ländern schon seit Jahren gerungen, am längsten, seit etwa einer Dekade, wohl in den Niederlanden. Entsprechende Diskussionen sind auch aus dem Staat Oregon in den USA, aus Schweden, Großbritannien und Neuseeland bekannt; zum Teil liegen schon Erfahrungen vor, wie etwa in Oregon, wo es gelang, alle möglichen – präventiven, kurativen und rehabilitativen – Versorgungsleistungen in eine einzige Rangfolge zu bringen. Bei uns hat die Diskussion gerade erst angefangen, und sie ist längst überfällig.

Nun gibt es indes auch einfach zu beurteilende Situationen. In der Rehabilitationsmedizin, die ich hier beispielhaft betrachten möchte, ist es wie in anderen Bereichen: Müssen Prioritäten gesetzt werden, wird man Genesene, die einer Rehabilitation nicht mehr bedürfen, und Verfahren, die sich als unwirksam herausgestellt haben, leicht ausmustern können. Schwieriger wird eine klare Zuordnung innerhalb der Rangreihe in der Zwischenzone, wo definitiv Kranken mit den gegebenen rehabilitativen Mitteln mehr oder weniger geholfen werden kann oder wo an sich wirksame rehabilitative Verfahren uns bei bestimmten Patientengruppen den Zielen der Rehabilitation nur mehr oder weniger näher bringen. Genau in diesem Bereich wird es darauf ankommen, Prioritäten beziehungsweise Posterioritäten festzustellen, also Wichtigeres von Unwichtigerem zu unterscheiden.

Jede gesundheitliche Versorgung verfolgt bestimmte, oft auch sozialrechtlich vorgegebene Ziele. Sie soll nicht nur wirksam, sondern nützlich, zweckmäßig sein. Und zweckmäßig ist in der Medizin, was überzufällig häufig, deutlich oder dauerhaft zum gewünschten Ziel führt.

Im Falle der Rehabilitation durch die Gesetzliche Rentenversicherung (RV) sind die Ziele rechtlich eng normiert: Die RV erbringt rehabilitative Leistungen, "um Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern" (Paragraph 9 SGB VI).

Doch individuelle Rehabilitationsziele müssen nicht mit den gesetzlich normierten übereinstimmen. In einem solchen Fall könnte zwar eine Wirksamkeit der Rehabilitation gegeben sein – zum Beispiel in einem meßbaren Erholungseffekt –, nicht aber die geforderte Zweckmäßigkeit. Ähnliche Konflikte sind im klinischen Bereich möglich: Vielleicht bessert eine Rehabilitation biomedizinische Meßgrößen einer Krankheit wie die Blutsenkungsgeschwindigkeit oder den Blutfettanteil, aber dies verbessert nicht gleichzeitig oder später die erwerbsbezogene Leistungsfähigkeit.

Immer wieder ist zu hören, daß Priorisierung nichts anderes sei als ein verschämtes Synonym für Rationierung. Ich beurteile dies anders, auch wenn Knappheit an Ressourcen in der medizinischen Versorgung heute Priorisierung nahelegt: Selbst in Zeiten vollständigen Mangels oder Überflusses könnte man Wichtigeres von Unwichtigerem unterscheiden. Rationierung folgt ausschließlich einem Gebot der Not. Niemand wird sie verordnen wollen, ohne durch Knappheit dazu gezwungen zu sein. Priorisierung hingegen antwortet auch auf ein Gebot der Vernunft. Weil sie sich auf das Wesentliche konzentriert, bewirkt sie auch eine Rationalisierung der Medizin, das heißt sie aktiviert Vernunft- und Wirtschaftlichkeitsreserven. Zudem kann Priorisierung Entscheidungen zur Finanzierung und Rationierung im Gesundheitswesen vorbereiten. Möglicherweise kann sie den Druck, rationieren zu müssen, mindern. Zusätzlich klärt sie das Konzept einer jeden Rationierung: Man sollte diesen Begriff also nur dort anwenden, wo – im Wortsinne – notwendige Leistungen vorenthalten werden.


Ein allgemeines Konzept und Methoden zur Priorisierung

Das Konzept, das ich hier vorstellen möchte, orientiert sich im wesentlichen an Überlegungen, Diskussionen und Verfahren, die andernorts entwickelt und genutzt worden sind. Die zu klärende Vor- oder Nachrangigkeit von Patientengruppen, Verfahren oder Indikationen gründet sich auf Vergleiche, die auf bestimmten, aber heterogenen Kriterien beruhen. Sie entstammen unterschiedlichen Referenzsystemen, Wissenschaftstraditionen und Lebenswelten.

Ich möchte das Konzept in sieben Schritten entwickeln und wiederum mit Beispielen aus dem Gebiet der medizinischen Rehabilitation illustrieren.

Schritt 1: Methoden und Ergebnisse von Priorisierung sind grundsätzlich abhängig von ethischen Grundpositionen. In der Bundesrepublik nimmt die Zahl derjenigen zu, die bei der Neuordnung der durch die Gesetzliche Krankenversicherung finanzierten gesundheitlichen Versorgung die Autonomie und "Eigenverantwortung" "gesundheitsmündiger" souveräner Versicherter gestärkt sehen möchten. Komplementär dazu wird unter dem Motto "Abschied vom Sozialstaat" eine "Kundenorientierung statt Rationierung" der Medizin gefordert.

Dieses Postulat steht in erheblicher Spannung zu der traditionellen ärztlichethischen Bindung, welche – paternalistisch – das Wohl einzelner Kranker in den Vordergrund stellt. Es steht jedoch ebenso in Spannung zu noch gültigen sozialethischen Werten und sozialrechtlichen Normen. Bisher zielt das Sozialrecht im wesentlichen – noch – auf die sozialstaatliche "Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit" (Paragraph 1 SGB I) unter den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität.

Ich schlage vor, an den bisher geltenden sozialen Werten und Normen in vollem Umfang festzuhalten. Wer dies für unzeitgemäß hält, muß angeben, in welcher Richtung und in welchem Ausmaß er Grundgesetz und SGB I verändern möchte, und dies begründen können.

Die Prioritäten-Kommission des schwedischen Parlaments, die kürzlich ein neues, auf ethischen Richtlinien basierendes Gesetz über Prioritäten im Gesundheitswesen verabschiedet hat, nennt in abfallender Bedeutung "drei Prinzipien, auf die Priorisierung gegründet sein sollte": das Prinzip der unantastbaren menschlichen Würde, das Prinzip von Bedarf und Solidarität sowie das Prinzip der Kosteneffizienz. Sie führt aus: "Respekt vor der Autonomie und Integrität eines Patienten ist wichtig, aber die Anwendbarkeit des Autonomieprinzips für eine Priorisierung ist begrenzt." Interessant ist, daß die Schweden das Prinzip der Kosteneffizienz einbezogen haben, wenn auch erst an dritter Stelle. Es geht darum, eine "vernünftige Relation zwischen Kosten und Nutzen anzustreben, gemessen an einer verbesserten allgemeinen Gesundheit und einer höheren Lebensqualität".

Schritt 2: Die technischinstrumentell definierten Verfahren und Programme eines Versorgungsbereiches sollten sich an dessen Aufgaben und Zielen orientieren.

Diese sind nun im Bereich der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung wünschenswert deutlich formuliert. Es ist zu hoffen, daß sie auch für andere Versorgungsbereiche, etwa die Transplantationsmedizin und die Primärversorgung, so klar und operational definiert werden können, daß sie der später notwendigen Effektivitätsbestimmung eine sichere Basis geben. Wenn nicht klar ist, welche Ziele in einem Versorgungsbereich verfolgt werden, wird es unmöglich sein, die in ihm erreichte Zweckmäßigkeit zu bestimmen.

Diese Fokussierung schließt keineswegs aus, daß ein Versorgungsbereich und seine Leistungen weitere, vor allem nichttechnische Aufgaben und Funktionen zu erfüllen haben, daß dort weitere, vor allem humane Leistungsansprüche gestellt werden müssen. Ausdrücklich haben wir solche aus der Diskussion über Priorisierung ausgenommen. Es ist allerdings darauf zu achten, daß Empfehlungen zur Priorisierung die "humane Krankenbehandlung", wie sie ebenfalls in Paragraph 70 SGB V gefordert wird, nicht wegrationieren.

Schritt 3: Innerhalb des gewählten ethischen Rahmens und des jeweils festgestellten Versorgungsauftrages ist dann die aktuelle beziehungsweise zu erwartende Krankheitslast von Personengruppen qualitativ und quantitativ zu vergegenwärtigen. Auch dies geschieht am leichtesten innerhalb eines Versorgungssektors und in jedem wieder innerhalb einer sogenannten Indikationsgruppe.

Dabei müssen wir auch über unser Verständnis von Krankheit sprechen.

Ist ein Schönheitsfehler für sich genommen eine behandlungsbedürftige Erkrankung? Welchen Rang nimmt Kinderlosigkeit ein, wenn Prioritäten gesetzt werden müssen? Ist schon der besorgte Gesunde ein Fall für Rehabilitation, ist es der "sozial Belastete"?

Keine Rolle sollte nach meiner Überzeugung die Ursache einer Erkrankung spielen. Selbstverursachte Krankheiten bedürfen nach vorherrschender ärztlicher und ethischer Auffassung der gleichen Versorgung wie jene Krankheiten, die uns nach dem Zufallsprinzip der Natur heimsuchen. Ebensowenig sollten Kranke mit seltenen Krankheiten nur aufgrund dieses epidemiologischen Umstandes nachrangig behandelt werden.

Die Aufgabe wäre nun, Gruppen und Untergruppen von Kranken in eine Rangreihe nach Schweregrad und Prognose zu bringen. Dies erfordert operationale Definitionen, indem man etwa die Lebenserwartung in Jahren berücksichtigt und die Lebensqualität.

Schritt 4: Mit der Abstufung nach Schweregrad, Stadium und Prognose von Erkrankungen ist es allein nicht getan; zusätzliche, entscheidende Kriterien sind der Versorgungsbedarf und die Dringlichkeit der Indikationen. Der Bedarf ist abzuleiten aus der Betrachtung von gesundheitlicher Störung und der Möglichkeit zur Hilfe. Eine schwere Gesundheitsstörung, der nicht abgeholfen werden kann, macht Forschung erforderlich, und sie konstituiert einen Bedarf an mitmenschlicher Zuwendung und Begleitung, nicht aber einen Versorgungsbedarf in dem hier gemeinten technischinstrumentellen Sinne. Es wäre also zu prüfen, ob den anscheinend Bedürftigen tatsächlich mit rehabilitativen Mitteln zielgerichtet und wirksam geholfen werden kann.

Hier ergibt sich eine entscheidende Frage in der Priorisierung, nämlich die Abschätzung der Zweckmäßigkeit einer Intervention. Diese beruht teils auf klinischen und – im Falle der Rehabilitation – administrativen Erfahrungen. Andererseits nutzen wir die in der wissenschaftlichen Literatur dokumentierten Kenntnisse anderer. Wir wissen, wie prinzipiell begrenzt und auch trügerisch eigene Erfahrungen sind, und daher wird man sich vor allem an die Ergebnisse klinischer Studien halten müssen.

Nun kommt es in der Priorisierung besonders auf den Vergleich zwischen unterschiedlichen Verfahren, Patientengruppen und Indikationen an. Dieser Vergleich wird nur möglich sein, wenn drei Voraussetzungen gegeben sind: Es bedarf erstens einheitlicher Kriterien, um die Güte von einzelnen Studien zu beurteilen. Von ihr hängt die Qualität der Evidenz ab. Gibt eine Studie eine starke oder schwache Evidenz? Hierfür ist unter anderem zu prüfen, wie gut eine Studie angelegt war und wie gut somit ihr Ergebnis gegen systematische Verzerrungen, das Wirken von Mitursachen und zufällige Einflüsse gesichert war.

Es bedarf zweitens einheitlicher Ergebniskriterien. Diese müssen adäquat, also auf das Ziel Erwerbsfähigkeit und Leistungsvermögen bezogen sein und nicht etwa darauf, den Cholesterinspiegel zu senken oder die Blutsenkungsgeschwindigkeit zu beeinflussen. Relevant sind sie, wenn sie das erwerbsbezogene Leistungsvermögen der Rehabilitanden verläßlich zu kennzeichnen und vorherzusagen vermögen.

Ist es ein ethisches Problem, daß der gesetzlich normierte Zweck der Rehabilitation aus der Sicht der direkt Beteiligten etwas Heteronomes ist, jedenfalls sein kann? Zu diesen Beteiligten rechne ich die Haus- und Krankenhausärzte, die Rehabilitationskliniker so- wie vor allem die Rehabilitanden und Versicherten selbst. Die Ziele ihrer Rehabilitation sind von ihnen nicht autonom gewählt, sondern sie sind ihnen vorgegeben und können ihren eigenen durchaus widersprechen.

Dies brächte das Problem mit sich, daß die "adäquaten" Indikatoren eines Rehabilitationserfolges die Ziele etwa der Rehabilitanden, aber auch der auf ihr Wohl verpflichteten Ärzte verfehlen könnten. Hier liegt offenbar ein Konflikt zwischen individual- und sozialethischen Normen vor, zwischen dem Willen und Wohl des einzelnen Kranken beziehungsweise Antragstellers und den auch rechtlich normierten Aufgaben und Zielen einer sozialen Institution.

Daß dieser Konflikt heute stärker gespürt wird als früher ist richtig – besonders dort, wo man der die Institution tragenden Gemeinschaft, etwa der Rentenversicherung, als Pflichtmitglied angehören muß. Dennoch wird keiner zur Rehabilitation gezwungen, sondern jeder einzelne beantragt sie unter dem Eindruck einer Gesundheitsstörung, und eine Heilbehandlung kann versagt oder gewährt werden – zu den Bedingungen, die bekannte Gesetze und Verwaltungsvorschriften vorgeben.

Drittens schließlich bedarf es einheitlicher Effektmaße, um die Zweckmäßigkeit konkurrierender Verfahren miteinander zu vergleichen. Solche Effektmaße stellt die klinische Epidemiologie heute in befriedigender Anzahl und Qualität zur Verfügung, zum Beispiel die sogenannte number needed to be treated, also die Zahl, die nötig ist, um einen ungünstigen Verlauf abzuwenden. So macht es einen Unterschied, ob ich 10 Patienten oder 100 oder 1000 auf eine bestimmte Weise behandeln muß, um ein einziges unerwünschtes Ereignis, etwa das Eintreten von Erwerbsunfähigkeit, abzuwenden oder zeitlich wenigstens hinauszuschieben.

Schritt 5: Selbstverständlich wird man sich um das Risiko- und Nebenwirkungsprofil der (auch rehabilitativen) Verfahren kümmern müssen. Wenn Rehabilitation wirksam ist, hat sie, wie alles in der Medizin, unerwünschte Effekte. Wir wissen zu wenig über die gesundheitliche und sozialmedizinische Wirksamkeit der medizinischen Rehabilitation. Eine Untersuchung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger fand für die letzten zehn Jahre nicht mehr als 25 kontrollierte rehabilitationsklinische Studien. Ich halte es auch für ein ethisches Problem, sich dort nicht empirische Evidenz zu verschaffen, wo dies leicht möglich (gewesen) wäre. Wir wissen also wenig über die erwünschten Wirkungen von Rehabilitation, aber noch weniger wissen wir über ihre unerwünschten Wirkungen. Diese könnte man gerade für die Gruppe der leicht Erkrankten annehmen.

Schritt 6: Als nächstes wird man den notwendigen Aufwand, die direkten und indirekten finanziellen Kosten berücksichtigen müssen. Bei gleich zweckmäßigen Verfahren wird man das kostengünstigere, bei vorgegebenen Mitteln das zweckmäßigere wählen. Auch hierüber haben wir so gut wie keine Kenntnisse, jedenfalls wissen wir fast nichts über die realen Kosten von Rehabilitation. Soweit ich sehe, gibt es auch keine Studien zu ihren Kosten-Nutzen-, Kosten-Wirksamkeits- oder Kosten-Nutzwert-Relationen. Am Rande weise ich darauf hin, daß solche Analysen mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden sind, die größer zu sein scheinen als die der Effektivitätsabschätzungen.

Schritt 7: Nun wird man sich fragen müssen, wie man den Erwartungen und Präferenzen der Kranken Geltung verschaffen kann. In anderen Ländern sind verschiedene Verfahren – wie Befragungssurveys, qualitative Studien und Bürger-Jurys – erprobt worden. Dennoch bleibt es im Kern dabei: Priorisierung ist ein paternalistischer Akt, getragen von den Überzeugungen der Verantwortlichen in den Institutionen, es selbst in der ihnen übertragenen Sorge um das Wohl anderer besser zu wissen. Das ist im Grundsatz nicht zu ändern. Eine Diskussion über Priorisierung ist primär jenen anzuvertrauen, denen der Gesetzgeber und die Selbstverwaltungen die Strukturverantwortung für einzelne Versorgungsbereiche zugesprochen haben. Jedenfalls wird man ihnen diese Verantwortung nicht einfach durch Meinungsumfragen, Beiräte oder anderes abnehmen können.

Man kann sie ihnen jedoch erleichtern: Weltweit haben Beispiele gezeigt, daß es wesentlich, ja daß es notwendig ist, die verschiedenen Gruppen von Betroffenen zu informieren, von ihnen zu lernen, sie an Entscheidungen zu beteiligen, ihre Reaktionen wahrzunehmen und diese in der weiteren Entwicklung zu berücksichtigen.


Schlußfolgerung

Es wird also das oberste Priorität haben, was – in Übereinstimmung mit definierten ethischen Grundsätzen und in Abstimmung mit den Präferenzen der Betroffenen – am deutlichsten, sichersten und kostengünstigsten zum gewünschten Erfolg führt. Dem wird jeder sofort zustimmen können.

Schwieriger ist es im unteren Bereich der angedeuteten Skala: Wann ist die Grenze erreicht, unterhalb derer man ein Verfahren, eine Indikation ganz aus der solidarischen Finanzierung ausnehmen möchte? Besonders hier schiene es mir sinnvoll, von Gesundheitsbewußtsein, privater Krankenversicherung und – komplementär dazu – von Kundenorientierung zu reden.

Dabei ist auch die Reflexion über unser Verständnis von Krankheit besonders wichtig. In der Diskussion, die in den Niederlanden geführt wurde, hat als nachgeordnetes Kriterium eine Rolle gespielt, welche Versorgungsleistungen der individuellen Verantwortung und Bezahlung überlassen sein sollten. Auch wir kennen das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, bisher besonders im Bereich der Sozialhilfe. In der Gesetzlichen Krankenversicherung und Rentenversicherung ist von Eigen- und Mitverantwortung sowie Mitwirkungspflicht die Rede. In der Krankenversicherung ist der angedeutete Weg bereits unter anderem durch den Verordnungs-Ausschluß einiger Arznei-, Heil- und Hilfsmittel beschritten. Diese richten sich gegen weit verbreitete oder rasch vorübergehende "geringfügige Gesundheitsstörungen", sind von geringem oder umstrittenen Nutzen oder verursachen nur geringfügige Kosten (Paragraph 34 SGB V). Hier scheint mir eine Weiterentwicklung möglich – unter strikter Beachtung auch der Belastbarkeit der einzelnen Versichertengruppen.

Keine Erfahrungen haben wir in Deutschland bisher mit dem besonders schwierigen mittleren Bereich der Skala, dort also, wo die Grautöne vorherrschen und abgestuft werden müssen. Um solche Erfahrungen zu sammeln, schlage ich vor, sich zuerst auf einen Versorgungsbereich – etwa die medizinische Rehabilitation – zu konzentrieren und sich dort einzelnen der großen Indikationsbereiche – kardiologische, onkologische, rheumatologische Erkrankungen – zu widmen. Beginnen könnte man parallel auch an ganz anderer Stelle, etwa in der relativ übersichtlichen Transplantationsmedizin oder auch der primärärztlichen Versorgung.

Die Diskussionen über Priorisierung leben von Multidisziplinarität; zu beteiligen sind mithin außer den Klinikern und den Therapeuten ebenso Methodiker und Epidemiologen, Gesundheitssystemforscher sowie Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Ethiker, Juristen und Patientenvertreter. Solche multidisziplinären Gruppen wären am ehesten wohl dort zu bilden, wo die jeweilige Strukturverantwortung und der Sicherstellungsauftrag angesiedelt sind, in unserem Beispiel also bei den Rentenversicherungsträgern und ihrem Verband.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 57
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.