Proteine gegen Frost
Erstmals wurde durch Strukturuntersuchungen geklärt, wie das Frostschutz-Protein eines Fisches mit einer Eiskristallfläche in Wechselwirkung treten und dabei verhindern könnte, daß sich weitere Wassermoleküle anlagern und der Kristall wächst.
Die meisten Lebewesen können sich nicht wie die warmblütigen Säugetiere und Vögel den Luxus einer konstant hohen Körpertemperatur leisten. Sofern in ihrem Lebensraum gelegentlich der Gefrierpunkt unterschritten wird, müssen sie deshalb imstande sein, Frostschäden vorzubeugen. Autofahrer mischen Gefrierschutzmittel (etwa den durch Weinpanscher in Verruf geratenen Alkohol Ethylenglykol) in Kühl- und Scheibenwaschwasser, und vereiste Straßen lassen sich durch Salz abtauen. In beiden Fällen verschiebt die Anwesenheit großer Mengen einer Substanz, die in Wasser löslich ist, aber nicht in Eiskristalle eingebaut werden kann, das Gleichgewicht zwischen beiden Aggregatzuständen zu demjenigen, der die Löslichkeit des Zusatzstoffs begünstigt.
Vielen Lebewesen bleibt dieser Ausweg jedoch verwehrt, weil die Anreicherung kleiner Moleküle in der Zellflüssigkeit zugleich den osmotischen Druck gegenüber der Außenwelt erhöht, was die Zellen im Extremfall platzen ließe, sie ansonsten aber mindestens ebenso schädigen würde wie das Einfrieren und Wieder-Auftauen. Teils wenden solche Organismen einen anderen Trick an: Mit speziellen Frostschutz-Proteinen (kurz AFPs nach englisch anti-freeze proteins), die sich an entstehende Eiskeime anlagern und sie am Weiterwachsen hindern, halten sie ihr Zellinneres gezielt im (metastabilen) Zustand einer unterkühlten Flüssigkeit.
Gewisse Frosch- und Schildkrötenarten verfolgen dagegen gerade die umgekehrte Strategie: Statt das Gefrieren zu verhüten, sorgen sie mit besonderen Eisnucleationsproteinen dafür, daß es möglichst rasch und schadlos geschieht. Dabei können bis zu 65 Prozent des Gesamtwassergehalts der Tiere kristallisieren. Über ähnlich wirkende Proteine verfügen auch Bakterien der Gattungen Pseudomonas, Xanthomonas und Erwiniae.
Erste Einblicke in die Wechselwirkung solcher Eiweißstoffe mit entstehenden Eiskeimen konnten nun Frank V. Sicheri von der McMaster-Universität in Ontario (Kanada) und D.S.C. Yang vom BioCrystallography Laboratory in Pittsburgh (Pennsylvania) aus einer Röntgenstrukturanalyse des Frostschutz-Proteins der Winterflunder gewinnen ("Nature", Band 375, Heft 6530, Seiten 427 bis 431, 1. Juni 1995). Demnach ist das Molekül, das zu den AFPs vom Typ I gehört, verblüffend einfach und regelmäßig aufgebaut. Die aus nur 37 Gliedern bestehende Aminosäurekette bildet eine einzige Alpha-Helix mit neun schraubenförmigen Windungen (Bild). Die für ei-ne solche Struktur überraschend hohe Stabilität hängt wohl teilweise damit zusammen, daß die Aminosäuren an beiden Enden der Schraube über Wasserstoffbrücken-Bindungen zu einer Art Kappe verflochten sind.
Paradoxerweise bestehen fast zwei Drittel des Proteins aus der Aminosäure Alanin, die wassermeidend und deshalb für die Bindung an Eiskeime ungeeignet ist. Als eisbindendes Motiv wurde eine Dreiergruppe aus Asparagin, Threonin und Leucin identifiziert, die zweimal im Abstand von drei Helixwindungen auftaucht (Bild). Insgesamt entsteht dadurch eine überraschend flache, feste Oberfläche, aus der die Seitenketten der hydrophilen (wasserliebenden) Aminosäuren Asparagin und Threonin nur ein klein wenig herausragen. Über Wasserstoffbrücken-Bindungen kann somit ein guter Kontakt zu den ebenfalls periodischen Strukturen gewisser Oberflächen eines Eiskristalls hergestellt und damit die Anlagerung weiterer Wassermoleküle verhindert werden.
Auch von einem ebenfalls relativ kleinen Frostschutz-Protein des Typs III, wie es zum Beispiel im Schellfisch vorkommt, konnte – diesmal mittels kernmagnetischer Resonanzspektroskopie – kürzlich die Struktur bestimmt werden ("Science", Band 259, Seiten 1154 bis 1157, 19. Februar 1993). Dieses AFP ist im Gegensatz zu dem der Winterflunder aber kompliziert gefaltet und überwiegend aus Beta-Faltblättern aufgebaut. Welche Aminosäuren die Wechselwirkung mit Eiskristallen vermitteln, konnte erst durch Mutationsexperimente geklärt werden, bei denen man einzelne Aminosäuren ersetzte und prüfte, ob die Frostschutzwirkung noch vorhanden war. Demnach scheint von den insgesamt acht an Beta-Faltblättern beteiligten Kettenstücken das nahe dem Ende (C-Terminus) des Aminosäurestrangs die entscheidende Bindungsstelle darzustellen.
Noch keinerlei konkrete Strukturinformationen gibt es zu den AFPs vom Typ II, wie sie zum Beispiel im Hering vorkommen. Bisher wurden lediglich hypothetische Strukturmodelle aufgestellt, die auf der entfernten Verwandtschaft mit gewissen Pflanzenproteinen beruhen.
Nicht viel besser weiß man über die Eisnucleationsproteine der Frösche Bescheid. Die häufige Wiederholung gleicher Teilsequenzen läßt aber vermuten, daß auch hier eine regelmäßige Struktur, möglicherweise ein ausgedehntes Beta-Faltblatt, auf die Periodizität der Eiskristalle abgestimmt ist.
Obwohl Eisnucleationsproteine das Einfrieren relativ schonend gestalten, dürfte der Vorgang für die betroffenen Organismen doch belastend sein. Entsprechend gibt es Hinweise darauf, daß die Frösche diesem Stress mit der verstärkten Synthese von sogenannten Kälteschock-Proteinen begegnen – ähnlich wie fast alle Lebewesen als Reaktion auf überhöhte Temperaturen Hitzeschock-Proteine produzieren.
Beim Darmbakterium Escherichia co-li wurde 1990 erstmals ein solches Molekül (CspA) aufgefunden und charakterisiert. Es wird bereits erzeugt, wenn die Außentemperatur um einige Grad unter die Körpertemperatur von Warmblütern fällt.
Seine Wirkungsweise liegt allerdings noch völlig im dunkeln. Immerhin konnte bereits 1994 die Struktur bestimmt werden ("Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA", Band 91, Seiten 5119 bis 5123). Sie zeigt typische Merkmale eines Proteins, das mit einzelsträngigen Nucleinsäuren (den Bestandteilen der Erbsubstanz) in Wechselwirkung treten kann. Vermutlich beeinflußt CspA also die Aktivität einzelner Gene und sorgt so dafür, daß sich der Stoffwechsel auf die tiefen Temperaturen einstellt.
All diese Forschungsarbeiten sind schon allein deshalb interessant, weil sie genauere Kenntnisse darüber vermitteln, wie sich Organismen an extreme Lebensbedingungen anpassen. Zusätzlich erhoffen sich Biotechnologen aber auch Anwendungsmöglichkeiten zum Beispiel in der Landwirtschaft. Unter anderem wurde bereits versucht, Kartoffelpflanzen das Frostschutz-Protein der Winterflunder herstellen zu lassen – mit dem Ziel, in Hochgebirgslagen Südamerikas frostresistente Kartoffeln anbauen zu können. Die Eisnucleationsproteine von Pseudomonas-Bakterien dienen sogar schon seit längerem zur Erzeugung künstlichen Schnees. Vielleicht werden auch Autofahrer eines Tages ihre Karossen mit biotechnologischen statt chemischen Produkten frostfrei halten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 36
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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