Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Pruning: Kahlschlag im Neuronenwald

Die Zahl der Nervenverbindungen im Gehirn nimmt im Lauf der Jugend massiv ab – das ist Teil einer Optimierungsstrategie. Fällt dieser Rückschnitt allerdings zu stark oder zu schwach aus, kann das psychische Erkrankungen begünstigen.
Blaue Neurone vor schwarzem Hintergrund

Peter Huttenlocher war ein ausdauernder Mensch. In den 1970er Jahren begann er damit, Gewebeproben aus menschlichen Gehirnen zu sammeln – von direkt nach der Geburt verstorbenen Kindern, verunglückten Motorradfahrern, Krebskranken, Greisen. Er entnahm den Toten kleine Blöcke ihrer Hirnrinde, zerschnitt diese in hauchzarte Scheiben und fotografierte sie unter dem Elektronenmikroskop. Von den Negativen fertigte er Abzüge an, 20 bis 30 pro Gewebeblock, jeder von einem anderen Dünnschnitt. Und dann begann er zu zählen.

Der Kinderneurologe interessierte sich nicht so sehr für die Nervenzellen, sondern vielmehr für die Ver­bindungen zwischen ihnen, die Synapsen. Akribisch durchforstete er die 17 000-fach vergrößerten Aufnahmen nach den Stellen, an denen die Neurone über den so genannten synaptischen Spalt hinweg Informationen austauschen. Penibel nummerierte er jeden seiner Funde, Probe für Probe, zunächst bei 21 Gehirnen, später kamen immer mehr dazu.

Auf diese Weise identifizierte Huttenlocher Zehntausende von Synapsen. Bald brütete er nicht nur im Labor über den Fotos, sondern auch zu Hause. Und er stieß dabei auf einen Befund, der ihn sein ganzes Forscher­leben hindurch beschäftigen sollte: Während der Jugend büßt ein Mensch jede Menge Nervenverbindungen ein, nach Huttenlochers Berechnungen rund ein Drittel. Hat-ten Zweijährige auf den Fotos noch 1,6 Milliarden Synapsen pro Kubikmillimeter Hirngewebe, waren es bei den 15- und 20-Jährigen lediglich 1,1 Milliarden. In diesem Größenbereich blieb die Zahl bis ins hohe Alter; erst dann fiel sie weiter ab.

In anderen Hirnregionen machte Huttenlocher danach ähnliche Beobachtungen: Während der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt wuchern die Synapsen des Babys zu einem dichten Netzwerk heran, das sich dann in der späten Kindheit und Pubertät wieder lichtet. Der US-Psychiater Irwin Feinberg prägte für das Phänomen 1983 den Begriff »synaptic pruning«.

Wieso verlieren wir in jungen Jahren so viele neuronale Kontakte – in einer Zeit, in der wir noch täglich Neues lernen?  ...

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Spektrum der Wissenschaft – Altern - Was uns länger leben lässt

Menschen altern unterschiedlich – abhängig vom Lebensstil, der Ernährung, dem Stresspegel oder dem sozialen Umfeld. Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch das Risiko für Demenzerkrankungen wie Alzheimer. Ein wirksames Mittel gegen dieses Leiden ist immer noch nicht gefunden, neue Erkenntnisse aus der Forschung lassen jedoch hoffen. Die weltweit alternden Gesellschaften fordern aber nicht nur die Medizin heraus, sondern auch unsere Sozialfürsorge. Letztlich bleibt das wichtigste Ziel, möglichst lange gesund und agil zu bleiben.

Spektrum - Die Woche – Ein langes Leben ist kein Zufall

Wie schafft man es, besonders alt zu werden und dabei fit und gesund zu bleiben? Die Altersforscherin Eline Slagboom weiß, welche Faktoren wir beeinflussen können - und welche nicht. Außerdem in dieser »Woche«: Wie Spannbetonbrücken einfach einstürzen können - und wie man das verhindern kann.

  • Quellen

Faust, T. E. et al.: Mechanisms governing activity-dependent synaptic pruning in the developing mammalian CNS. Nature Reviews Neuroscience 22, 2021

Feinberg, I.: Schizophrenia: caused by a fault in programmed synaptic elimination during adolescence? Journal of Psychiatric Research 17, 1982

Hong, S. et al.: Complement and microglia mediate early synapse loss in Alzheimer mouse models. Science 352, 2016

Huttenlocher, P. R.: Synaptic density in human frontal cortex – developmental changes and effects of aging. Brain Research, 163, 1979.

Huttenlocher, P. R., Dabholkar, A. S.: Regional differences in synaptogenesis in human cerebral cortex. J. Comp. Neurol., 387, 1997

Nabulsi, N. B. et al.: Synthesis and preclinical evaluation of 11C-UCB-J as a PET tracer for imaging the synaptic vesicle glycoprotein 2A in the brain. Journal of Nuclear Medicine 57, 2016

Onwordi, E. C. et al.: Synaptic density marker SV2A is reduced in schizophrenia patients and unaffected by antipsychotics in rats. Nature Communication 11, 2020

Scholl, C. et al.: The information theory of developmental pruning: Optimizing global network architectures using local synaptic rules. PLOS Computational Biology 17, 2021

Sellgren, C. M. et al.: Increased synapse elimination by microglia in schizophrenia patient-derived models of synaptic pruning. Nature Neuroscience 22, 2019

Shatz, C. J.: The prenatal development of the cat's retinogeniculate pathway. Journal of Neuroscience 3, 1983

Stevens, B. et al.: The classical complement cascade mediates CNS synapse elimination. Cell 131, 2007

Tang, G. et al.: Loss of mTOR-dependent macroautophagy causes autistic-like synaptic pruning deficits. Neuron 83, 2014

Tononi, G., Cirelli, C.: Sleep and synaptic homeostasis: a hypothesis. Brain Research Bulletin 62, 2003

Weinhard, L. et al.: Microglia remodel synapses by presynaptic trogocytosis and spine head filopodia induction. Nature Communication 9, 2018

Wilton D. K. et al: Neuron-glia signaling in synapse elimination. Annual Reviews of Neuroscience 42, 2019

Yasuda, M. et al.: An activity-dependent determinant of synapse elimination in the mammalian brain. Neuron 109, 2021

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.