Psyche, Stress und Krankheitsabwehr
Gehirn und Immunsystem, die beiden übergeordneten Kontrollinstanzen des Organismus, arbeiten trotz aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben eng zusammen. Sie tauschen sogar fortwährend biochemische Signale aus, häufig entlang den gleichen Bahnen. Dies erklärt manche psychischen Störungen bei körperlichen Erkrankungen und umgekehrt. Hier bieten sich neue Ansätze für wechselseitige Therapien.
Die Ära der Antibiotika hat eine schon in der Antike entwickelte Überzeugung fast vergessen lassen: daß häufig auch die psychische Verfassung bei körperlichen Krankheiten maßgeblich mitspielt. Die großen Erfolge mit natürlichen und synthetischen Substanzen in der Infektionsmedizin seit gut einem halben Jahrhundert erweckten die Vorstellung, bei der Bekämpfung fiebriger und entzündlicher Prozesse komme es vor allem darauf an, den Erreger zu vernichten, oder allgemeiner, das verursachende Pathogen zu eliminieren. Intensiv wurde und wird denn auch nach weiteren solchen Wirkstoffen gefahndet.
Noch Anfang dieses Jahrhunderts hatten Ärzte und Pflegekräfte dem seelischen Zustand ihrer Patienten große Bedeutung beigemessen. Nun wartet gerade die Infektions- und Entzündungsforschung, nachdem vor allem sie solche Assoziationen jahrzehntelang geradezu verpönte, mit deutlicheren Belegen für Wechselwirkungen zwischen Psyche und Immunsystem auf.
Daran ist auch unsere Gruppe beteiligt, die dabei mit Kollegen der Nationalen Gesundheitsinstitute der Vereinigten Staaten in Bethesda (Maryland) zusammenarbeitet. Dank neueren Möglichkeiten von Molekularmedizin und Pharmakologie vermochten wir dazu beizutragen, das komplizierte Kommunikationsnetz zwischen Immunsystem und Gehirn zu erkennen, über das die beiden Instanzen immerfort und bei jedem neuen Anlaß unverzüglich Signale austauschen: Von der körperlichen Abwehr erzeugte Moleküle machen dem Zentralnervensystem Meldung, und dieses wiederum kontrolliert mit eigenen Substanzen die Immunaktivität. Eben diese biochemischen Signale beeinflussen auch das Verhalten bei Stress und die Reaktion darauf.
Ist dieses Kommunikationsnetz gestört, gleich ob aufgrund eines angeborenen Defekts, durch ein Medikament, nach einer Vergiftung oder infolge eines chirurgischen Eingriffs, zeigen oder verstärken sich bestimmte Krankheitsbilder, die sonst von den beiden Instanzen gedämpft oder verhütet werden: Infekte, Entzündungen und Autoimmunleiden sowie damit einhergehende Veränderungen der Grundgestimmtheit.
Diese Befunde dürften große praktische Bedeutung gewinnen. Häufig schon wurde beobachtet, daß ein gegen eine Funktionsstörung des Nervensystems verabreichtes Medikament auch gegen eine Immunkrankheit wirkt und umgekehrt. Ein tieferes und detaillierteres Verständnis dessen, was dabei geschieht, verspricht eine Erweiterung bisheriger Therapiemöglichkeiten. Das neue disziplinenübergreifende Forschungsgebiet, etwas umständlich Psychoneuroimmunologie genannt, bestärkt endlich, was viele Menschen ohnehin intuitiv annehmen, manche Mediziner aber immer noch ignorieren oder gar negieren: daß das psychische Befinden sich bei Infektionen und Entzündungsprozessen auf die Widerstandskraft und die Heilung je nachdem günstig oder hinderlich auswirkt.
Zwei Aufpasser
Obwohl Gehirn und Immunsystem gänzlich verschieden aufgebaut sind und funktionieren, passen ihre Rollen beim Erhalt des Organismus doch in gewisser Weise verblüffend zusammen. Das Stress-System, dessen erste Kontrollinstanzen im Gehirn liegen, wird in bedrohlichen Situationen aktiviert; und auch das dezentral angelegte Immunsystem wendet sich automatisch gegen Bedrohliches, in seinem Falle etwa gegen Pathogene und körperfremde Moleküle (Bild 1). Hauptsächlich mit diesen beiden Reaktionssystemen sucht der Körper sein inneres Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen. Der Einregelung dieser Homöostase (nach griechisch homoios für ähnlich, gleichartig und stasis für Zustand) dient ein erheblicher Teil der Zellmaschinerie.
Ist die Konstanz des inneren Milieus bedroht oder gestört, strebt der Organismus normale Verhältnisse an, indem er ein Repertoire von Reaktionen auf allen Ebenen in Gang setzt, von molekularen und zellulären Mechanismen bis hin zu Verhaltensweisen. Die Antwort kann sehr spezifisch sein, sich etwa gezielt gegen einen Erreger richten oder gegen einen angstauslösenden Umstand. Übersteigt die Störung allerdings ein gewisses Maß, gerät der Körper generell in Alarm. Er reagiert dann unspezifisch auf den Stressor, wie man jegliche Belastung durch starke Reize nennt, ob körperlicher oder seelischer Art. Das gilt gleichermaßen für Erregung bei Freude oder Ärger wie für Krankheit oder Leistungsdruck. Allerdings können die Gegenmaßnahmen ihrerseits belastend sein und sogar selbst eine Erkrankung bedingen.
Die vielerlei Verflechtungen zwischen Gehirn und Immunsystem, die dabei mitspielen, beginnt man gerade erst zu verstehen, und damit auch, auf welche Weise sie aufeinander regulierend und gegensteuernd einwirken. Unzweifelhaft aber ist, daß auf diesen Mechanismen Gesundheit beruht und Fehlfunktionen krankhafte Auswirkungen haben.
Stress an sich ist insofern normal und notwendig, als er hilft, bedrohliche und belastende Situationen mittels Veränderungen des physiologischen Zustands (insbesondere erhöhter Aktivität von Komponenten des vegetativen Nervensystems, vermehrter Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin und Steigerung des Blutdrucks) sowie des Verhaltens zu überstehen. Beispielsweise werden wir beim Erkennen einer Gefahr sogleich sehr wachsam, bekommen Angst und suchen uns mit allen Kräften zu wehren oder uns der bedrohlichen Situation zu entziehen; derweil ist an alles momentan Unwichtige und Hinderliche wie Essen, Schlaf oder Sex gar nicht zu denken – die Motivationen dafür werden zeitweilig gehemmt. Doch muß die Stress-Reaktion maßvoll geregelt sein. Ist sie suboptimal oder zu exzessiv, können die Regelmechanismen entgleisen.
Ebensowenig darf das Immunsystem zuviel oder zuwenig leisten. Zwar soll es Krankheitskeime aufspüren und vernichten sowie Gifte neutralisieren, abnorme Zellen beseitigen und helfen, schadhafte oder verbrauchte Gewebe auszubessern. Doch diese Mechanismen könnten zu heftig wirksam werden, so daß es ohne fortwährende Gegenkontrolle und Feinabstimmung nicht geht. Weder dürfen falsche Ziele angegriffen noch richtige verfehlt werden, denn das kann Autoimmun- und Entzündungskrankheiten bedingen. Bei zu geringer Effektivität hingegen sind Abwehrschwächen die Folge.
Gemeinhin vergleicht man das Gehirn oft mit einem Kommandozentrum, das über die Nervenbahnen – analog einem fest verdrahteten Netzwerk – elektrische Signale aussendet und empfängt. Die Immunabwehr hingegen ist ein dezentrales System, dessen Organe – Milz, Lymphknoten, Thymusdrüse und Knochenmark – über den Körper verteilt sind; nach vereinfachter landläufiger Auffassung kommuniziert es mit Hilfe von Immunzellen, die es in den Blutkreislauf freisetzt, so daß sie zu den jeweiligen Zielorten mitgenommen werden, wo sie ihre Botschaft überbringen oder andere Aufgaben erfüllen. Dieses Bild wird den Tatsachen nicht voll gerecht, denn was die Modi des Empfangs, des Erkennens und der Integration von Signalen aus der Umgebung betrifft, haben beide Systeme mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Das gilt gleichermaßen für die Strukturen für diese Prozesse.
So gibt es in beiden Systemen sensorische Elemente, die Informationen von außen und aus dem Körper selbst aufnehmen, und motorische, welche passende Reaktionen ausführen. Kommunikation mit chemischen Überträgern ist ebenfalls beiden eigen und zudem eine wichtige Möglichkeit des gegenseitigen Kontakts: Die elektrischen Signale, die über die Nervenbahnen laufen, werden an den Synapsen – den Kontaktstellen zwischen Neuronen – in chemische umgewandelt, die in dieser Weise an andere Neuronen etwa Erregungen oder Hemmungen übermitteln; aber von Nervenzellen freigesetzte Substanzen können auch als Botenstoffe auf Immunzellen einwirken, und diese tauschen wiederum nicht nur untereinander chemische Botschaften aus, sondern senden ebenso welche dem Gehirn und den Nerven.
Eine wichtige Vermittlerrolle haben Hormone. An verschiedenen Stellen im Körper gebildete solche Regulatorstoffe transportiert das Blut zum Gehirn, das daraus Informationen bezieht. Doch das Gehirn selbst ist das Organ mit der wohl umfangreichsten Produktion von Hormonen, die teils sowohl in ihm wirken als auch anderwärts im Organismus.
Eine Schlüsselsubstanz ist das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH; Corticotropin freisetzendes Hormon). Es wird im Hypothalamus und in einigen anderen Hirnregionen produziert und sorgt dafür, daß Stress- und Immunreaktionen gleichsinnig verlaufen. Über eine besondere Blutbahn gelangt es in die kleine Hirnanhangdrüse, die Hypophyse (Bild 1). Damit beginnt eine regelrechte Hormonkaskade: Die Hypophyse gibt nun Corticotropin (auch adrenocorticotropes Hormon oder kurz ACTH genannt) ins Blut ab; dieses wiederum stimuliert die Nebennierenrinden, Cortisol (Hydrocortison) ins Blut auszuschütten, das am besten untersuchte und wichtigste Stress-Hormon (Bild 2).
Cortisol gehört zu den Steroidhormonen (so genannt wegen des chemischen Steroid-Grundgerüsts). Es bewirkt, daß das Herz schneller und kräftiger schlägt, sensibilisiert die Blutgefäße für das Hormon Noradrenalin, das auch als Überträgersubstanz des Nervensystems fungiert und ähnlich wie Adrenalin aktivierend wirkt, und beeinflußt zudem viele Stoffwechselfunktionen. Dies alles macht den Körper für eine Stress-Situation bereit. Überdies hemmt Cortisol – in einer einfachen Rückkopplungsschleife – die Freisetzung von weiterem CRH aus dem Hypothalamus, so daß dieser Teil der Stress-Antwort unter Kontrolle bleibt (Bild 2). Doch Cortisol ist außerdem ein hochwirksamer Immunregulator und Entzündungshemmer, wodurch es Überreaktionen bei Gewebeschäden verhindert. Somit hilft es im Verein mit CRH, die vom Gehirn regulierten Stress- und die dezentral gesteuerten Immunreaktionen aufeinander abzustimmen.
Die CRH sekretierenden Neuronen des Hypothalamus stehen des weiteren über Regionen im Hirnstamm, zu denen von ihnen Fasern verlaufen, in Verbindung mit dem sympathischen Nervensystem, das bei Gefahr für eine allgemeine Mobilisierung sorgt und auch durch diese Gebiete reguliert wird. Indem das sympathische Nervensystem Immunorgane wie Thymus, Lymphknoten und Milz innerviert, hilft es, Entzündungsreaktionen im Körper zu dämpfen. Außerdem haben die CRH sekretierenden Neuronen Ausläufer zu einem weiteren Gebiet im Hirnstamm, dem blauen Kern oder Locus coeruleus (Bilder 3 und 4); dessen Anregung bewirkt Unruhe, Angst und Wachsamkeit.
Allerdings ist für das Auslösen von angstbetontem Verhalten der Mandelkern (die Amygdala) vielleicht noch wichtiger (Bild 2; siehe auch "Das Gedächtnis für Angst" von Joseph E. LeDoux, Spektrum der Wissenschaft, August 1994, Seite 76). Dieser Teil des stammesgeschichtlich alten limbischen Systems, das unter anderem die affektive Tönung des Gesamtverhaltens und emotionelle Reaktionen wie Wut, Furcht und Zuneigung beeinflußt, erhält aus den sensorischen Regionen des Gehirns Impulse und entscheidet, ob Ereignisse stressen oder nicht. In seinem zentralen Kern gibt es auch CRH ausscheidende Neuronen, deren Fasern zum Hypothalamus, zum Locus coeruleus sowie in andere Teile des Hirnstamms führen.
Eben diese Neuronen sind Ziele der Botenstoffe von Immunzellen, die bei einer Abwehraktion freigesetzt werden. Einerseits wird somit über den Cortisol-Weg die Immunantwort in Grenzen gehalten, andererseits ein Verhalten ausgelöst, das Erholung und Heilung unterstützt – denn die CRH bildenden Mandelkern-Neuronen haben auch Verbindungen zu Regionen des Hypothalamus, die Nahrungsaufnahme und Fortpflanzungsverhalten regulieren.
Das sind aber noch längst nicht alle Kontaktwege zwischen Gehirn und Immunsystem. Auf deren Interaktionen haben beispielsweise auch Schilddrüsen-, Wachstums- und weibliche Geschlechtshormone Einfluß sowie die Bahnen des Sympathikus-Nebennierenmark-Systems, die man oft die andere Stress-Achse nennt.
Immunsignale an das Gehirn
Wir lernen immer mehr über die verblüffend elegante Art, in der das Immunsystem seine Attacken mit sehr fein abgestimmten Kaskaden zellulärer Ereignisse durchführt. Eine der wichtigsten neueren Erkenntnisse ist, daß weiße Blutkörperchen kleine molekulare Proteine (genauer: Polypeptide) produzieren, die indirekt Reaktionen anderer Teile des Immunsystems auf Krankheitserreger koordinieren. Eines davon ist Interleukin-1 (IL-1). Es wird von Monocyten – einer Sorte von Freßzellen – gebildet und regt bestimmte andere Immunzellen, die Lymphocyten, zur Herstellung von Interleukin-2 (IL-2) an (siehe auch "Interleukin 2: ein Hormon im Immunsystem" vom Kendall A. Smith, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1990, Seite 72). Dieser Stoff wiederum stimuliert die Reifung von Lymphocyten, aus denen unter anderem Plasmazellen werden, die Antikörper herstellen, oder cytotoxische T-Zellen (Antikörper erkennen Fremdantigene; cytotoxische T-Zellen töten virus-infizierte Zellen). Es gibt eine größere Anzahl von Interleukinen; auch an allergischen Reaktionen sind welche beteiligt.
Ihr Name spielt auf ihre zunächst vermutete Hauptfunktion an, zwischen weißen Blutkörperchen Signale auszutauschen (lateinisch inter, zwischen, und griechisch leukos, weiß). Als sich aber später herausstellte, daß viele andere Zelltypen und Organe – so auch manche Gehirnregionen – auf diese Moleküle ansprechen, fand man die treffendere, allgemeinere Bezeichnung Cytokine (von griechisch kytos, Höhlung oder Gefäß für Zelle, und kinein, bewegen).
Es handelt sich, so weiß man jetzt, um eine große Substanzklasse zur Verständigung zwischen Zellen. Jedes Cytokin wird von einem eigenen Gen codiert; und jedes hat einen besonderen Zelltyp als Ziel. Ob es stimulierend oder hemmend wirkt, hängt zum einen davon ab, welche anderen Cytokine oder sonstigen Stimuli gerade vorhanden sind, zum anderen von der augenblicklichen Stoffwechsellage. Infolgedessen vermag das Immunsystem sehr flexibel und paßgenau zu reagieren, um lokal ein Zellmilieu zu stabilisieren und im Organismus die Homöostase aufrechtzuerhalten.
Wie nun gelangen Cytokine ins Gehirn? Bis auf wenige Ausnahmen unterbindet die Blut-Hirn-Schranke den Übertritt von Stoffen zu den empfindlichen Nervennetzen (Spektrum der Wissenschaft, November 1986, Seite 82, und Mai 1991, Seite 102). Aber Krankheit und Entzündung sind Sondersituationen, in denen die Barriere durchlässiger wird; und manche Cytokine können sie ohnehin jederzeit leicht passieren (Bild 5).
Es gibt sogar indirekte Effekte: Einige Cytokine aus den Zellen der Innenwand von Hirngefäßen veranlassen, daß im umgebenden Hirngewebe andere Signalmoleküle freigesetzt werden; dazu können diese Zellen vermutlich wiederum durch Cytokine aus dem Blut stimuliert werden.
Cytokine können sich aber auch bestimmter Nervenbahnen bedienen, so des Vagus, der aus dem verlängerten Mark austritt und zahlreiche Muskeln, Drüsen und Organe in Brust- und Bauchraum innerviert (Bild 1). Wenn man in die Bauchhöhle Interleukin-1 infundiert, wird der Kern eines Tractus solitarius genannten Faserzuges aktiviert und damit die Haupteingangsstelle im Hirnstamm für sensorische Informationen aus den Eingeweiden, die zum Vagus enge Verbindung hat (Bild 3); bei durchtrenntem Vagus geschieht dies nicht.
Der Weg über Nervenbahnen ist naturgemäß der schnellste. Bis das Signal im Gehirn eintrifft, vergehen nur Millisekunden. Auf diese Weise provozieren Cytokine Stress-Reaktionen wie ängstliche Zurückhaltung und ein Bedürfnis nach Schonung und Ruhe, falls in einer Körperregion Bedarf dafür besteht. Das ist nun eben der Zustand, daß man sich krank fühlt und am liebsten nur schläft oder döst. Der Organismus kann dann seine Energien für die Gesundung einsetzen.
Auch im Gehirn selbst – nicht nur in den Wandungen seiner Blutgefäße – werden Cytokine hergestellt, und zwar sowohl von den Neuronen wie von Zellen des Versorgungs- und Stützgewebes. In dem Falle regulieren diese Moleküle Wachstum und Absterben von Neuronen, doch kann das Immunsystem sie ebenfalls benutzen, um die Freisetzung von CRH zu bewirken.
Am besten erforscht ist dabei das System von Interleukin-1, dessen sämtliche Komponenten im Gehirn man seit kurzem im Detail kennt, auch die Rezeptoren dafür und einen Antagonisten, der diese Rezeptoren besetzt, aber nicht aktiviert. Dank dessen lassen sich nun Medikamente entwickeln, die zugehörige Aktionskreise gezielt anregen oder dämpfen und somit die Funktionen, die von ihnen reguliert werden.
Zuviel Cytokine im Gehirn aber können Nervenzellen schaden. So sind an transgenen Mäusen, bei denen eingeschleuste Fremdgene solche Stoffe im Übermaß exprimieren, neurotoxische Effekte festzustellen. Auch manche der neuronalen Symptome bei AIDS könnten durch eine überschießende Bildung bestimmter Cytokine verursacht sein; in Hirngewebe von Patienten fanden sich dort, wo Makrophagen – vielfältig aktive Zellen des Immunsystems – eingedrungen waren, hohe Spiegel unter anderem von Interleukin-1.
Entzündliche Erkrankungen
Jede künstliche Unterbrechung der Abstimmung zwischen Gehirn und Immunsystem bedingt erhöhte Anfälligkeit für entzündliche Prozesse, bei denen dann relativ häufig immunologische Komplikationen eintreten. Entsprechende Tierversuche verliefen sogar ziemlich oft tödlich. Das gilt auch für Infekte.
Gleicherweise zu wenig widerstandsfähig sind Tiere – wie offenbar auch Menschen – mit einer erblich veranlagten Störung der Stress-Reaktion, und zwar sowohl Ratten und Mäuse als auch Hühner. Ratten vom Lewis-Stamm etwa leiden an einem schweren Defekt der Stress-Achse vom Hypothalamus über die Hypophyse zur Nebenniere, so daß unter Belastung bei weitem zu wenig CRH ausgeschüttet wird. Hingegen ist der Fischer-Stamm, bei dem diese hormonelle Reaktion übersteigert ausfällt, offenbar so gut gewappnet, daß die Tiere kaum Entzündungen bekommen.
Einen ursächlichen Zusammenhang belegen verschiedene experimentelle pharmakologische und chirurgische Eingriffe. Beispielsweise verstärkt bei Ratten eine medikamentöse Blockade von Cortisolrezeptoren entzündliche Autoimmunprozesse, wie umgekehrt die Empfindlichkeit entzündungsanfälliger Artgenossen sinkt, wenn man ihnen kleine Mengen Cortisol spritzt. Selbst Tiere robuster Stämme werden äußerst empfindlich, sofern man ihnen Hypophyse oder Nebennieren entfernt; und solche Tiere des anfälligen Stamms kann man widerstandsfähig machen, indem man ihnen Hypothalamus-Gewebe robuster Artgenossen überpflanzt. Da demnach die Neigung zu entzündlichen Prozessen eng mit der Stress-Reaktion zusammenhängt, ist auch anzunehmen, daß jede Beeinträchtigung der biochemischen Kommunikation zwischen Gehirn und Immunsystem sich darauf auswirkt, wie die Erkrankung im Einzelfall verläuft.
Depression als Stress-Fehlfunktion
Die Verhältnisse beim Menschen sind viel schwieriger aufzuklären. Doch mehren sich Hinweise, daß auch bei uns verschiedene entzündliche Erkrankungen unter anderem darauf beruhen, daß die beschriebene hormonelle Stress-Achse zu schwach arbeitet und aus diesem Grunde die Immunabwehr zu stark.
Eine zu schwache Stress-Reaktion haben aber ebenso manche depressiven Patienten; sie fühlen sich denn auch meist müde und abgeschlagen, schlafen am liebsten immerzu, aber essen so gern, daß sie vielfach übergewichtig werden – völlig andere Symptome als bei einer klassischen Depression, wie wir noch sehen werden.
Die atypische Form gleicht eher bestimmten anderen Krankheitsbildern, die mit Ermattung einhergehen, und manifestiert sich vielleicht in einem ähnlichen Hormon- und Immunzustand:
- Beim chronischen Müdigkeitssyndrom sind die Patienten in der Regel über Monate ohne ersichtlichen Grund erschöpft und lustlos; für eine übermäßige Aktivität des Immunsystems spricht, daß sie erhöhte Temperatur, Gelenk- und Muskelschmerzen sowie allergische Symptome haben und daß die Titer von Antikörpern gegen eine Vielzahl von viralen Antigenen einschließlich des Epstein-Barr-Virus erhöht sind.
- Von Fibromyalgie Betroffene leiden ebenfalls an Muskel- und Gelenkschmerzen sowie an starkem Schlafbedürfnis, was beides auch im Anfangsstadium einer rheumatoiden Arthritis ähnlich ist.
- Die lichtabhängige Winterdepression (vergleiche "Kohlenhydrate und Depression", Spektrum der Wissenschaft, März 1989, Seite 86) hat Lethargie und dauernde Müdigkeit damit gemein; für sie sind zudem wie für die atypische Depression Eßlust und Gewichtszunahme charakteristisch. Etwas scheint mit der genannten Stress-Achse nicht zu stimmen, denn nach einer CRH-Injektion schüttet die Hirnanhangdrüse der Patienten nur verzögert relativ wenig ACTH aus; das erinnert an Folgen von Verletzungen oder Tumoren dieses Organs.
Generell dürfte es so sein, daß die von überaktiven Immunfunktionen begleitete Abgeschlagenheit in den genannten Fällen mit einem Mangel an Cortisol einhergeht, wie es bei einem CRH-Defizit der Fall ist. Endgültige Beweise für den Zusammenhang stehen zwar noch aus; doch falls der Verdacht sich erhärtet, könnte man solchen Patienten vielleicht medikamentös helfen, indem man gezielt bei solchen Hormonen ansetzt.
Wie schon angedeutet, äußert sich die klassische Depression völlig anders. Die Patienten sind nicht eigentlich lethargisch, antriebslos, geistig träge und gefühlsarm, sondern leben gewissermaßen in einem strukturierten Angstzustand, der hauptsächlich das eigene Selbstwertgefühl schmälert. Sie empfinden sich als leer und unzulänglich, sehen die Zukunft oft ausgesprochen düster und sind deswegen auch ohne jede Hoffnung etwa für die Lösung von Problemen in ihrer Ehe oder im Beruf. Die Schuld daran geben sie sich wiederum selbst. In ihrem angstgetönt übererregten, melancholischen Zustand sind sie besonders verletzlich und halten schon harmlose Vorkommnisse für Anzeichen, daß jemand sie verlassen möchte oder gegen sie eingenommen ist.
Den sonstigen Anzeichen nach sind diese Patienten auch physiologisch übermäßig erregt. Typischerweise haben sie Schlafprobleme: Gewöhnlich sind sie bereits in aller Frühe hellwach. Sie haben kaum Appetit und sind sexuell desinteressiert; bei Frauen kommt die Menstruation zum Erliegen. Mißt man die Stress-Hormone, dann ist besonders eine permanent übersteigerte Cortisol-Produktion auffällig.
Ob dadurch die Immunabwehr geschwächt ist bleibt allerdings unklar. Es gibt dazu zwar viele Studien – aber nur in einigen ergab sich ein solcher Zusammenhang, in anderen gerade nicht. Es ist indes möglich, daß der Effekt lediglich in manchen Fällen auftritt, denn eine Depression kann verschiedenste geistig-seelische sowie stoffwechselbedingte oder andere biochemische Ursachen haben.
Der hohe Cortisol-Spiegel geht hauptsächlich auf eine Überproduktion von CRH zurück, und die hat ihre Ursache in einem Defekt im Hypothalamus oder in einer ihm übergeordneten Instanz. Die Stress-Achse unterliegt damit nicht mehr voll den sie normalerweise wieder herunterregulierenden Mechanismen und ist deswegen chronisch aktiviert.
Für diese Vermutung spricht auch, daß die gegen Depressionen verabreichten tricyclischen Antidepressiva (so genannt nach dem molekularen Grundgerüst aus drei Kohlenstoffringen) offenbar auf Komponenten des Stress-Systems dämpfend wirken. Gibt man nämlich Ratten über längere Zeit das in der Humanmedizin oft verwendete Imipramin, sinken die Titer von CRH-Vorstufen in ihrem Hypothalamus beträchtlich; kurzfristig wirkt das Medikament nicht. Auch der Organismus gesunder Menschen mit normalem Cortisol-Haushalt, die zwei Monate lang Imipramin erhielten, bildete nun allmählich weniger CRH; und andere Funktionen der hormonellen Stress-Achse wurden mit der Zeit gleichfalls schwächer.
Des weiteren besteht offenbar manchmal ein Zusammenhang zwischen einer klassischen Depression und einer Entzündungskrankheit. Etwa jeder fünfte Arthritis-Patient hat irgendwann auch eine depressive Phase. Als man dem genauer nachging und Arthritikern einen Fragebogen vorlegte, mit dem man sonst die Gemütskrankheit zu diagnostizieren pflegt, kreuzte praktisch jeder von ihnen fast alle der rund ein Dutzend dafür typischen Punkte an.
Folgerungen für Vorsorge und Behandlung
Seit längerem haben sich Ärzte bei einer entzündlichen Erkrankung außer um erkennbare direkte Ursachen vor allem um die damit verbundenen chronischen Schmerzen und den drohenden körperlichen Abbau gekümmert und sonstige, insbesondere seelische Belastungen als eher nebensächlich abgetan. Die Aufdeckung des engen Zusammenspiels von Stress- und Immunsystem aber könnte endlich die gleichzeitige Anfälligkeit beispielsweise für Arthritis und Depression erklären, wenn sich der Verdacht erhärtet, daß beides durch dieselbe hormonelle Fehlsteuerung verursacht ist. Welches Krankheitsbild dann akut wird, dürfte von der Art des verursachenden Störreizes – ob entzündungsfördernd oder psychisch belastend – abhängen. Daran könnte es auch liegen, daß das Auf und Ab von Depressionen bei Arthritikern keineswegs immer mit den Entzündungsschüben parallel verläuft.
Die neuen Befunde bestätigen also die Alltagserfahrung, daß eine belastende Situation eine Entzündungskrankheit verstärken und umgekehrt ein günstiger Wandel der Lebensumstände dem körperlichen Befinden des Patienten aufhelfen kann. Es läßt sich auch gut vorstellen, wie mentale Übungen gegen Stress-Empfindlichkeit die Immunlage verbessern.
Noch weiß man jedoch nicht, inwieweit die Art der Reaktion auf Belastungen einen genetischen Hintergrund hat und in welchem Maße sie bewußt zu kontrollieren ist. Teilweise erblich bedingt ist wohl, bei welcher Reizstärke und wie intensiv das Stress-System anspringt; die hormonelle Empfindlichkeit ist ja ebenfalls individuell verschieden. Entsprechend variabel sind Schwere und Dauer von Krankheitsschüben bei Patienten in sonst gleichen Lebensumständen.
Den Konnex von Stress und Infektanfälligkeit belegen auch Versuche am Menschen. Bei freiwilligen Testpersonen etwa, denen eine bestimmte Menge gewöhnlicher Schnupfenviren verabfolgt wurde, verschleimten die oberen Atemwege stärker und sonderten auch mehr Viruspartikel ab, wenn die Menschen gestresst waren; und bei Medizinstudenten entwickelte sich nach einer Hepatitis-Impfung während des Examens kein voller Immunschutz. Bei geistiger Erschöpfung und starker körperlicher Beanspruchung sollte man mithin Impftermine besser verschieben.
Gleichsinnig verliefen Experimente an Tieren, die mit Menschen anzustellen unzulässig wäre:
- So erkrankten mit Grippeviren infizierte Mäuse unter Stress nicht nur stärker als nicht gestresste; auch die hormonelle Stress-Achse und das sympathische Nervensystem waren bei Stress mehr in Mitleidenschaft gezogen. Ähnliche Effekte scheinen bei vielen Viruserkrankungen aufzutreten. Möglicherweise ist damit sogar zu erklären, weshalb sich Stress ungünstig auf den Verlauf von AIDS auswirken kann.
- Mäuse, die zugleich Mykobakterien und Aufregung ausgesetzt waren, infizierten sich leichter mit den Tuberkuloseerregern als jene, die zwar im infektiösen Milieu lebten, ansonsten aber ihre Ruhe hatten.
- Bei Ratten verlief eine massive Salmonellen-Infektion nicht tödlich, wenn ihre hormonelle Stress-Achse intakt war.
Vor diesem Hintergrund löst sich das Rätsel, wieso man die Immunreaktionen von Tieren allein durch Dressur beeinflussen kann. Robert Ader und Nicholas Cohen von der Universität Rochester (Bundesstaat New York) gaben Ratten öfter Wasser zu trinken, das etwas Saccharin und ein Immunsuppressivum enthielt; nach einiger Zeit genügte das süße Getränk ohne das Medikament, die Abwehrfunktionen weiterhin zu dämpfen.
Da das soziale Umfeld unsere Grundgestimmtheit wesentlich mitbestimmt, wundert es nicht, daß psychische Stressoren wie zwischenmenschliche Probleme und Spannungen schließlich auch die Immunabwehr beeinträchtigen können. Einer Studie zufolge waren solche Personen besonders erkältungsanfällig, die mehr als zwei Monate lang beständig sozialem Druck und Ärger ausgesetzt waren. Auch wer Angehörige über längere Zeit pflegt, hat leicht selber geschwächte Abwehrkräfte, so Ehepartner von Alzheimer-Kranken. Von unglücklich verheirateten oder in Scheidung lebenden Paaren allerdings scheinen öfter die Frauen diese Situation schwerer zu bewältigen; bei jenen, die sich dann äußerst hilflos fühlten, fanden sich nicht nur besonders viele Stress-Hormone, sondern auch verminderte Immunwerte – nicht aber bei den Männern.
Umgekehrt dämpft ein Netzwerk sicherer, stützender und harmonischer Beziehungen die Empfänglichkeit für Stress und festigt die Abwehr. Auch eine Gruppentherapie kann dazu beitragen. Ein verläßliches Umfeld stützt auf diese Weise selbst Schwerkranke; es gibt sogar Hinweise, daß Frauen mit Brustkrebs dann länger leben.
Bei chronischen Krankheiten bot früher ein längerer Aufenthalt in einem Kurort oder Sanatorium oft die einzige Hoffnung. Das half manchmal tatsächlich, und dies läßt sich nun besser begründen: Entspannung durch völlige Abkehr vom Alltag kann bewirken, daß gestörte Kontakte zwischen Immunsystem und Gehirn sich wieder einregeln und normalisieren. Dies stärkt vor allem die Abwehrkräfte – die erste Voraussetzung für eine Genesung. Das gilt auch heute noch, wenngleich man solche heilsamen Prozesse inzwischen medikamentös zu unterstützen vermag.
Alles in allem ist die scharfe Trennung zwischen psychischen und organischen Krankheiten überholt. Körper und Seele, so erweist die Psychoneuroimmunologie, sind eng verknüpft.
Literaturhinweise
- Netzwerk Mensch. Den Verbindungen von Körper und Seele auf der Spur. Von Gaby Miketta. Rowohlt, Reinbek 1994.
– Kommunikationsnetzwerke im Körper. Psychoneuroimmunologie – Aspekte einer neuen Wissenschaftsdisziplin. Herausgegeben von Kurt S. Zänker. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1991.
– Psychoneuroimmunologie. Herausgegeben von Manfred Schedlowski und Uwe Tewes. Spektrum Lehrbuch. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996.
– Stress. Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seiten 92 bis 109.
– Stress: Mechanisms and Clinical Implications. Von G. P. Chrousos, R. McCarty, K. Pacak, G. Cizza, Esther M. Sternberg, Philipp W. Gold und R. Kvetnansky in: Annals of the New York Academy of Sciences, Band 771, 1995.
– Emotions and Disease: From Balance of Humors to Balance of Molecules. Von Esther M. Sternberg in: Nature Medicine, Band 3, Heft 3, Seiten 264 bis 267, März 1997.
– The Neurologic Basis of Fever. Von Clifford B. Saper und Christopher D. Breder in: New England Journal of Medicine, Band 330, Heft 26, Seiten 1880 bis 1886, 30. Juni 1997.
– Im WWW Informationen zum Thema bei den amerikanischen National Institutes of Health in Bethesda (Maryland) unter: http://ohrm.od.nih.gov/ose/ snapshots
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1997, Seite 64
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