Psychoanalyse: Freuds Kritiker
Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gärt es im Deutschen Kaiserreich. Seit einigen Monaten sind die Sozialdemokraten stärkste Fraktion im Reichstag, was von konservativer Seite mit Argwohn beobachtet wird. Zwischen Deutschland und Großbritannien nehmen die Spannungen zu, nicht zuletzt wegen der Aufrüstung der deutschen Flotte. Gleichzeitig kommt das Militär durch Willkürakte in Verruf, was zum ersten Missbilligungsvotum gegen einen deutschen Reichskanzler führt. In Berlin gründet Rudolf Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn verlieben sich, die Künstlergruppe "Die Brücke" löst sich auf.
1913 findet auch ein weniger spektakuläres Ereignis statt, das aber nicht minder "repräsentativ" für die Zeit ist. In Breslau versammeln sich die Mitglieder des Deutschen Vereins für Psychiatrie, um ihre Jahresversammlung abzuhalten. Berühmte Forscherpersönlichkeiten kommen in der schlesischen Stadt zusammen, darunter Alois Alzheimer, Karl Bonhoeffer, Emil Kraepelin und Robert Gaupp. Das Thema des ersten Tages gilt einem Mann, der zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt ist, "eine Legende" zu sein. Das Interesse an Sigmund Freuds Psychoanalyse zielt weder auf eine etablierte Wissenschaft noch auf einen anerkannten Wissenschaftler. Freud steht weder isoliert da, wie er selbst behauptete, noch ist er einer von vielen, wie spätere Kritiker glauben lassen wollen. Trotzdem ist Freud im Jahr 1913 in aller Munde.
Im späten Kaiserreich befassten sich ganz unterschiedliche Gruppen mit der Psychoanalyse, denen es um ganz unterschiedliche Fragen ging. Die Psychiater reagierten als Psychiater, die Jugendbewegten als Jugendbewegte, die Literaten als Literaten. Diejenigen, die sich etwas von der Psychoanalyse erhofften, pickten sich die Teile, die ihnen zusagten, heraus – ob nun "Wahrhaftigkeit", "Sublimierung" oder "Sexualität".
Freuds Psychoanalyse war vor allem in einer Hinsicht verlockend: Sie versprach Schülern, Studenten, Bohemiens, Anarchisten und Expressionisten die Aussicht, sich von ("unbewussten") Autoritätsbildern zu lösen, seien diese in der Familie, in Bildungseinrichtungen oder in der Politik zu finden. Damit gab sie dem Wunsch Ausdruck, "Individualität" und "Authentizität" wiederherzustellen in einer Welt voller "heuchlerischer", "ungesunder" und "repressiver" Regeln.
Verlockend war sie aber auch aus einem weiteren Grund: Da die Wissenschaft über viel Prestige verfügte, konnte jeder, der die Psychoanalyse für sich entdeckte, auch an dieser Welt teilhaben. Frank Wedekind und August Strindberg hatten schon gegen die Welt der "Väter" aufbegehrt, nun versprach Freud dasselbe im wissenschaftlichen Gewand. Dass sich bei Freud "Subjektivität" und "Objektivität", Hermeneutik und Naturwissenschaft nicht feindlich gegenüberstanden, machte für viele – übrigens bis heute – seinen Reiz aus.
Diese "mangelnde" Abgrenzung war für andere jedoch Grund genug, die Psychoanalyse zurückzuweisen ...
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