Quanten-Hall-Effekt und Supraleitung
Sperrt man Elektronen in die Grenzfläche zwischen zwei Halbleiterschichten und setzt sie bei niedrigsten Temperaturen einem äußeren Magnetfeld aus, so nimmt ihre Beweglichkeit sprunghaft mit dessen Stärke zu. Dieser Quanteneffekt hängt einer neuartigen Erklärung zufolge eng mit dem Phänomen der Supraleitung zusammen.
Schon die Naturphilosophen der griechischen Antike suchten hinter der Vielfalt der uns umgebenden Welt eine einzige Wesenheit oder ein Minimum an Grundprinzipien. Seither hat sich dieser reduktionistische Ansatz der Naturerklärung als äußerst erfolgreich erwiesen; vor allem in der Hochenergiephysik ist es gelungen, die Grundbausteine von Materie und Energie in wenige Familien einzuteilen und die Naturgesetze in Form von Wechselwirkungen zwischen diesen Teilchen auszudrücken (siehe Spektrum der Wissenschaft, März 1996, Seite 42).
Ganz anders ist die Lage in der Festkörperphysik. Wie man in unserem Jahrhundert entdeckt hat, sind die Elektronen je nach Art der Materie, durch die sie sich bewegen, höchst unterschiedlich organisiert. Normalerweise ist ein Festkörper entweder ein Isolator mit hohem elektrischen Widerstand oder ein Metall, das Strom gut (aber mit dennoch merklichem Widerstand) leitet. Außerdem können manche Festkörper unter bestimmten Umständen in einen supraleitenden Zustand übergehen, der elektrischem Strom überhaupt keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Die theoretischen Modelle für diese unterschiedlichen Zustände sind bislang so vielfältig wie die Phänomene selbst.
Das könnte sich jedoch schon bald ändern, denn kürzlich hat man einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Supraleitfähigkeit und dem Quanten-Hall-Effekt entdeckt. Dieser seltsame Effekt tritt nur auf, wenn im Festkörper drei spezielle Bedingungen zugleich herrschen: Die Elektronen sind in der Grenzfläche zwischen zwei Halbleiterkristallen gefangen, so daß sie sich nur in zwei Dimensionen bewegen können; sie sind auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt gekühlt; sie sind einem starken Magnetfeld ausgesetzt (Bild 1).
Das Feld veranlaßt die Elektronen, senkrecht zur momentanen Stromrichtung abzudriften, und erzeugt somit eine seitlich wirkende Kraft. Diese elektrische Spannung nimmt mit wachsender Stärke des Magnetfelds zu – allerdings nicht linear, sondern in wohldefinierten Stufen. Eben das ist der Quanten-Hall-Effekt; er gilt als typisches Anzeichen eines eigenen Materiezustands.
Als nämlich der Effekt 1980 entdeckt wurde, stellten die Physiker fest, daß die Elektronen sich in diesem außergewöhnlichen Materiezustand völlig anders verhalten als in allen zuvor bekannten. Doch die neueste Forschung hat eine verblüffende Beziehung zwischen ihm und der vertrauteren Supraleitung enthüllt. Davon ausgehend ließen sich sogar weitere Phasenzustände der Materie vorhersagen und inzwischen auch experimentell bestätigen.
Obwohl der Quanten-Hall-Effekt keinen unmittelbar praktischen Wert haben mag, hat seine Erforschung die Entwicklung neuer Modelle und theoretischer Methoden angeregt. Sie werden wahrscheinlich ähnlich folgenreich sein wie die Theorie der Supraleitung für die Weiterentwicklung der Elementarteilchenphysik oder wie die Erforschung der Phasenübergänge für das Verständnis des frühen Universums.
Zudem gewährt der Effekt Einblick in das erstaunliche Verhalten der subatomaren Welt und gibt dadurch Anregungen für eine umfassendere Theorie des physikalischen Universums. Überdies könnte er für die Konzeption künftiger Halbleiterelemente wichtig sein; sie werden mit zunehmender Miniaturisierung so winzig, daß man quantenmechanische Effekte und die Wechselwirkung zwischen den Elektronen von vornherein berücksichtigen muß.
Die Entdeckung des Quanten-Hall-Effekts
Der Effekt ist die quantenphysikalische Spielart eines bekannten Phänomens, das der amerikanische Physiker Edwin H. Hall (1855 bis 1938) entdeckt hat. Legt man an die Enden eines Leitungsdrahtes eine Spannung an, beginnt ein Strom zu fließen. Wird der Leiter nun in ein Magnetfeld gebracht, wirkt auf die fließenden Elektronen zusätzlich eine seitwärts gerichtete Kraft. Dadurch etabliert sich eine ungleichmäßige Verteilung der Ladungsträger: Auf der einen Seite des Leiters drängen sie sich zusammen, auf der anderen dünnen sie aus. Dadurch wiederum entsteht eine elektrische Spannung senkrecht zur Stromrichtung. Diese Hall-Spannung läßt sich einfach nachweisen, indem man sie mit einem herkömmlichen Voltmeter an den Seiten des Leiters abgreift. Bei konstantem Strom steigt die Hall-Spannung mit der Stärke des Magnetfeldes gleichförmig an (Bild 2 links oben). Im Jahre 1980 entdeckte Klaus von Klitzing – damals am Hochfeld-Magnetlabor in Grenoble (Frankreich), das gemeinsam vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und der französischen Nationalen Forschungsorganisation CNRS betrieben wird –, daß dieser klassische Hall-Effekt unter bestimmten Umständen nicht den gewöhnlichen Regeln gehorcht. In speziellen Halbleiterelementen, die Michael Pepper von der Universität Cambridge (England) und Gerhard Dorda von den Siemens-Forschungslaboratorien in München konstruiert hatten, ließ sich die Beweglichkeit der Elektronen zwischen zwei kristallinen Halbleitern auf zwei Dimensionen einschränken. Als die Forscher die Elektronen zudem auf ein bis zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt abkühlten, entdeckten sie, daß die Hall-Spannung nicht gleichmäßig mit der Stärke des Magnetfelds zunahm (siehe "Der Quanten-Hall-Effekt" von Klaus von Klitzing, Spektrum der Wissenschaft, März 1986, Seite 46). Vielmehr wuchs sie stufenweise, indem manche Spannungswerte über kleine Feldstärkebereiche konstant blieben (Bild 2 rechts oben). Obendrein verschwand dort die Längsspannung, die normalerweise zur Aufrechterhaltung des Stromes erforderlich ist, fast vollständig (Bild 2 rechts unten). Das zweidimensionale Medium wurde also für die darin eingesperrten Elektronen perfekt leitend (wenn auch nicht im eigentlichen Sinne supraleitend, denn anders als bei Supraleitung vermögen Elektronen bei perfekter Leitung kein äußeres Magnetfeld zu verdrängen). Besonders verblüffend ist, daß bei jedem Plateau die sogenannte Hall-Leitfähigkeit (der Quotient aus Längsstrom und Hall-Spannung) einen ganz bestimmten Wert annimmt. Wie von Klitzing fand, entspricht diese Größe jeweils einem ganzzahligen Vielfachen eines universellen Leitfähigkeitsquants, dessen Kehrwert (ein Widerstand) 25812,8 Ohm beträgt. Sensationell daran ist, daß das Leitfähigkeitsquant sich nur aus Naturkonstanten zusammensetzt: Es läßt sich als e2/h schreiben, wobei e die Ladung des Elektrons und h das Plancksche Wirkungsquantum bedeutet. Für die Entdeckung dieses ganzzahligen Quanten-Hall-Effekts erhielt von Klitzing 1985 den Nobelpreis für Physik. Schon 1982 waren Daniel C. Tsui, der jetzt an der Universität Princeton (New Jersey) ist, Horst L. Störmer von den AT&T-Bell-Laboratorien in Murray Hill (New Jersey) und Arthur C. Gossard, jetzt an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara tätig, auf eine weitere Nuance des Phänomens gestoßen, den sogenannten fraktionierten Quanten-Hall-Effekt: Die Hall-Spannung bildet bei bestimmten Bruchteilen (beispielsweise 1/3, 2/5 und 3/7) des Leitfähigkeitsquants zusätzliche Plateaus. Bisher hat man experimentell keinerlei Abweichung der gemessenen Hall-Leitfähigkeiten von diesen quantisierten Werten gefunden. Die Übereinstimmung ist auf mindestens 1 zu 10 Millionen genau, vermutlich sogar bis auf 1 zu 100 Milliarden. Darum gilt der Quanten-Hall-Effekt heute als internationaler Standard zur Eichung von Widerstandsmeßgeräten.
Magische Füllfaktoren
Warum nimmt die Hall-Leitfähigkeit just diese Werte an? Nach jahrelangen Überlegungen und Untersuchungen scheint jetzt die Antwort gefunden: Das Phänomen hängt mit der Stärke des Magnetfeldes zusammen, das auf das einzelne Elektron einwirkt. Quantenmechanisch wird die Einwirkung eines Magnetfelds auf eine Probe mittels sogenannter magnetischer Flußquanten beschrieben, die man sich anschaulich als Pfeile von bestimmter Länge und Richtung vorstellen kann. Die Anzahl der Flußquanten (Pfeile), die eine bestimmte Probenfläche durchdringen, ist ein Maß für die Stärke des Feldes. Eine zweite wichtige Größe ist der Füllfaktor. Darunter versteht man die Anzahl der Elektronen in einer Probe, geteilt durch die Anzahl der diese Probe durchdringenden Flußquanten. Der Füllfaktor ist gleich eins, wenn es ebenso viele Elektronen wie Flußquanten gibt; er ist gleich 1/3, wenn auf jedes Elektron drei Flußquanten entfallen. Zwischen den quantisierten Werten der Hall-Leitfähigkeit und den zugeordneten Füllfaktoren (die in diesem Falle magisch genannt werden) existiert nun ein einfacher Zusammenhang: Ist der Füllfaktor eins, so beträgt die Hall-Leitfähigkeit 1×e2/h; bei einem Füllfaktor 1/3 ist die Hall-Leitfähigkeit gleich 1/3×e2/h und so weiter. Robert B. Laughlin, jetzt an der Universität Stanford (Kalifornien) tätig, erklärte als erster die Plateaus der Hall-Leitfähigkeit mit Hilfe unterschiedlicher mathematischer Modelle für die ganzzahligen beziehungsweise fraktionierten Füllfaktoren. Seine bahnbrechenden Erklärungen beruhen auf Wellenfunktionen, die den Zustand von Quantenteilchen beschreiben. Freilich hatte Laughlins Ansatz gewisse Schwächen. Wegen seiner Vereinfachungen ließ er sich nur schwer auf reale Festkörper anwenden, die stets viele Fehlstellen enthalten. Da Wellenfunktionen abstrakte Gebilde sind, waren Laughlins Erklärungen auch ziemlich unanschaulich; sie ließen nicht erkennen, ob und wie der Quanten-Hall-Effekt mit anderen elektrischen Vorgängen in Festkörpern zusammenhängt. Außerdem sind ganzzahliger und fraktionierter Quanten-Hall-Effekt so ähnlich, daß es dafür ein einheitliches Modell geben sollte. Wir haben nun aus einer präzisen mathematischen Analogie zwischen Quanten-Hall-Effekt und Supraleitung eine neuartige Erklärung des Effekts entwickelt. Die Analogie vereinigt nicht nur zwei vordem scheinbar separate Phänomene, sondern ermöglicht uns auch, das Wissen über die Supraleitung auf den Quanten-Hall-Effekt anzuwenden. Dieser Ansatz ergänzt den von Laughlin und enthält viele seiner Erkenntnisse. Dennoch gehen wir anders vor: Wir konzentrieren uns nicht auf die unanschaulichen mikroskopischen Eigenschaften eines idealisierten Systems, sondern auf die realen makroskopischen Observablen des Festkörpers. Die ersten Schritte in dieser Richtung unternahmen 1987 Steven M. Girvin und Allan H. MacDonald, die inzwischen an der Universität von Indiana in Bloomington tätig sind: sie interpretierten die für den Quanten-Hall-Effekt verwendeten Wellenfunktionen als supraleitenden Zustand einer hypothetischen Teilchenart, des zusammengesetzten oder Verbund-Bosons (composite boson). Eine ähnliche Idee hatte etwas später auch Nicholas Read, der jetzt an der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) arbeitet.
Bosonen und Fermionen
Die Bosonen sind eine der beiden Familien, in die sich alle physikalischen Teilchen aufgrund ihres statistischen Gruppenverhaltens einordnen lassen: Die Wellenfunktion einer Ansammlung von Bosonen bleibt unverändert, wenn zwei davon ihre Plätze tauschen; hingegen wechselt bei der anderen Teilchenfamilie, den Fermionen, die Wellenfunktion beim Vertauschen zweier Teilchen das Vorzeichen.
Elektronen, Protonen und Neutronen sind Fermionen. Ein Atom, das sich aus diesen Teilchensorten zusammensetzt, läßt sich insgesamt als ein einziges (zusammengesetztes) Teilchen betrachten. Welcher Familie es zugehört hängt von der Gesamtzahl seiner Komponenten ab: Ist sie gerade, ist das Atom ein Boson – zum Beispiel Isotop Helium-4 aus zwei Elektronen, zwei Protonen und zwei Neutronen; hingegen ist das Isotop Helium-3 mit fünf, also einer ungeraden Zahl von Komponenten (zwei Elektronen, zwei Protonen und nur einem Neutron) insgesamt ein Fermion.
Bosonen und Fermionen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Besetzungsregeln für quantenmechanische Zustände. Fermionen gehorchen dem Paulischen Ausschlußprinzip, das nach dem Physiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958; Nobelpreis 1945) benannt ist: Sie dürfen niemals zu zweit denselben Zustand einnehmen – das heißt, sie können nicht zur selben Zeit am selben Ort sein. Für Bosonen gilt diese Regel nicht: Im Prinzip können beliebig viele Bosonen ein und denselben Zustand besetzen (Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 32).
Der grundlegende Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen liegt vielen physikalischen Phänomenen zugrunde – so auch dem höchst unterschiedlichen Verhalten von Supraleitern gegenüber gewöhnlichen Metallen. Die elektrische Leitfähigkeit eines Metalls läßt sich ohne weiteres aus den Eigenschaften von Fermionen (in diesem Falle Elektronen) erklären; hingegen beruht die Supraleitung auf Bosonen.
Das mag auf den ersten Blick überraschen, denn Träger des elektrischen Stromes sind in allen Festkörpern die Elektronen, also Fermionen. Doch in der supraleitenden Phase umgehen die Elektronen die üblichen Regeln für Fermionen und bilden Paare, die sich jeweils wie ein Boson verhalten. Darum können all diese Paare denselben Quantenzustand besetzen und dadurch Supraleitfähigkeit hervorrufen. Im normalen metallischen Zustand behalten die Elektronen hingegen ihre separate Identität als Fermionen; sie gehorchen dem Pauli-Prinzip, nehmen verschiedene Zustände ein und können sich darum nicht supraleitend verhalten.
Elektronen als Verbundbosonen
Die Erklärung des Quanten-Hall-Effekts mittels Verbundbosonen haben zwei von uns (Zhang und Kivelson) 1989 zusammen mit T. Hans Hansson entwickelt, der nun an der Universität Stockholm (Schweden) ist. Nach unserer Theorie sind Elektronen, die sich in zwei Dimensionen in einem starken Magnetfeld bewegen, mathematisch einer Ansammlung von Verbundbosonen in einem viel schwächeren Magnetfeld äquivalent. Insbesondere verschwindet das auf die Verbundbosonen einwirkende Magnetfeld völlig, wenn der Elektronenfüllfaktor einen magischen Wert (1, 1/3 oder 1/5) erreicht. Dann, so folgerten wir, verhalten sich die Verbundbosonen praktisch supraleitend. Außerdem zeigten wir, daß diese Teilchen, wenn sie zur Supraleitung übergehen, die quantisierten Hall-Leitfähigkeiten hervorrufen.
Zusammen mit Matthew P.A. Fisher, der jetzt an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara tätig ist, erweiterte einer von uns (Lee) diese Theorie auf die komplizierteren quantisierten Hall-Plateaus wie 2/5 und 3/7. Von diesen Arbeiten ausgehend untersuchten wir drei schließlich gemeinsam den Quanten-Hall-Effekt unter unterschiedlichsten Bedingungen.
Die Theorie der Verbundbosonen beruht auf der mathematischen Äquivalenz zwischen Elektronen, die sich in zwei Dimensionen bewegen, und einer Ansammlung von Bosonen, die einen fiktiven magnetischen Fluß tragen. Wie sich herausstellt, muß jedes Boson eine ungerade Anzahl fiktiver magnetischer Flußquanten tragen, damit es die Fermi-Statistik des ihm äquivalenten Elektrons zu imitieren vermag. Diese Quantenstatistik für ein System aus Teilchen mit halbzahligem Spin – eben den Fermionen – hatte der italienische Physiker Enrico Fermi (1901 bis 1954; Nobelpreis 1938) zusammen mit seinem englischen Kollegen Paul Dirac (1902 bis 1984; Nobelpreis 1933) entwickelt.
Reale und fiktive Flußquanten
Um die Wirkung des fiktiven magnetischen Flusses zu veranschaulichen, betrachten wir einen der magischen Füllfaktoren, bei denen die Hall-Spannung ein Plateau bildet – beispielsweise 1/3. Bei diesem Wert entfallen auf jedes Elektron drei Quanten des realen magnetischen Flusses. Nun interpretieren wir jedes Elektron nicht mehr als Fermion, sondern als ein Verbundboson, das an drei Quanten des fiktiven Flusses gebunden ist. Diese drei Flußquanten richten wir entgegengesetzt zur Richtung des äußeren Magnetfelds aus. Der auf das Boson einwirkende Gesamtfluß ist die Summe aus realem und fiktivem Fluß und somit gleich null. Da Bosonen bekanntlich bei niedrigen Temperaturen und in Abwesenheit eines Magnetfelds supraleitend werden, dürfen wir dies auch von kalten Verbundbosonen beim Füllfaktor 1/3 erwarten (Bild 3). Warum folgt aus der Supraleitung von Verbundbosonen die perfekte Leitfähigkeit in Stromrichtung sowie senkrecht dazu die quantisierte Hall-Leitfähigkeit? Der erste Teil der Frage beantwortet sich von selbst: Weil die Verbundbosonen supraleitend sind, ist zur Erhaltung des Stromes keine Spannung nötig – es herrscht perfekte Leitfähigkeit. Schwieriger ist der zweite Teil zu beantworten. Wie erläutert, führt jedes Verbundboson eine ungerade Anzahl fiktiver magnetischer Flußquanten mit sich. Doch wenn magnetische Flüsse (sogar fiktive) sich bewegen, erzeugen sie eine elektrische Spannung, die sowohl zur Fluß- wie zur Bewegungsrichtung senkrecht steht; dies folgt aus dem Induktionsgesetz von Michael Faraday (1791 bis 1867). Die Querspannung ist proportional zur Menge des fiktiven Flusses, der pro Sekunde durch die Probe tritt. Bei einem Füllfaktor 1/3 ist demnach der Durchstrom des fiktiven magnetischen Flusses dreimal so groß wie der elektrische Strom. Das wiederum erklärt, warum die Hall-Leitfähigkeit 1/3 des Leitfähigkeitsquants ausmacht (Bild 4). So gesehen liegt der einzige Unterschied zwischen den magischen Füllfaktoren – ob sie nun 1, 1/3 oder 1/5 betragen – in der Anzahl der fiktiven magnetischen Flußquanten, die jedes Verbundboson trägt. Zudem hängt die quantisierte Hall-Leitfähigkeit (1×e2/h, 1/3×e2/h, 2/5×e2/h und so weiter) nur vom Verhältnis zwischen Ladung und Fluß im Verbundboson ab und nicht von den speziellen Eigenschaften des Materials, in dem man sie beobachtet. Unser Modell erklärt zudem, warum die Hall-Leitfähigkeit sogar dann, wenn der Füllfaktor leicht von einem magischen Wert abweicht, unverändert bleibt. Ist der Elektronenfüllfaktor beispielsweise ein wenig größer als 1/3, gleicht der fiktive Fluß den realen nur teilweise aus, und auf die Verbundbosonen wirkt ein schwaches Restfeld. Doch wie ein echter Supraleiter toleriert auch der Verbundbosonen-Supraleiter ein schwaches Magnetfeld. Darum bleibt die Hall-Leitfähigkeit in einem kleinen Bereich um den Füllfaktor 1/3 unverändert. Die Analogie zwischen Supraleitung und Quanten-Hall-Effekt geht sogar noch weiter. Beispielsweise verdrängt ein Supraleiter Magnetfelder. Übertragen auf den Quanten-Hall-Effekt heißt dies, daß die Elektronen jeglicher Veränderung der von ihnen besetzten Gesamtfläche widerstehen; man sagt, die Hall-Elektronen seien inkompressibel. Auch anderen, weniger offensichtlichen Aspekten der Supraleitung entsprechen direkte Analogien beim Quanten-Hall-Effekt (siehe Kasten auf Seite 56).
Ein Phasendiagramm für Elektronen in der Ebene
Unsere Ergebnisse lassen sich in einem Phasendiagramm darstellen, in dem man üblicherweise das physikalische Verhalten eines Materials unter verschiedenen Bedingungen zusammenfaßt. Eine Ansammlung von Wassermolekülen etwa kann bei unterschiedlichen Drücken und Temperaturen als Flüssigkeit, Eis oder Dampf existieren. Das Phasendiagramm zeigt dann den Aggregatzustand von Wasser je nach Druck und Temperatur an.
Statt dieser beiden Variablen benutzt man für das Phasendiagramm von Elektronen, die zwischen zwei Halbleiterkristallen eingesperrt sind, als Parameter die magnetische Feldstärke und die Störstellendichte (die Unordnung) in den Kristallen. Wir haben ein derartiges Diagramm aus dem bekannten Phasendiagramm von Supraleitern entwickelt, und es ergab sich eine schöne, mehrfach ineinander verschachtelte Struktur (Bild 5).
Aus der Theorie ließ sich zudem ein unerwarteter Zustand vorhersagen, in dem die Elektronen gleichzeitig die Eigenschaften eines Isolators und eines Metalls annehmen. Die Existenz eines solchen Hall-Isolators haben jüngst Hong-Wen Jiang und Kang-Lung Wang von der Universität von Kalifornien in Los Angeles sowie Scott T. Hannahs von der Staatsuniversität von Florida in Tallahassee experimentell bestätigt: Als sie die Störstellendichte in den Halbleitern über einen bestimmten Grad erhöhten, ließ sich der Strom nur noch mit einer sehr hohen Spannung aufrechterhalten. Die erforderliche Spannung nahm gleichmäßig zu, wenn die Temperatur bis in die Nähe des absoluten Nullpunkts gesenkt wurde – das typische Verhalten eines Isolators. Hingegen blieb die Hall-Spannung von der Temperatur unabhängig und stieg mit der Stärke des Magnetfelds – charakteristisch für ein Metall.
Für eine weitere Überraschung sorgten Versuche von Jiang, Tsui, Störmer sowie Loren N. Pfeiffer und Ken W. West von den AT&T-Bell-Laboratorien: In der Nähe des Füllfaktors 1/2 verhalten sich die Elektronen, als befänden sie sich statt in einem Magnetfeld in einem gewöhnlichen Metall. Unter anderem ist in diesem Bereich die Hall-Leitfähigkeit nicht quantisiert, sondern wächst linear mit der Magnetfeldstärke.
Eine faszinierende Erklärung für dieses sogenannte Hall-Metall besagt, daß ein Elektron sich als zusammengesetztes Teilchen ansehen läßt. Ein solches Verbundfermion ähnelt einem Verbundboson, trägt aber eine gerade Anzahl fiktiver magnetischer Flußquanten und gehorcht insofern der Fermi-Statistik. Als erster hatte Jainendra K. Jain von der Staatsuniversität von New York in Stony Brook diese Idee unterbreitet; Read, Bertrand I. Halperin von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), Patrick A. Lee vom dortigen Massachusetts Institute of Technology sowie unabhängig davon Vadim Kalmeyer – früher am Almaden-Forschungszentrum der Firma IBM in San Jose (Kalifornien) – und einer von uns (Zhang) haben sie weiter ausgearbeitet.
Modelle mit Verbundbosonen und -fermionen haben den Vorteil, daß sich das zunächst exotisch anmutende Verhalten von Elektronen in der Ebene auf das vertraute von zusammengesetzten Teilchen zurückführen läßt. Offen bleibt allerdings noch, ob Verbundteilchen tatsächlich als solche existieren oder ob sie – ähnlich wie die Quarks in der Hochenergiephysik – eher nur theoretisch nützliche Gebilde sind, die man nicht isoliert zu untersuchen vermag.
Aussicht auf ein umfassendes Modell
Auch sechzehn Jahre nach seiner Entdeckung ist der Quanten-Hall-Effekt ein besonders interessantes Forschungsgebiet der Festkörperphysik geblieben. Die verwirrende Vielfalt der Phänomene hat zunächst zu fast ebenso vielen theoretischen Erklärungsversuchen angeregt; doch nun zeichnet sich allmählich ein umfassendes Bild ab. Freilich sind wichtige Fragen noch unbeantwortet. So versteht man noch längst nicht, was ein Hall-Isolator und ein Hall-Metall eigentlich sind; auch weiß man noch nicht, wie typische Eigenschaften von Elektronen – insbesondere ihr Spin – in das skizzierte Gesamtbild passen.
Außer Fortschritten zu einer einheitlichen Quantentheorie fester Körper verspricht die Klärung des Quanten-Hall-Effekts auch praktischen Nutzen. Schon im März 1986 schloß Klaus von Klitzing seinen Artikel in dieser Zeitschrift mit der Anmerkung: "Niemand hat bei den grundlegenden Betrachtungen über Quantenphänomene in dünnen Halbleiter-Schichten an den quantisierten Hall-Widerstand gedacht oder daran geglaubt, daß solche Quantenphänomene die Grundlage für die Entwicklung neuartiger Halbleiter-Laser oder schneller Feldeffekt-Transistoren bilden würden. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden künftige Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Halbleiter-Bauelemente dadurch geprägt sein, daß Quantenphänomene ihre Arbeitsweise beeinflussen."
Literaturhinweise
– Anyonen. Von Frank Wilzcek in: Spektrum der Wissenschaft, Juli 1991, Seite 54.
– The Chern-Simons-Landau-Ginzburg Theory of the Fractional Quantum Hall Effect. Von Shou-Cheng Zhang in: International Journal of Modern Physics B, Band 6, Heft 1, Seiten 25 bis 58, Januar 1992.
– Global Phase Diagram in the Quantum Hall Effect. Von S. Kivelson, D.-H. Lee und S.-C. Zhang in: Physical Review B, Band 46, Heft 4, Seiten 2223 bis 2238, 15. Juli 1992.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 52
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