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Quarks außer Rand und Band



Manche Physiker haben eine Neigung zum Außergewöhnlichen – zu extremen Temperaturen und Drücken beispielsweise. Einem internationalen Wissenschaftlerteam ist es nun gelungen, sich in kollektiver Zusammenarbeit dem ultimativen Höhepunkt anzunähern: dem Urknall, der einst in einer unvorstellbar heftigen Eruption des Raum-Zeit-Gefüges unser Universum gebar.

Damals – irgendwann vor 12 bis 15 Milliarden Jahren – war die gesamte Energie des heutigen Kosmos in einem winzigen Raumbereich konzentriert. Materie, wie wir sie kennen, gab es noch nicht. Erst wenige Sekundenbruchteile später flitzten zwei Arten von Teilchen in diesem extrem heißen, ultradichten Feuerball umher: Quarks und Gluonen. Als das dichte Gewühle sich weiter ausdehnte und dabei auf eine Temperatur von etwa zwei Billionen Grad abkühlte, durchlief das Universum einen so genannten Phasenübergang. Ähnlich wie die frei beweglichen Wassermoleküle in der Dampfphase beim Abkühlen zu Tröpfchen kondensieren, so flockten aus dem Quark-Gluon-Plasma nun komplexere Elementarteilchen aus. Beispielsweise lagerten sich je drei Quarks zu Protonen und Neutronen zusammen, also zu den Teilchen, aus denen später gewöhnliche Atomkerne entstanden. Andere Quarks gingen paarweise Bindungen mit ihren Antiteilchen ein: Aus je einem Quark und Antiquark entstand ein Meson. Und die Gluonen? Die sorgten für die starken Bindungskräfte zwischen den Quarks. Wie Klebeteilchen halten die Gluonen (nach glue für englisch Leim) seitdem die Quarks zusammen, die deshalb niemals wieder allein aufzutreten vermochten: Kaum entstanden, waren sie bereits einige Mikrosekunden nach dem Urknall in größeren Einheiten gefangen, den so genannten Hadronen.

Diese Vorgänge im frühesten Entwicklungsstadium des Universums kennen die Physiker nur aus der Theorie. Ob die Modelle mit der Realität übereinstimmen, ließe sich erst klären, wenn man auf der Erde ähnliche Verhältnisse wie beim Urknall erzeugen könnte. Dazu müsste im Labor ein winziges Stück Materie auf sehr hohe Dichte zusammengequetscht und extrem stark erhitzt werden. Entstünde dabei tatsächlich ein Quark-Gluon-Plasma, würde der winzige Feuerball sozusagen einen Urknall en miniature darstellen.

Bereits Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre überlegten sich Forschergruppen an der Universität Frankfurt und am Lawrence-Livermore-Nationallaboratorium in Kalifornien, dass ein solcher überdichter, heißer Materiezustand durch Kollisionen schwerer, energiereicher Ionen herzustellen sein müsste. Experimente an der Universität von Kalifornien in Berkeley und bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt zeigten denn auch, dass beschleunigte Ionen, die auf Kerne in einem fest montierten Target treffen, diese nicht einfach durchdringen – wie von einigen Theoretikern vorhergesagt worden war –, sondern abgestoppt werden. Im Jahre 1990 gelang schließlich der Nachweis, dass sich Projektil und Targetkern bei einem zentralen Stoß vollständig auflösen und die Trümmer der beiden Kerne mit etwa halber Projektilgeschwindigkeit weiterfliegen (siehe "Nukleare Stoßwellen und Quark-Materie", Spektrum der Wissenschaft, 1/1992, S. 46). Vom gemeinsamen Schwerpunkt der beiden Kerne aus betrachtet, bedeutet dies, dass beim Aufprall die gesamte Bewegungsenergie des auftreffenden Ions in Kompression und Wärme umgewandelt wird.

Rechnungen zeigten, dass die schweren Ionen mit Energien von mehreren Gigaelektronenvolt (GeV) pro Kernbaustein aufeinander prallen müssen, um die Energiedichten und Temperaturen hervorzurufen, die für die kurzzeitige Erzeugung eines Quark-Gluon-Plasmas erforderlich sind. In diesem Plasmazustand sind Quarks und Gluonen nicht länger im Inneren der Hadronen eingeschlossen, sondern sollten sich frei im Kernsystem bewegen. Allerdings expandiert die Plasmawolke rasch, kühlt dabei ab und vollzieht einen Phasenübergang, durch den wieder Hadronenmaterie entsteht.

Mit der Weiterentwicklung von Teilchenbeschleunigern konnte man schließlich schwere Ionen wie Gold oder Blei auf die erforderliche Geschwindigkeit bringen. Am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik Cern in der Nähe von Genf ging 1994 ein Injektor in Betrieb, der Strahlen aus Blei-Ionen in das dorti-ge Super-Proton-Synchrotron (SPS) einschießt. Dieser Beschleuniger hetzt die Ionen mit Energien von 33 Teraelektronenvolt – das entspricht 160 GeV pro Kernbaustein – im Kreis herum und lässt sie dann auf eine dünne Bleifolie prallen. Gelegentlich stößt dabei eines der Projektile fast zentral auf einen ruhenden Targetkern. Jede solche Kollision lässt mehrere hundert Partikel entstehen, die schauerartig vom Kollisionspunkt wegstreben und mit speziellen Detektoren registriert werden können. Mehrere Teams bauten insgesamt sieben Experimente an dem Ringbeschleuniger auf und suchten in den vergangenen sechs Jahren nach Anzeichen für ein Quark-Gluon-Plasma.

Die Hinweise waren anfangs allerdings weniger eindeutig, als manche gehofft hatten. Es gibt eben Experimente, die keine klare Ja-Nein-Aussage liefern. In diesem Falle ist der Feuerball einfach zu klein, als dass er sich direkt untersuchen ließe – die Wissenschaftler müssen sich mit den Kerntrümmern begnügen, die vom Kollisionspunkt mit hoher Geschwindigkeit wegfliegen. Aus ihnen müssen sie sozusagen herauslesen, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. Um dies zu erkunden und um Fehlinterpretationen durch Sekundärreaktionen in der zerplatzenden Partikelwolke zu vermeiden, war bei dem mehrjährigen Forschungsprogramm eine enge Zusammenarbeit sowohl zwischen Experimentatoren und Theoretikern als auch zwischen Kern- und Elementarteilchenphysikern erforderlich.

In den letzten Jahren hatten sich nach und nach die Hinweise auf ein Quark-Gluon-Plasma verdichtet (Spektrum der Wissenschaft, 2/1999, S. 16). Mittlerweile sind sich die beteiligten Forscher ihrer Sache sicher. Im Februar präsentierten sie ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit. "Wir haben nun überzeugende Hinweise darauf, dass ein neuer Materiezustand erzeugt wurde", sagte Ulrich Heinz vom Cern. "Dieser Materiezustand weist viele der Kennzeichen für das theoretisch vorhergesagte Quark-Gluon-Plasma auf."

Signale aus dem Feuerball – indirekt, aber schlüssig

Diese Formulierung ist vorsichtig gewählt. Dies liegt daran, dass die Physiker hier sozusagen einen Indizienprozess führen müssen. Direkt nachweisen ließe sich ein Quark-Gluon-Plasma am besten über die thermische Strahlung, welche die freien Quarks in Form von Photonen aussenden. Diese Lichtquanten unterliegen nämlich im Gegensatz zu den Quarks und den Hadronen nicht der starken Wechselwirkung und können den Feuerball ungehindert verlassen. Doch bei den jetzt erreichten Temperaturen und Energiedichten des Feuerballs ist es fast unmöglich, das eigentliche Signal aus dem immens hohen Hintergrund aus Photonen herauszufiltern, die aus anderen Prozessen stammen. "Es ist", kommentierte Johanna Stachel von der Universität Heidelberg, "als würde man einen Tanker einmal zusammen mit dem Kapitän wiegen und einmal ohne ihn, um das Gewicht des Kapitäns herauszubekommen."

Bislang also bleiben die Physiker auf indirekte Belege angewiesen. Dazu betrachten sie, was sich in dem Teilchenschauer ändert, wenn die kritische Energiedichte zur Erzeugung eines Quark-Gluon-Plasmas erreicht wird. Ist die Energie zu klein, wandeln sich die ursprünglichen Kernbausteine lediglich durch bekannte Prozesse in neue Hadronen um. Überschreitet die Energiedichte jedoch den kritischen Wert, verlieren die Quarks in den Hadronen ihren Zusammenhalt, so dass sich die Kernbausteine auflösen: Die Dichte ist etwa 20-mal so groß wie in gewöhnlicher Kernmaterie, und die Temperatur ist 100000-mal höher als im Inneren der Sonne. Jedes Quark findet deshalb nun in seiner unmittelbaren Nachbarschaft weitere Quarks vor, mit denen es heftig wechselwirken kann. Es wird gewissermaßen seinen langjährigen Partnern untreu, tobt eine Weile als Single frei durch die überhitzte Plasmawolke und sucht sich dann beim Abkühlen unter den kritischen Wert ein oder zwei andere Quarks, mit denen es neue dauerhafte Bindungen eingeht. Der mit etwa halber Lichtgeschwindigkeit auf die Detektoren prasselnde Teilchenschauer wird dann eine andere Zusammensetzung haben als im niederenergetischen Fall, in dem nur rein hadronische Prozesse auftreten.

Die Cern-Forscher führen mehrere Indizien dafür an, dass sie tatsächlich den Zustand eines Quark-Gluon-Plasmas erzeugt haben. Eines ist die Bildungsrate der so genannten J/Y-Mesonen. Diese Teilchen bestehen aus einem der seltenen charm-Quarks und seinem Antiteilchen, dem anticharm-Quark. Sobald sich die Hadronen auflösen, stehen beide Partner einer Unzahl von Konkurrenten gegenüber, so dass sie sich mit höherer Wahrscheinlichkeit mit anderen Quarks paaren. Oberhalb der kritischen Energiedichte sollte also die Anzahl der gebildeten J/Y-Mesonen stark abnehmen. Genau dies haben die Wissenschaftler in den Cern-Experimenten beobachtet.

Die Gesamtheit der Befunde in allen sieben Experimenten gibt den Physikern die Gewissheit, tatsächlich ein Quark-Gluon-Plasma erzeugt zu haben. Doch die Zeit, in der dieser neue Materiezustand existiert, ist noch zu kurz, um seine Eigenschaften näher zu untersuchen. Der Druck in dem explodierenden Feuerball ist enorm: "Es ist, als ob das 15fache der Sonnenmasse auf Ihrem Fingernagel lasten würde", erläuterte Reinhard Stock von der Universität Frankfurt. Wie seine Kollegen hofft der Teilchenforscher jetzt darauf, dass sich noch höhere Kollisionsenergien erreichen lassen. Je weiter nämlich die kritische Energiedichte überschritten wird, desto länger bleibt der explodierende Feuerball im Plasmazustand.

Mit Spannung werden deshalb die Experimente am neuen Relativistischen Schwerionen-Collider am Brookhaven-Nationallaboratorium in den USA erwartet. Diese Anlage, kurz "Rick" genannt (nach der Abkürzung RHIC für Relativistic Heavy Ion Collider), wird noch in diesem Jahr zwei gegenläufige Strahlen aus Blei-Ionen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann aufeinanderprallen lassen (siehe "Der Urknall im Labor", Spektrum der Wissenschaft, 5/1999, S. 56). Die Cern-Forscher werden also gewissermaßen das Staffelholz in Kürze an ihre amerikanischen Kollegen weiterreichen – und im Jahre 2005 wieder nach Genf zurückholen, wenn dort der Large Hadron Collider (LHC) in Betrieb gehen wird. Mit diesem Beschleuniger dürfte sich die kritische Energiedichte um den Faktor sechs übertreffen lassen. Dann sollte auch ein direkter Nachweis des Quark-Gluon-Plasmas über die von den freien Quarks emittierten Photonen möglich sein und der Zustand lange genug bestehen bleiben, dass sich die Eigenschaften dieser Quarksuppe bestimmen lassen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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