Rätsel der Kochkunst. Naturwissenschaftlich erklärt.
Aus dem Französischen
von Rainer Zolk.
Springer, Berlin 1996.
244 Seiten, DM 39,80.
von Rainer Zolk.
Springer, Berlin 1996.
244 Seiten, DM 39,80.
Was tut ein Chemiker in der Küche? Dasselbe wie im Labor: Er kocht. Nur – das genügt manchem nicht. Hervé This-Benckhard ist Redakteur bei "Pour la Science", der französischen Schwester der vorliegenden Zeitschrift, und Autor der monatlichen Kolumne "Science et gastronomie". Der studierte Physikochemiker befaßt sich seit vielen Jahren mit den "Geheimnissen der Kasserolle" (so der wörtlich übersetzte Titel seines Buches). Er möchte dem Kochenthusiasten erklären, welche chemischen und physikalischen Vorgänge sich in Topf und Pfanne, Backofen und Salatschüssel, Weinfaß und -flasche, Konfitürenglas und Mikrowellenherd abspielen.
In Anlehnung an seinen Landsmann Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755 bis 1826), der durch seine geist- und humorvolle Theorie der Tafelfreuden berühmt wurde, umreißt der Autor zunächst eine "neue Physiologie des Geschmacks". Doch die Vorspeise, die er hier auftischt, sollte man nicht ohne weiteres schlucken. Es finden sich allerlei Ungenauigkeiten, unbelegte Behauptungen und sprachliche Unsauberkeiten, wie sie einem Naturwissenschaftler nicht unterlaufen sollten.
So sind sich die Fachleute mit wenigen Ausnahmen einig, daß es außer den vier grundlegenden Geschmacksqualitäten und -rezeptoren nicht die unübersehbare Fülle gibt, die This-Benckhard postuliert; in psychophysischen Experimenten können die meisten Probanden ihre Geschmackswahrnehmungen mit den vier Grundqualitäten süß, sauer, salzig und bitter beschreiben. Außer diesen scheint es nur die Qualität umami zu geben; dieses japanische Wort bezeichnet die mit Natriumglutamat verbundene Geschmacksempfindung (und nicht et-wa eine Substanz, die "wie Glutamat" schmeckt und "dieselben Aminosäuren... hat").
Bei den Begriffen Geruch, Geschmack und Aroma unterscheidet der Autor sprachlich nicht präzise zwischen einer Geruchswahrnehmung und dem sie auslösenden Stoff; er vermischt dadurch die sinnesphysiologische und die chemisch-physikalische Seite der Wahrnehmung. Das ergibt so seltsame Ausdrücke wie "Geschmacks-" und "Aromamolekül" statt Geschmacksstoff- und Duftstoffmolekül und – zumindest in der deutschen Übersetzung – sogar Verwechslungen, zum Beispiel von "Aroma" und "Aromaten", wenn würzende Zutaten wie Kräuter oder Wurzelgemüse gemeint sind.
Lassen wir uns aber den Appetit nicht verderben und beginnen mit der Suppe. Plötzlich geht es mitnichten um den Geschmack; wir erfahren nur, warum das Blasen hilft, die Suppe abzukühlen und Verbrühungen zu vermeiden. Überkochende Milch verströmt, so die kuriose Behauptung des Autors, "den scheußlichen Geruch fauliger Eier". Sollte unser Geruchssinn uns bisher an der Nase herumgeführt haben?
Doch wir wollen nicht nur mäkeln, hat doch der Autor einen Speisezettel zusammengestellt, der praktisch nichts ausläßt: Gelees und Aspik, Mayonnaisen und andere Saucen, Soufflé und Ei, Gemüse und Fleisch, Käse und Obst, Eis, Brot und Gebäck, Tee (aber nicht Kaffee) und – nicht zu vergessen – Wein sowie sonstige "geistige" Genüsse. Die Tücken, Tricks und Triumphe der verschiedenen Techniken haben ebenfalls ihren Platz: Garen, Kochen, Dünsten, Schmoren, Braten, Fritieren, Pökeln, Backen, Kühlen, Grillen...
Etliche Kapitel sind instruktiv und anregend, etwa die über Eier, Gemüse, Saucen, Wein und Konfitüre, und mit manch falschem Dogma wird aufgeräumt. Das trifft auch den deutschen Chemiker Justus von Liebig (1803 bis 1873), der behauptete, daß beim Anbraten von Fleisch eine wasserundurchlässige Kruste das Austreten von Fleischsaft verhindere. Nachvollziehbare Rezepte gibt es nur wenige: für Brot, Blätterteig, canard à l'orange und einiges mehr.
Einige der kreativeren Vorschläge sind allerdings in der häuslichen Küche kaum umzusetzen. Darunter fallen die Zubereitung von Speiseeis à la minute mit Flüssigstickstoff, wie sie der Autor gemeinsam mit Nicholas Kurti in dieser Zeitschrift vorgestellt hat (Juni 1994, Seite 82), oder der Schnellkochtopf mit Unterdruck, für den man eine Wasserstrahlpumpe und den Mut zu einer hohen Wasserrechnung braucht.
Zwischen all dem Guten tischt uns This-Benckhard aber immer wieder kulinarische und naturwissenschaftliche Ungereimtheiten auf. So mag der Rat, eine Sauce statt mit Glace (bis zum Gelieren reduzierter und entfetteter Fleischbrühe) ersatzweise mit Gelatine zu binden, kochtechnisch hingehen; aber man versuche einmal, ein Blatt eingeweichte Gelatine zu kosten, dann kann man sich die geschmackliche Wirkung auf den Saucenfond im Vergleich zu der von Glace leicht ausmalen. Statt guter, aber teurer Kupfertöpfe gerade solche aus Aluminium nehmen? Und wie soll man den Puter, wie angeraten, im Ofen alle drei Minuten begießen, wenn man drei Seiten vorher gelesen hat, daß man die Ofentür während des Bratens nicht öffnen darf? Rätsel der Kochkunst!
Die Rätsel der physikalischen Chemie lüftet der Autor ausführlich bei der Osmose, der Denaturierung und der Emulsionsbildung. Das gelingt manchmal, geht aber auch häufig schief, wie eine naive, geradezu groteske Beschreibung der chemischen Reaktion im allgemeinen zeigt. Wichtige und unwichtige wissenschaftliche Hinweise wechseln sich im ganzen Buch mit den kulinarischen ab. Diese Mischung aus Kraut und Rüben hält ebenso munter wie die unterschiedliche Qualität der einzelnen Absätze und Erläuterungen.
An manchen Stellen wünschten wir, daß der Übersetzer öfter in deutsche Töpfe, Lebensmittelgeschäfte, chemische Lexika und Grundlagenwerke geschaut hätte. Beispielsweise wäre zur Empfehlung des Autors, aus geschmacklichen Gründen geklärte Butter zum Fritieren zu verwenden, der Hinweis anzufügen, daß man sie nicht wie beschrieben selbst herstellen muß, sondern in Deutschland als Butterschmalz wohlfeil erwerben kann. Ein Blick ins Lexikon hätte dann auch schnell ergeben, daß entgegen der englischsprachigen Literatur die Säuren bei uns in Wasser nicht "ionisiert" werden, sondern elektrolytisch dissoziieren.
Weitere leise Zweifel an der chemischen und kulinarischen Kompetenz des Übersetzers beschleichen einen, wenn er eine Hollandaise "umkippen" oder "stocken" läßt (sie wird aber nicht sauer, sondern fällt auseinander oder gerinnt) oder von einer "weißen Sauce" spricht, wenn es sich nicht etwa um eine Grundsauce auf der Basis einer Mehlschwitze handelt, sondern um eine beurre blanc, also um eine mit Butter aufmontierte Weißweinreduktion.
Daß das Lektorat nicht nur solchen Mängeln im Detail nicht abgeholfen hat, sondern auch noch zahlreiche Schreibfehler sowie falsche Termini ("zerstreutes" Licht, "visköse" Substanzen, "überlappende Nervenstränge", "Kräfte der Kapillarität" und "Kapillarattraktion" statt Kapillarkräfte, "Gefrierstücke" statt Fritierstücke, "Saugpapier" statt Küchenkrepp) hat durchgehen lassen, vergällt Köchen und Naturwissenschaftlern gleichermaßen manchen Bissen.
Ebenfalls dem Lektorat anzulasten ist, daß Bildlegenden fehlen. So enthalten einige der grauen Strichzeichnungen unerklärte Details; vielleicht wäre beim Legendenschreiben auch aufgefallen, daß sich Kochsalz aus Ionen und nicht aus ungeladenen Atomen zusammensetzt. Daß ein Buch mit naturwissenschaftlichem Anspruch grundsätzlich auf völlig veraltete oder falsche Stoffbezeichnungen ("Paraäthylphenol") zurückgreift, ist nicht nur unverständlich, sondern erschwert auch den Gebrauch des lückenhaften Glossars und des Registers. Dort finden sich weitere grobe Fehler und Lücken beispielsweise bei den Anmerkungen zum Ion, zum Cholesterin und zur Azidität.
Zu bedauern ist schließlich, daß dem Buch kein Literaturverzeichnis beigegeben ist, bezieht sich doch der Autor oft gerade dann, wenn es interessant wird, auf den 684-Seiten-Schinken "On Food and Cooking: The Science and Lore of the Kitchen" von Harold McGee und dessen Folgeband "The Curious Cook" (North Point Press, 1990). Im Grunde sind es diese, worauf das vorliegende Buch Appetit macht.
Insgesamt erreicht dieses Menü der tausend kleinen und großen Tips und hundert kleinen und großen Fehler und Flüchtigkeiten wegen seiner hohen Kreativität gerade noch 12 von 20 Punkten und damit keine der berühmten Kochmützen. Der Verlag sollte sich genau ansehen, was er da angerichtet hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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