Rätsel Dryopithecus
Neun Millionen Jahre alte Schädelfragmente aus Spanien liefern neue Argumente in der Diskussion um die Frage, ob Dryopithecus ein Vorgänger der afrikanischen Menschenaffen und damit eine dem Ursprung des Menschen nahestehende Form sei.
Sommer 1991 machte ein Forscherteam des Paläontologischen Instituts von Sabadell in Can-Llobateres nordwestlich von Barcelona einen bemerkenswerten Fund: Es stieß auf die bislang vollständigsten Schädelreste eines Großaffen der Gattung Dryopithecus (Bild 1); sie lagen in einer 9 Millionen Jahre alten Schicht, die am Wegrand zutage trat.
Diese Gattung hat erstmals Edouard Lartet 1856 nach einem Fund in Saint Goudans (Frankreich) beschrieben. Seitdem spielt sie eine wichtige Rolle in der Geschichte der Erforschung fossiler und lebender Hominoiden. So wurden in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts alle Großaffen des Miozäns – der Zeit vor 24 bis vor 5 Millionen Jahren – in dieser Gattung zusammengefaßt, die als eine primitive Form ohne besondere verwandtschaftliche Beziehung zu den heutigen Großaffen – Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan – galt.
In den letzten Jahren jedoch ist die Mehrheit der Fachleute dahin übereingekommen, daß die Vertreter von Dryopithecus in Europa vom Mittel- bis ins Obermiozän lebten, also vor 14 bis vor 8 Jahrmillionen, und sich von anderen miozänen Formen wie Proconsul oder Kenyapithecus, die in Afrika heimisch waren, unterscheiden. Damit endet aber auch schon die Eintracht. Welchen Platz dieser alte Affe im Stammbaum der Menschenähnlichen, der Hominoiden, einnimmt und welche verwandtschaftlichen Beziehungen zur Gruppe der heutigen Menschenaffen er hat, ist heftig umstritten. Der jüngste Fund liefert einige neue Informationen, die es ermöglichen, diese Fragen erneut aufzugreifen.
Das Felsenbein
Zur Überfamilie der Hominoidea zählen fünf heute lebende Gattungen, die in zwei Untergruppen unterteilt werden: Die erste und zugleich primitivere enthält allein den Gibbon mit seinen verschiedenen Arten (Kleine Menschenaffen), die zweite Orang-Utan, Schimpanse, Gorilla und Mensch. Damit stellt sich die grundlegende Frage, ob Dryopithecus an die Basis der Menschenähnlichen oder in die Gruppe der Großen Menschenaffen gehört.
Das Glück wollte, daß unter den verschiedenen Schädelfragmenten aus Can Llobateres ein Teil des Schläfenbeins mit der Felsenbeinpyramide sehr gut erhalten ist; von keinem anderen frühen Hominoiden – außer von Proconsul – hat man diesen Teil des Schädels bislang gefunden, der das knöcherne Labyrinth des Innenohres enthält. Morphologische Merkmale von so komplexen Strukturen wie dem Gehörsystem, die nicht (oder wenigstens scheinbar nicht) ein Produkt unmittelbarer Anpassung sind, eignen sich gewöhnlich besonders gut zur Lösung phylogenetischer – also die Abstammung betreffender – Probleme.
Bei unserer gründlichen vergleichenden Analyse der Felsenbeinpyramide von Dryopithecus mit der von Proconsul und jenen der heutigen Hominoiden zeigte sich, daß auf ihrer Innenseite eine Vertiefung, die Fossa subarcuata, fehlt (Bild 2). Diese nimmt bei allen Nicht-Hominoiden sowie bei den primitiven Hominoiden wie Gibbon und Proconsul einen Ausläufer des Kleinhirns auf. Bei den heutigen Großen Menschenaffen und beim Menschen ist der Ausläufer rückgebildet, die Vertiefung ebenfalls. Ihr Fehlen bei Dryopithecus ist ein Beleg dafür, daß er phylogenetisch zur selben Gruppe gehört wie diese. Eine solche Zuordnung hat unter anderen jüngst auch David R. Begun von der Universität Toronto (Ontario) anhand ungarischer Exemplare vorgeschlagen, allerdings aufgrund anderer Merkmale.
Molekulare Systematiker, die Stammbäume mittels Protein- oder DANN-Vergleichen rekonstruieren, sehen zunehmend die afrikanischen Großen Menschenaffen und den Menschen als eine eigene gemeinsame Linie an, die sich von der des Orang-Utans, des einzigen lebenden asiatischen Menschenaffen, unterscheidet. Damit erhebt sich die Frage, ob Dryopithecus Merkmale aufweist, die ihn einer der beiden Teilgruppen zuordnen, oder ob er eine eigene Schwestergruppe bildet. Begun etwa stellt ihn zu den afrikanischen Menschenaffen.
Das Jochbein
Bei der Analyse der Gesichtsanatomie unseres Exemplars stießen wir auf eine wichtige Information. Das Gesicht zeigt eine eigentümliche Kombination von Merkmalen. Eine ganze Reihe davon ist primitiv: Beispielsweise springt sein Unterkiefer nicht vor; der zweite obere Schneidezahn ist nur geringfügig verkleinert, und die Augenhöhlen stehen weit auseinander, zudem sind ihre Proportionen wie auch die Gestalt der Brauenbögen urtümlich. All dies weist darauf hin, daß Dryopithecus dem hypothetischen gemeinsamen Vorgänger der Großen Menschenaffen und des Menschen sehr nahe kommt.
Der Jochbeinabschnitt hingegen, der äußerlich der Wangengegend entspricht, zeigt eine aufschlußreiche Besonderheit: Der Knochen ist dort sehr robust, außergewöhnlich flach, nach vorne gerichtet und hat, was besonders auffällt, oberhalb des unteren Augenhöhlenrandes gleich drei Öffnungen; durch sie treten mehrere die Wangen versorgende Blutgefäße aus. Dieselben Merkmale zeigen auch zwei in Ungarn gefundene Jochbeine von Dryopithecus, die weniger vollständig als die von Can Llobateres sind. Fossile Formen wie Proconsul oder heutige wie Gibbon, Schimpanse und Gorilla haben dagegen ein anders aussehendes Jochbein: mit nur ein bis zwei solchen Öffnungen, die zudem unterhalb des unteren Randes der Augenhöhlen sitzen. Da dies die unter Primaten verbreitetste Morphologie ist, kann sie als ursprünglich angesehen werden.
Allein zwei Formen, die eine fossil, die andere rezent, zeigen ähnliche Merkmale im Jochbeinbereich wie Dryopithecus: Sivapithecus aus dem Miozän Pakistans und der heutige Orang-Utan auf Sumatra und Borneo. In den letzten zehn Jahren wurden die Verwandtschaftsverhältnisse von Sivapithecus eingehend in Fachkreisen diskutiert; und wenn auch noch keine generelle Übereinkunft besteht, so sieht man ihn doch mittlerweile weitgehend als Schwesterform des Orang-Utan an.
Somit liegt die Vorstellung nahe, daß es sich bei Dryopithecus um einen ursprünglichen – plesiomorphen –Vertreter der Orang-Utan-Gruppe handelt, der mit Ausnahme des Jochbeinbereichs eine primitive Gesichtsmorphologie beibehalten hat.
Wozu diente aber diese besondere Gestaltung des Knochens? Welchen Sinn hatte es, ihn zu verändern? Die Antwort findet sich beim Orang-Utan: Eine solche Knochenstruktur gibt den enormen Backenwülsten aus Fett und Bindegewebe Halt, während die erhöhte Zahl von Öffnungen für Gefäße mit der erforderlichen stärkeren Durchblutung zusammenhängt. Die angeschwollenen Fettbacken der Männchen dienen als sexuelle Rangzeichen. Es ist darum anzunehmen, daß männliche Vertreter von Dryopithecus ähnliche Backen mit ähnlichen Funktionen hatten (Bild 1).
Vorschlag zur Evolution
Es mag zweifellos als riskant erscheinen, die Zugehörigkeit von Dryopithecus zur Orang-Utan-Gruppe allein mit der Form eines einzigen Gesichtsknochens zu begründen. Wäre Dryopithecus dem Orang-Utan ähnlicher, könnte man diese Hypothese überzeugender vertreten. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die postulierten fehlenden Bindeglieder im Stammbaum von Menschenaffen und Menschen wahrscheinlich leichter gefunden denn als solche erkannt werden. Fossilien, die an evolutiven Knotenpunkten stehen, sind normalerweise widersprüchlich und schwierig zu interpretieren.
Wie auch immer die richtige Lösung für das Rätsel Dryopithecus aussehen mag, eines steht fest – er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um ein Verwandter des Orang-Utans sein zu können. Unsere Hypothese lautet nun: Vor etwa 14 Millionen Jahren besiedelte eine bisher unbekannte (oder unerkannte) afrikanische, vielleicht dem afrikanischen Kenyapithecus nahestehende Gattung Eurasien. Die weitere Evolution der verschiedenen Populationen ließ verschiedene Formen entstehen, unter denen Dryopithecus relativ primitiv geblieben ist, während Sivapithecus dem heutigen, weiterentwickelten Orang-Utan näher stand. Die Populationen, die in Afrika geblieben sind, haben höchstwahrscheinlich eine andere Linie begründet, die zum heutigen Schimpansen, zum Gorilla und über den Australopithecus schließlich zum Menschen führte und über die wir nichts wissen. Künftige Funde werden diese Hypothese bestätigen oder widerlegen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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