Editorial: Rätselhaftes Gehirn
Als ich mich an das Schreiben dieses Editorials machte, el mir sofort meine allererste Arbeitswoche im Verlag ein. Damals, im September 2001, musste ich ein passendes Titelthema für die Startausgabe des gerade neu gegründeten Magazins »Gehirn&Geist« finden. Ich begann mental die großen Fragen der Neurowissenschaft durchzugehen und hatte schnell die Antwort – ganz klar: »Auf der Suche nach dem Bewusstsein«!
Bald zwei Jahrzehnte später zählt das Thema immer noch zu den großen ungelösten Rätseln der Wissenschaft. Wie schaffen es knapp drei Pfund glibberiges Nervengewebe, ein Gefühl für das eigene Selbst zu erzeugen? Seit Jahrzehnten fahnden Neurowissenschaftler nach den »neuronalen Korrelaten des Bewusstseins« im Gehirn, ohne eine definitive Antwort zu finden. Was ist so besonders an diesem Organ aus knapp 100 Milliarden Nervenzellen im Unterschied zu anderen Geweben? Einfach die schiere Anzahl an Zellen? Nicht unbedingt, denn rund drei Viertel aller Hirnneurone befinden sich im Kleinhirn, das für das Bewusstsein keine Rolle spielt. Wichtiger scheint hier die spezielle neuronale Verschaltung in der Großhirnrinde zu sein. Der Neurowissenschaftler Christof Koch, Direktor des Allen Institute for Brain Science in Seattle, berichtet ab S. 12 über den aktuellen Stand der Forschung zum Thema und stellt die beiden heute populärsten Theorien dazu vor, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht.
Daneben ist unser Denkorgan ständig damit beschäftigt, die einlaufenden Sinneseindrücke zu einem Abbild der Welt um uns herum zusammenzufügen. Laut neueren Erkenntnissen läuft dieser Vorgang aber gewissermaßen rückwärts ab, wie der Kognitionsforscher Anil Seth von der University of Sussex ab S. 18 beschreibt. Demzufolge stellt das Gehirn zunächst Prognosen über die Umwelt auf und gleicht diese erst danach mit den Sinnessignalen ab. Somit leben wir alle in einer Art kontrollierter Halluzination und in unserer jeweils eigenen, einzigartigen Welt. Das könnte nicht nur soziale Phänomene wie Filterblasen im Internet erklären, sondern auch das Entstehen psychischer Störungen wie Schizophrenie. Bei diesen Patienten dominiert die innere Hypothese derart, dass sie nicht mehr gemäß den Umweltinformationen korrigiert wird und ein Eigenleben entfaltet. Das nennen wir dann Wahnvorstellung.
Mit diesen beiden Artikeln beginnen wir unsere neue Serie über die Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner Aufgaben.
Eine bewusstseinserweiternde Lektüre wünscht Ihnen
Ihr
Hartwig Hanser
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