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Realistische Berechnung von Lebenserwartungen

Eine Extrapolation der empirischen Sterbewahrscheinlichkeiten in die Zukunft ergibt, daß der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung noch stärker zunehmen wird, als die bisher üblichen Fortschreibungen vorhersagen.


Die Lebenserwartung Neugeborener hat sich in den letzten 100 Jahren fast verdoppelt. Nach der Allgemeinen Sterbetafel 1986/88 für die (alte) Bundesrepublik Deutschland liegt sie bei 78,68 Jahren für Mädchen und bei 72,21 für Knaben. (In den anderen Altersklassen war die Zunahme der Lebenserwartung geringer.) Wie alt werden wir und unsere Kinder werden?

Eine qualitative Antwort ist einfach: Der Trend wird sich gewiß nicht einfach fortsetzen, denn es ist abwegig zu erwarten, daß unsere Urenkel abermals doppelt so alt werden wie wir. Für zahlreiche Zwecke benötigt man jedoch eine genauere quantitative Prognose: Eine – staatliche oder betriebliche – Rentenversicherung muß für eine verläßliche Kalkulationsgrundlage wissen, wie lange ihre Rentenempfänger durchschnittlich noch zu leben haben; ähnliches gilt für Krankenversicherungen. Die bislang übliche Unterschätzung künftiger Lebenserwartungen wirkt sich in Form eines Defizits aus; im Falle der Krankenversicherungen wird dies durch die Unterschätzung der Behandlungskosten noch verstärkt.

Die Lebensversicherungen dagegen werden bei Versicherungen auf den Todesfall Überschüsse erwirtschaften, wenn sie ihre Beiträge auf der Basis zu niedriger Lebenserwartungen kalkulieren, weil dann die Versicherten im Durchschnitt länger ihre Beiträge zahlen als erwartet; es werden jedoch diejenigen Gesellschaften die günstigsten Konditionen bieten (und deshalb in der verschärften Konkurrenz nach der Öffnung des europäischen Versicherungsmarktes am besten bestehen) können, die mit möglichst realistischen Vorhersagen arbeiten. Schließlich wird sich unsere Gesellschaft durch den ansteigenden Anteil alter Menschen in allen Bereichen erheblich verändern.

Die wesentlichen statistischen Größen Überlebens- und Sterbewahrscheinlichkeit sowie Lebenserwartung werden aus sogenannten Sterbetafeln errechnet. Das sind nach dem ursprünglichen Konzept Aufzeichnungen – nach Frauen und Männern getrennt – darüber, in welchem Alter die Angehörigen eines gegebenen Geburtsjahrgangs sterben. Eine solche Generationensterbetafel liegt naturgemäß erst dann vollständig vor, wenn sie längst veraltet ist. Beispielsweise wäre die Sterbetafel des Geburtsjahrgangs 1893 zwar nahezu abgeschlossen, weil die Angehörigen dieser Kohorte inzwischen fast alle gestorben sind, aber auch nahezu wertlos.

So könnte man ihr zum Beispiel die im Jahre 1913 gültige einjährige Sterbewahrscheinlichkeit für 20jährige Frauen entnehmen, das heißt die Anzahl der im Alter von 20 Jahren gestorbenen Frauen des Jahrgangs 1893, geteilt durch die Anzahl der Frauen dieses Jahrgangs, die mindestens 20 Jahre alt geworden sind. Unter den heutigen, veränderten Lebensverhältnissen ist jedoch die Wahrscheinlichkeit für eine 20jährige Frau, innerhalb des nächsten Jahres zu sterben, wesentlich geringer.

In der Praxis erstellt man statt dessen sogenannte Periodensterbetafeln, indem man für den Zeitraum eines oder mehrerer (aktueller) Jahre – wieder nach Geschlechtern getrennt – für die Alter von 0 bis mindestens 100 Jahren aufzeichnet, wie viele unter den Angehörigen einer Altersklasse im Verlaufe eines Jahres sterben, und aus den daraus zunächst ermittelten Sterbeziffern einjährige Sterbewahrscheinlichkeiten bestimmt. Darauf aufbauend berechnet man eine vollständige Sterbetafel unter der Annahme, daß die Sterbewahrscheinlichkeiten zumindest über einen gewissen Zeitraum annähernd konstant bleiben. So wird auch die durchschnittliche fernere Lebenserwartung einer Person im Alter von x Jahren ermittelt.

Will man aber für quantitative Prognosen den systematischen Fehler vermeiden, der in der Annahme konstanter Sterbewahrscheinlichkeiten steckt, so ist es nicht in jedem Fall sinnvoll, den aus vergangenen Daten bestimmten Trend einfach in die Zukunft zu extrapolieren. Es könnte nämlich zum Beispiel passieren, daß die so geschätzte Gesamt-Lebenserwartung eines x Jahre alten Menschen größer wäre als die eines (x +1)-jährigen im Jahre darauf. Das wäre jedoch Unsinn, denn die Gruppe derer, die dieses Jahr x Jahre alt sind, enthält auch diejenigen, die in diesem Jahr sterben werden, und hat daher eine geringere durchschnittliche Gesamt-Lebenserwartung als die Gruppe derjenigen, die im nächsten Jahre x +1 Jahre alt sein werden. Wie Michael Trimborn und ich dargelegt haben ("Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft", Band 81, Seiten 457 bis 485, 1992), ist es statt dessen zweckmäßig, Prognosen über künftige Sterbewahrscheinlichkeiten in die Rechnung einzusetzen. Aus diesen lassen sich dann alle anderen Größen berechnen.

Aus den elf seit 1871/81 erstellten Allgemeinen Deutschen Sterbetafeln ergibt sich, daß die zeitliche Entwicklung der Sterbewahrscheinlichkeiten relativ gut mit Hilfe eines exponentiellen Ansatzes beschrieben werden kann: Die Wahrscheinlichkeit qx, im Alter von x Jahren zu sterben, nimmt mit der Zeit t nach der Formel qx (t) = exp(ax + bxt) ab. Gleichbedeutend damit ist die Aussage, daß der Logarithmus der Sterbewahrscheinlichkeit linear mit der Zeit sinkt: ln qx (t)=ax+bxt. Die – für Frauen und Männer unterschiedlichen – Größen ax und bx sind aus den Daten zu schätzen. Daß die einjährige Sterbewahrscheinlichkeit in jeder Altersklasse abnimmt und zwar je nach erreichtem Alter um Werte zwischen 0,1 und 4,3 Prozent pro Jahr (Bild 1) –, kommt darin zum Ausdruck, daß sich für sämtliche bx negative Werte ergeben.

Mit Hilfe der Koeffizienten ax und bx kann man nun alle anderen interessierenden Größen bis hin zu einer Generationensterbetafel für (beispielsweise) den Geburtsjahrgang 1993 modellieren. Vergleicht man diese mit der üblicherweise verwendeten Periodensterbetafel 1986/88, ergeben sich erhebliche Abweichungen: Die Verteilung :der Sterbefälle verschiebt sich deutlich in Richtung höherer Alter (Bild 2). Bei der Anzahl der Überlebenden ergeben sich noch drastischere Unterschiede. So werden nach der Periodensterbetafel von 100000 neugeborenen Mädchen nur 56641 das Alter von 80 Jahren erreichen, nach der Generationensterbetafel jedoch 77410. Für Knaben sind die entsprechenden Zahlenwerte 34121 und 51183. Demnach wird sich in den nächsten 60 Jahren die Anzahl der 90jährigen in Deutschland nicht nur, wie bisher angenommen, knapp verdoppeln, sondern mehr als verdreifachen (Bild 3).

Selbst wenn man bedenkt, daß alle diese Berechnungen nur einen möglichen Entwicklungspfad angeben und einige Einflußgrößen nicht berücksichtigt sind, wird doch deutlich, welche Veränderungen in der Anzahl älterer Menschen sich ergeben können und welche Aufgaben auf unsere Gesellschaft zukommen: Unabhängig von den direkten Auswirkungen auf Kalkulationen der Lebens-, Kranken- und Rentenversicherungen erweist sich eine Pflegeversicherung als erheblich dringender geboten, als die meisten bisher geglaubt haben zumal man nicht damit rechnen kann, daß die Gesundheit mit der Lebenserwartung Schritt hält. Wer vor dieser Entwicklung die Augen verschließt, mutet späteren Generationen untragbare Belastungen zu; sie werden noch dadurch verstärkt, daß die Anzahl der Erwerbspersonen nicht entsprechend anwächst.

Eine summarische statistische Aussage wie eine Sterbetafel gibt zwar keine Auskunft über individuelle Lebensschicksale; aber die für den Geburtsjahrgang 1994 modellierte Generationensterbetafel liefert immerhin neue Werte für die Lebenserwartung Neugeborener. Danach beträgt – im Gegensatz zu den eingangs genannten Zahlen – die durchschnittliche Lebenserwartung eines 1994 geborenen Mädchens gut 85, die eines Knaben 77,5 Jahre; 75 Prozent dieser Mädchen werden mindestens 81 Jahre alt, während drei Viertel der Knaben immerhin noch ihren 71. Geburtstag erleben dürften.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1994, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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