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Realistische Reisen durch den menschlichen Körper sind jetzt möglich


Ein Computer-, Kernspin- oder Ultraschall-Tomograph liefert einen Stapel von Schnittbildern, die ihrerseits aus Grauwert-Punkten bestehen; dabei ist ein Grauwert zum Beispiel ein Maß für die Gewebedichte. Übereinandergelegt ergeben die Schnittbilder einen dreidimensionalen Datensatz, der die räumliche Struktur beispielsweise eines Kopfes wiedergibt. Bislang pflegt der Radiologe sich die Schnittbilder einzeln anzuschauen und im Geiste zu einem räumlichen Objekt zusammenzusetzen. Dabei gerät das menschliche Vorstellungsvermögen sehr schnell an seine Grenzen. Ein Bildverarbeitungsprogramm kann helfen, indem es dem Betrachter den Datenwürfel auf dem Bildschirm so präsentiert, als sähe er ihn aus einer räumlichen Perspektive. Allerdings wäre es nutzlos, Grauwerte einfach als Grauwerte wiederzugeben; denn dann wäre der Datenwürfel so undurchsichtig wie der menschliche Körper selbst. Statt dessen interpretiert man die Grauwerte als Durchsichtigkeiten: Je höher der Wert, desto stärker absorbiert und reflektiert eine fiktive Substanz, die man sich anstelle des menschlichen Körpers denkt, das Licht. Man zeigt also dem Betrachter das Bild, das sich ergeben würde, wenn diese Substanz aus einer Richtung beleuchtet und aus einer anderen Richtung betrachtet würde. Hans-Peter Meinzer vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat das Verfahren in dieser Zeitschrift (Juli 1993, Seite 56) vorgestellt. Unsere Gruppe hat es so erweitert, daß man den Standpunkt des Betrachters – auch innerhalb des Datenquaders – sowie den Durchsichtigkeitsgrad von Objekten beliebig wählen kann. Der letzte Punkt ist besonders wesentlich. Man möchte nämlich diejenigen Gewebe, die den Blick auf die eigentlich interessanten Strukturen verstellen, gänzlich oder halb transparent machen. Bei Computertomogrammen ist beispielsweise der Knochen durch hohe Grauwerte gekennzeichnet. Ordnet man hohen Grauwerten nun eine hohe Durchsichtigkeit zu, wird das Licht bei der anschließenden Beleuchtung wenig absorbiert und gibt somit den Blick für das hinter dem Schädel liegende Gehirn frei. Der für diese Lichtstrahlverfolgung (ray tracing) zu leistende Rechenaufwand ist allerdings erheblich. Man muß sehr viele Lichtstrahlen von Voxel zu Voxel verfolgen und für jedes dieser Würfelchen berechnen, um wieviel es den Lichtstrahl abschwächt und welchen Anteil der Intensität es ins Auge des Betrachters reflektiert. Selbst wenn man sich auf einfache Geometrien beschränkt (der Betrachter schaut genau auf eine Fläche des Datenquaders, und paralleles Licht kommt in einem Winkel von 45 Grad schräg von hinten), braucht eine moderne Workstation ohne algorithmische Optimierungen ungefähr drei Minuten für ein Bild aus einem Datenvolumen von 256×256×256 Punkten. Wir wollten aber bewegte Bilder in Echtzeit darstellen, so daß der Betrachter – etwa mit einem Joystick als Steuerknüppel – gewissermaßen um den Kopf herum oder durch ihn hindurch fahren kann (walk-through). Für ein fernsehfilmartiges Bilderlebnis wären also ungefähr 25 Bilder pro Sekunde neu zu berechnen. Zur Rechenzeitverkürzung haben wir im wesentlichen drei Ansätze verwendet: – Bereiche im Datensatz, die völlig transparent sind, können übersprungen werden, weil hier keine Wechselwirkung mit Licht auftritt. Will der Benutzer beispielsweise nur den Schädelknochen sehen und setzt alles andere Gewebe völlig transparent, so sind ungefähr 90 Prozent des Raumes im Datenvolumen leer, was die Rechenzeit entsprechend reduziert. – Die Lichtstrahlverfolgung kann abgebrochen werden, wenn ein Strahl auf dem Weg durch den Datensatz durch Absorption so weit abgeschwächt ist, daß sein Beitrag zum Gesamtbild vernachlässigbar ist. Dabei kann der Benutzer festlegen, was er zu vernachlässigen bereit ist. Das spart dann viel Rechenzeit, wenn sich im Datensatz viele undurchsichtige Objekte befinden. Wenn ein Schädelknochen als undurchsichtig dargestellt werden soll, muß das Licht in den meisten Fällen nur bis zum Knochen verfolgt werden. – Bei einer Echtzeit-Visualisierung kann man ausnutzen, daß geringere Genauigkeit sich bei bewegten Bildern weniger störend auswirkt als bei feststehenden. Deshalb visualisieren wir den Datensatz in reduzierter Auflösung, solange der Benutzer Parameter wie Blickwinkel und Position ändert, und berechnen die volle Auflösung, sobald er eine Zeitlang gewissermaßen stillhält. Mit Hilfe dieser Optimierungen vermochten wir kürzlich auf einem System aus vier Prozessoren des Typs Pentium Pro mit 200 Megahertz Taktrate Bilder aus einem Volumen der Größe 2563 in ungefähr einer Sekunde zu berechnen. Bei Daten mit sehr vielen halbtransparenten Objekten steigt die Rechenzeit auf etwa zehn Sekunden. Für noch kürzere, von den Daten unabhängige Visualisierungszeiten ist allerdings ein viel leistungsfähigerer Rechner erforderlich. Seit einigen Jahren wird die Struktur solcher Rechner diskutiert (Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 82, November 1992, Seite 17, und August 1994, Seite 16). An der Universität Mannheim haben wir in den letzten Jahren ein solches System entwickelt: VIRIM (für virtuelle Realität in der Medizin) ist seit Mitte 1995 einsatzfähig; es ist derzeit weltweit das einzige Volumen-Visualisierungssystem, das interaktives Arbeiten erlaubt und gleichzeitig die gewünschten qualitativ hochwertigen Bilder erzeugt. Dieser Parallelrechner ist in seiner Architektur an die spezielle Problemstellung angepaßt: Alle Verfahren der volumenorientierten Visualisierung müssen in einer ersten Stufe den Datenquader durch Geometrieoperationen wie Drehung und perspektivische Verzerrung quasi in die richtige Position bringen und in einer zweiten die eigentliche Lichtstrahlverfolgung berechnen. Beide Stufen sind in VIRIM durch je eine Hardware-Einheit realisiert. Selbst wenn die Geometrieoperation nur aus einer Drehung besteht, muß jedes Volumenelement des neuen Datenquaders durch Interpolation aus den acht nächstgelegenen Voxeln des Originalquaders berechnet werden. Ist der Standpunkt des Beobachters nahe an oder sogar in dem neuen Datenquader, so ist ein perspektivisch korrektes Bild zu errechnen: Nahe Volumenelemente werden größer dargestellt als ferne. Kritisch ist dabei die schiere Menge der zu verarbeitenden Daten. Für einen Datenwürfel der typischen Größe von 2563 Volumenelementen sind 16 Millionen Grauwerte aus jeweils acht Interpolationswerten zu berechnen. Für eine Geschwindigkeit von 2,5 Bildern pro Sekunde sind aus dem Volumenspeicher für den Originalquader 640 Megabytes pro Sekunde auszulesen. Ein moderner PC der oberen Qualitätsklasse bewältigt nur knapp ein Zehntel dieser Rate. Aus Kostengründen haben wir nicht versucht, die erforderliche Datenübertragungsrate durch Verwendung teurer Spezial-Speicherbausteine zu erreichen. Statt dessen arbeiten wir mit Standardchips, nutzen aber die speziellen Eigenschaften des Geometrie-Problems aus: Jede Interpolationsberechnung benötigt Daten aus einem Würfelchen aus 2×2×2 Voxeln. Indem wir die Originaldaten so auf acht Speicherbausteine verteilen, daß jeder zu einem dieser Würfelchen genau einen Wert beisteuert, gelingt es uns, die Datenrate zu verachtfachen: In jedem Zeittakt holt sich der Prozessor parallel aus jedem Speicherbaustein eine Zahl. Wenn man der Reihe nach Würfelchen für Würfelchen interpoliert, kann man in den meisten Fällen Daten der letzten Interpolation wiederverwenden und muß sie nicht nochmals aus dem Speicher holen. Weitere Beschleunigungen erzielen wir, indem wir die interne Struktur der Speicherbausteine ausnutzen. Die Lichtstrahlverfolgung ist je nach Visualisierungsverfahren unterschiedlich zu berechnen und muß deshalb programmierbar sein. Wir haben dafür ein Multiprozessorsystem mit schnellen Signalprozessoren entwickelt. Es enthält auf einer Karte acht Prozessoren; um mit der Rechenleistung der Geometrieeinheit mithalten zu können, braucht es zwei bis vier solcher Karten. Eine Geometrieeinheit sowie ein Multiprozessorsystem mit 16 bis 32 Signalprozessoren bilden zusammen ein Modul. Die Rechenleistung von VIRIM läßt sich durch Wahl einer geeigneten Anzahl von Modulen der Anwendung anpassen. In jeder Sekunde interpoliert ein Modul mit 16 Signalprozessoren 40 Millionen neue Volumenelemente, führt dabei bis zu eine Milliarde Operationen aus und liest bis zu 640 Megabyte aus dem Volumenspeicher. Mit acht Modulen erreicht das System eine Geschwindigkeit von zehn Bildern pro Sekunde. Das System VIRIM hat eine sehr flexible Architektur, die es vor ähnlichen, in der Planung befindlichen Visualisierungsrechnern auszeichnet. Weil es weitgehend frei programmierbar ist und hohe Rechenleistung für die verschiedensten Operationen bietet, kann man das Visualisierungsverfahren den Daten anpassen und sogar andere Operationen wie eine Segmentierung damit ausführen. Zur Zeit stehen mehrere Visualisierungsverfahren zur Verfügung. Alle Parameter der zugehörigen Algorithmen sind über eine graphische Oberfläche frei einstellbar. So kann der Benutzer die Visualisierung auf einen (achsenparallelen) Teilquader einschränken und on-line eine interaktive Segmentierung durchführen, indem er die Zuordnung von Grauwerten zu Durchsichtigkeiten verändert und ein Bereichswachstumsverfahren oder die Wasserscheidentransformation anwendet (siehe die vorstehenden Artikel). Beispielsweise läßt sich so der im Computertomogramm stark absorbierende Knochen durchsichtig machen. Außer all diesen Manipulationsmöglichkeiten an den Daten und der Visualisierung kann der Benutzer seine Beobachtungsposition und -richtung beliebig wählen, also sich etwa in das Datenvolumen eines Herzens versetzen und von dort die Funktionsfähigkeit einer Herzklappe in perspektivischer Darstellung und in Stereoansicht studieren. VIRIM wird derzeit an der Kopfklinik der Universität Heidelberg bei der Operationsplanung und -kontrolle bei endoskopischen Eingriffen in der Kopfchirurgie erprobt. Die Spinoff-Firma Volume Graphics vertreibt unsere Entwicklungen kommerziell. Außer den medizinischen Anwendungen tun sich für unser System weitere Einsatzmöglichkeiten auf: Prüfung auf Materialfehler bei Konstruktionsbauteilen, Visualisierung von Daten aus der Geologie sowie Darstellung der Ergebnisse numerischer Berechnungen, zum Beispiel von Strömungen und Elektronendichten in Molekülen. Weitere Bilder und Filmsequenzen sind unter http://www-mp.informatik. uni-mannheim.de/groups/virim/virim. html verfügbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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