Reis-Lawinen - sortenweise selbstorganisiert
Selbstorganisierte Kritizität gilt Komplexitätsforschern als für dynamische Systeme typisch. Ein einfaches Modell dafür bietet ein Sandkegel, der unter immerfort herabrieselndem Material seine Gestalt bewahrt. Nun bereichern Experimente mit Reiskörnern das bisher offenbar allzu einfache Bild.
Große interaktive Systeme, bestehend aus unzähligen Elementen, die nur lokal miteinander in Wechselwirkung stehen, neigen mitunter zu einer regellosen Abfolge kleiner und großer Katastrophen, wobei das Ergebnis aber alles in allem doch immer wieder der Status quo ist. Solch im kleinen unvorhersehbares Verhalten, bei dem im großen letztlich alles beim alten bleibt, heißt seit einer grundlegenden Arbeit, die Per Bak, Chao Tang und Kurt Wiesenfeld vom Brookhaven-Nationallaboratorium in Upton (US-Bundesstaat New York) 1988 verfaßten, selbstorganisiert-kritisch (Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 62).
Während ein unterkritischer Zustand gegen äußere Störungen sehr robust ist (etwa ein gewöhnlicher Festkörper) und ein überkritischer beim kleinsten Anlaß völlig zusammenbricht (wie Wasser mit Siedeverzug), richtet das selbstorganisiert-kritische System sich dazwischen – gleichsam am Rande des Chaos – häuslich ein und klammert sich an eine prekäre Nischenexistenz. Typisches Merkmal solch schwach chaotischen Verhaltens ist seine langfristige Vorhersagbarkeit: Das System wird sein metastabiles Gleichgewicht – trotz kleiner und großer Katastrophen – auch künftig beibehalten.
Als typisches Beispiel für selbstorganisierte Kritizität gilt ein unter langsam herunterrieselnden Sandkörnern allmählich wachsender Haufen: Infolge häufiger kleiner und seltener großer Lawinen behält der Sandkegel seine Form bei, und der Neigungswinkel seiner Abhänge steht für das dynamische Mittel zwischen unterkritischem Plateau und überkritischem Steilhang.
Reis statt Sand
Nachdem in der ersten Euphorie auf diese Weise ein Modell für alles mögliche Komplexe – vom Börsenkrach über Erdbeben, Niederschlag und Artensterben bis zum Phänomen des Lebens selbst – gefunden schien, wuchs mit der Zeit die Skepsis (Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 58). So selbstorganisiert-kritisch sich simulierte Sandkegel auch im Computer benahmen – wirkliche Haufen verstießen immer wieder gegen die Grundregel der selbstorganisierten Kritizität, das sogenannte Potenzgesetz. Es besagt, daß die Wahrscheinlichkeit einer Lawine bestimmter Größe proportional zu der dabei jeweils umgesetzten Energiemenge hoch einem festen Exponenten ist, und zwar so, daß kleine Ereignisse stets häufiger sind als große Katastrophen. Wirkliche Sandhaufen, die man in zeitraubenden Versuchen mit einzelnen Körnchen berieselte, verstießen gegen dieses Gesetz, indem vorzugsweise mittelgroße Lawinen auftraten.
In dieser unbefriedigenden Lage traten jüngst sechs norwegische Physiker auf den Plan und griffen auf eine in ihrem Land vor allem für milch-, zimt- und zuckergetränkte Süßspeisen begehrte Substanz zurück: Reis ("Nature", Band 379, Heft 6560, Seiten 49 bis 52, 4. Januar 1996).
Vidar Frette und seine Kollegen vom Physikalischen Institut der Universität Oslo füllten das körnige Nahrungsmittel – selbstverständlich ungekocht – sukzessive zwischen zwei Glasplatten, deren Abstand kleiner war als die Länge der Reiskörner; dadurch richteten diese sich längs aus und bildeten eine Art Querschnitt durch einen dreidimensionalen Reishaufen (Bild). Der Hintergedanke dieser Versuchsanordnung war nicht nur, daß sich so das Schicksal jedes einzelnen Körnchens mit einer Hochgeschwindigkeitskamera umfassend dokumentieren ließ, sondern auch, daß die Partikel nur längs rutschen, aber nicht quer rollen konnten.
In der Gemeinde der Komplexologen war nämlich der begründete Verdacht aufgekommen, rollende Körner verdürben das schöne Potenzgesetz. Tatsächlich läßt sich kaum mehr von lokal begrenzter Wechselwirkung (der entscheidenden Voraussetzung für selbstorganisierte Kritizität) sprechen, wenn zahlreiche Teilchen es vorziehen, den gesamten Abhang von der Bergspitze bis zur Basis in einem Zug hinunterzukullern: Auf diese Weise entstehen nur selten kleine, örtlich eng begrenzte Lawinen, und dafür kommt es, weil sich Steilhänge aufbauen, entsprechend häufiger zu großen Bergstürzen.
Dreimal Geisha
Anscheinend wird der norwegische Reismarkt von einer Marke namens Geisha beherrscht, denn die Forscher führten ihre Versuche ausschließlich mit folgenden drei Sorten durch:
- Geisha naturris (Naturreis) ist ein unpolierter Langkornreis, während poliertes Langkorn als
- Geisha middagsris (Mittagsreis) in den Handel kommt; hingegen handelt es sich bei
- Geisha grøtris (Brei-Reis) um eine kurzkörnige polierte Sorte. (Sie ist es offenbar, mit der Geisha bei den auf süßen Milchreis versessenen Norwegern den meisten Umsatz macht.)
Zweierlei Reislawinen
Für den Verlauf der Experimente erwies sich die Form der Körner als entscheidend, nicht ihre Oberflächenbeschaffenheit: Langkornreis – ob unpolierter naturris oder polierter middagsris – zeigte selbstorganisierte Kritizität (Präferenz für möglichst kleine Lawinen), während der rundlichere grøtris einen Hang zu mittelgroßen Katastrophen offenbarte. Der Grund ist offenbar, daß grøtris leichter ins Rollen gerät (oft wurden Körner beobachtet, die Hals über Kopf den halben Hang abwärtsschossen) als die beiden langkörnigen Sorten, die sich meist träge übereinanderschieben.
Für Anhänger der selbstorganisierten Kritizität ist dieses Resultat ziemlich peinlich. Zum einen verhält sich ausgerechnet diejenige Reissorte, die am ehesten runden Sandkörnern ähnelt, gerade nicht wie das vielzitierte Paradebeispiel für selbstorganisiert-kritisches Verhalten. Und zum anderen beweisen die Versuche der norwegischen Physiker, daß es sich hier wohl kaum um ein universelles Phänomen handeln kann, das so unterschiedliche Ereignisse wie Wirtschaftskrisen und Erdbeben zu beschreiben vermag.
Freilich bleibt als positiv festzuhalten, daß das Phänomen durch diese Experimente auch nicht widerlegt ist; für tatsächlich lokal wechselwirkende Systeme wie Langkornreishalden wurde es sogar eindrucksvoll bestätigt. Wer einwendet, die selbstorganisierte Kritizität sei auf Sand gebaut, dem kann man nun entgegenhalten: Nein, auf Naturreis!
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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