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Rente im 21. Jahrhundert – wer zahlt die Zeche?

Die zunehmende Lebenserwartung und die konstant niedrige Geburtenrate in Deutschland gefährden den Generationenvertrag, auf dem das heutige System der Rentenversicherung beruht.


Keine Statistik scheint verläßlicher als die amtliche Sterbetafel, die für jedes Alter – und nach Geschlechtern getrennt – die Anzahl der Sterbefälle auflistet. Weil diese Übersicht zur Berechnung der Lebenserwartung von Männern und Frauen herangezogen wird, sollten sich recht präzise Aussagen über das zu erwartende Alter von Neugeborenen treffen lassen. So haben nach den neuesten Daten die heute geborenen Jungen und Mädchen eine Lebenserwartung von 73,3 beziehungsweise 79,7 Jahren. Und dennoch: Jedesmal, wenn das Statistische Bundesamt die Sterbetafel im Zwei-Jahres-Rhythmus neu berechnet, muß die Lebenserwartung um rund drei Monate nach oben korrigiert werden.

Der Grund dafür ist, daß die Methode für die Berechnung der Lebenserwartung auf der Annahme beruht, daß für eine heute zum Beispiel 30jährige Person im Alter von 40 oder 50 Jahren die gleiche Wahrscheinlichkeit bestehen wird, in den folgenden 12 Monaten zu sterben, wie für eine bereits heute 40- bzw. 50jährige Person. Es ist zwar bekannt, daß diese Annahme meist nicht zutrifft, weil die Sterbewahrscheinlichkeiten von Jahrgang zu Jahrgang abnehmen; aber die nach dem Alter gegliederten Zahlen der Sterbefälle, die für die Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten und der aus ihnen abgeleiteten Lebenserwartung benötigt werden, sind nun einmal nur für das jeweilige Kalenderjahr verfügbar und nicht für die kommenden 80, 100 oder vielleicht 110 Jahre, die viele der heute geborenen Kinder leben werden.

In den letzten 100 Jahren hat die Lebenserwartung in Deutschland erheblich zugenommen: bei den Männern um 28 Jahre und bei den Frauen um 32 Jahre. Dieser Anstieg beruhte zunächst primär auf der Abnahme der Säuglings- und Kindersterblichkeit und auf dem medizinischen Fortschritt bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. In den letzten 50 Jahren nahm die Sterblichkeit besonders stark im höheren Alter ab, bewirkt durch Fortschritte bei der Bekämpfung der Herz- und Kreislauferkrankungen als den häufigsten Todesursachen.

Und welcher Gewinn an Lebenserwartung ist im 21. Jahrhundert zu erwarten? Immerhin ist die Hoffnung berechtigt, daß für viele Krebsarten schon in zehn oder zwanzig Jahren vorbeugende Schutzimpfungen verfügbar sein werden und daß die meisten Herz- und Kreislauferkrankungen verhindert bzw. geheilt werden können. Auch dürfte das Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung weiter zunehmen, so daß etwa veränderte Eßgewohnheiten, ausreichende sportliche Betätigung und der Verzicht auf schädliche Genußmittel die Lebenserwartung positiv beeinflussen sollten.

Eine schlüssige Theorie des Alterns ist noch in weiter Ferne; vielleicht bleibt sie ebenso wie die Weltformel in der Physik ein unerreichbares Ziel. Aber eine empirische Annäherung läßt sich aus der Analyse der Prozentanteile der Menschen gewinnen, die ein hohes Alter erreichten. Nach der Sterbetafel von 1871/81 wurden nur 0,5 Prozent aller Frauen 90 Jahre oder älter. In der Folgezeit stieg der Prozentsatz sukzessive an: auf 2,4 (1924/26), 6,5 (1960/62), 14,9 (1986/88) und schließlich auf 19,8 (1994/96). Das heißt, jedes fünfte heute geborene Mädchen erreicht nach der jetzigen Sterbetafel ein Alter von mindestens 90 Jahren. Ähnlich stark nahmen die Anteile für andere Altersklassen zu (Bild auf Seite 110).

Für die Auswertung der statistischen Daten ist das sogenannte Medianalter von besonderer Bedeutung. Es ist dasjenige Alter, das von der Hälfte der Personen überschritten bzw. von der anderen Hälfte nicht erreicht wird. Das Medianalter der Frauen erhöhte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 74,9 (1949/51) auf 80,2 (1981/83) und 82,7 (1994/96), bei den Männern von 71,7 auf 73,3 und 76,2.

Ein Vergleich mit den eingangs genannten Daten für die Lebenserwartung zeigt, daß das Medianalter um rund drei bis vier Jahre höher ist. (Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Verteilung der Sterbealter nicht symmetrisch ist.) Weil diese Differenz in den letzten Jahrzehnten annähernd gleich geblieben ist, kann man annehmen, daß sie sich auch künftig nicht wesentlich ändert. Dann läßt sich die Lebenserwartung aus einer Vorausschätzung des Medianalters ableiten. Dazu muß nach Extrapolation der Kurven im Bild auf Seite 110 diejenige identifiziert werden, welche die waagrechte 50-Prozent-Linie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft schneidet. Für Frauen könnte das Medianalter um 2080 demnach zwischen 86 und 92 Jahren liegen, für Männer zwischen 80 und 86 Jahren.

Berechnet man für die heute in Deutschland lebende Bevölkerung dasjenige Alter, das sie in zwei Hälften teilt, von denen die eine das Alter über- und die andere unterschreitet, erhält man das Medianalter der Bestandsbevölkerung. Es beträgt nur 39 Jahre, ist also wesentlich kleiner als das oben definierte Medianalter der Sterbetafel (76,2 Jahre für Männer bzw. 82,7 Jahre für Frauen). Der Grund für diese Differenz liegt darin, daß das Medianalter der Bestandsbevölkerung nicht nur von den heutigen Sterbewahrscheinlichkeiten abhängt, sondern viel stärker von der Zahl der Geburten und Sterbefälle sowie von den Ein- und Auswanderungen in den letzten Jahrzehnten.

Das gleiche gilt für ein weiteres wichtiges Maß für die demographische Alterung der Gesellschaft, den "Altenquotienten". Diese Größe ist das Verhältnis aus der Anzahl der über 60jährigen und der Anzahl der Menschen im Alter von 20 bis 60. Im Jahre 1996 zum Beispiel betrug der Altenquotient 37,5 Prozent. Dieser Wert wird in den nächsten 50 Jahren unaufhaltsam steigen, und zwar sowohl wegen der zunehmenden Lebenserwartung, von der die Zahl der Älteren im Zähler des Altenquotienten abhängt, als auch wegen der abnehmenden Zahl der Geburten und trotz der Einwanderung jüngerer Menschen, die den Nenner beeinflussen.

Um nun die demographische Alterung im nächsten Jahrhundert abschätzen zu können, haben meine Mitarbeiter Ernst-Jürgen Flöthmann, Thomas Frein, Kerstin Ströker und ich in Simulationsrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland die maßgeblichen Daten berechnet. Das Bild auf Seite 115 zeigt eine Simulationsvariante. (Die vollständigen Berechnungen finden sich in: "Simulationsrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in den alten und neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert", Universität Bielefeld, Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik, 1998.)

Seltsamerweise beruhte die oft zitierte Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes (die sogenannte "8. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung") bisher auf der unrealistischen Annahme, daß sich die Lebenserwartung in den alten Bundesländern ab dem Jahre 2000 nicht mehr erhöht und in den neuen Ländern (von unten) an das Niveau in den alten Ländern angleicht. Entsprechend unrealistisch sind die auf ihr beruhenden Rentenreformpläne. Erst in seiner nächsten, der "9. koordinierten Vorausberechnung", wird wohl auch das Statistische Bundesamt – so wie bereits seit einiger Zeit die Forschungsinstitute an den Universitäten – einen Anstieg der Lebenserwartung nach dem Jahre 2000 zugrunde legen.

Aber selbst wenn die Lebenserwartung konstant bliebe, stiege der Altenquotient wegen der niedrigen Geburtenrate von 37,5 im Jahre 1996 auf 51,0 im Jahre 2020 und auf 71,0 im Jahre 2035. In unserer Simulation hingegen, in der wir einen weiteren moderaten Anstieg der Lebenserwartung um ungefähr fünf Jahre bis 2035 bzw. etwa sieben Jahre bis 2050 zugrunde gelegt haben, nimmt der Altenquotient – wie das Bild auf Seite 115 zeigt – auf 58,4 (2020), 81,8 (2035) und 87,9 (2050) zu.

Der Beitragssatz zur Rentenversicherung (einschließlich des über die Ökosteuer und ähnliche Bundeszuschüsse finanzierten Beitragsbestandteils) hängt bei gegebener Beschäftigten- bzw. Arbeitslosenquote linear vom Altenquotienten ab. Dies hat Konsequenzen: Wollte man zum Beispiel das Rentenniveau – also das Verhältnis der Renten zu den Durchschnittseinkommen – von gegenwärtig 70 Prozent konstant halten, müßte der Beitragssatz von jetzt rund 20 Prozent nach und nach angehoben werden: unserer Datenbasis zufolge auf 31,1 Prozent im Jahre 2020, auf 43,6 Prozent im Jahre 2035 und schließlich auf 46,9 Prozent im Jahre 2050. Alternativ müßte bei konstantem Beitragssatz das Rentenniveau auf 45 Prozent im Jahre 2020, auf 32 Prozent im Jahre 2035 bzw. auf 29 Prozent im Jahre 2050 gesenkt werden.

Gelänge es, durch Reduzieren der Arbeitslosigkeit den Anteil der Beitragszahler an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zu steigern, ließe sich die Erhöhung des Beitragssatzes bzw. die Senkung des Rentenniveaus nur wenige Jahre aufschieben, jedoch nicht abwenden. Bleibt die Beschäftigtenquote hingegen unverändert, so kann zum Beispiel im Jahre 2020 – nachdem die intensive Phase der demographischen Alterung bereits begonnen hat – nur noch innerhalb einer gewissen Spanne gewählt werden, beispielsweise zwischen einem Rentenniveau von 60 Prozent bei einem Beitragssatz von 27 Prozent oder einem Beitragssatz von 25 Prozent bei einem Rentenniveau von 55 Prozent (farbig markierter Bereich im Bild auf Seite 111). Entschiede man sich für das Rentenniveau von 60 Prozent, müßte der Beitragssatz bis 2035 nochmals um 10 Prozentpunkte auf dann 37 Prozent heraufgesetzt werden. Diese Zahlen zeigen, daß der Generationenvertrag – bei dem die jungen Erwerbstätigen mit ihren Beiträgen die Renten der älteren Bevölkerung finanzieren – alsbald an die Grenzen seiner Tragfähigkeit stößt. Das bisherige, von der Alterung abhängige Umlageverfahren der Rentenversicherung muß folglich durch einen teilweisen Übergang zum weniger altersabhängigen Kapitaldeckungsverfahren mit privat finanzierter Eigenvorsorge ergänzt und an die demographische Entwicklung angepaßt werden. Das wußte schon die vorherige Bundesregierung, und das weiß auch die jetzige; die breite Öffentlichkeit indes hat die Brisanz der Problematik noch immer nicht erkannt.

Hauptursache der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung und damit des Rentenproblems ist die seit Jahrzehnten zu niedrige Geburtenrate: Sie beträgt im statistischen Mittel nur 1,4 Kinder pro Frau. Die natürlichste und langfristig beste Lösung wäre, wenn sich diese Zahl auf 2 erhöhen würde. Für unseren heutigen Gesellschaftstyp ist dies aber wohl eine Art demographische Utopie. Auch wenn sich mathematisch beweisen läßt, daß bei durchschnittlich zwei Kindern pro Frau die Belastungen der Erwerbstätigen durch Unterstützungszahlungen für die noch nicht und für die nicht mehr Erwerbstätigen am niedrigsten sind, wird dies vermutlich ohne Konsequenzen für Lebensstil und Familienplanung bleiben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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