Resonanzschwingungen von Flüssigkeitssäulen - Ergebnisse des D-2-Experiments LICOR
Während der zweiten deutschen Spacelab-Mission D-2 im Frühjahr 1993 wurden auch relativ große Flüssigkeitssäulen untersucht, die nur unter Schwerelosigkeit stabil sind. Die Ergebnisse haben Bedeutung für die Raumfahrt und die Materialforschung.
Unter irdischen Bedingungen sammelt sich eine Flüssigkeit ihrer Schwere wegen stets am Boden eines Behälters. Unter Schwerelosigkeit dagegen hängt es wesentlich von der Behältergeometrie und dem Randwinkel mit der Gefäßwand ab, wo sie sich aufhält. Dabei können mehrere Grenzflächen in allen Teilen des Behälters entstehen. Insbesondere ziehen sich Flüssigkeiten oft in Ecken und Kanten zurück. Dies ist zum Beispiel bei der Auslegung von Treibstoff- und Kühlmitteltanks für Raumflugkörper zu berücksichtigen. So muß beim Space Shuttle der Treibstoff für gelegentliche Flugmanöver stets an der Ausflußöffnung des Tanks verfügbar sein.
Ein weiteres kritisches Problem für die Raumfahrt sind die Resonanzschwingungen von Flüssigkeiten. Selbst kleine Volumina können den gesamten Raumflugkörper ins Torkeln bringen, wenn sie durch die Bewegung eines Astronauten, durch eine Pumpe oder anderweitig dazu gebracht werden, periodisch hin und her zu schwappen. Es ist deshalb äußerst wichtig, die Resonanzen vorher exakt zu bestimmen.
Das Studium des Flüssigkeitsverhaltens hat des weiteren für die Materialforschung große Bedeutung. Jedes werkstoff- oder biowissenschaftliche Verfahren, das von der Schwerelosigkeit profitieren könnte, arbeitet mit mindestens einer flüssigen Komponente; und es sind gerade die fluiden Phasen, die von typischen Wirkungen der Schwerkraft wie Konvektion, Sedimentation und zunehmendem fluidstatischem Druck betroffen werden. Dies gilt für das Erzeugen von Legierungen aus Mischungen metallischer Schmelzen ebenso wie für Kristallzüchtungen mittels freier, unbedeckter Schmelzzonen – beides Experimente, die wiederholt unter Schwerelosigkeit durchgeführt worden sind. Dabei hat sich gezeigt, daß einige Effekte wie die von der Grenzflächenspannung hervorgerufene Marangoni-Konvektion unterschätzt worden waren (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1986, Seite 16). Auch auf sie haben Resonanzschwingungen starken Einfluß.
Aus all diesen Gründen wurde während der zweiten deutschen Spacelab-Mission D-2, die von Ende April bis Anfang Mai 1993 stattfand, das Experiment LICOR (liquid columns resonances) durchgeführt. Es zielte darauf ab, an möglichst langen Flüssigkeitssäulen von 30 Millimetern Durchmesser die Resonanzschwingungen zu untersuchen.
Vorversuche am Boden
Zur Vorbereitung entwickelten die drei beteiligten Arbeitsgruppen – an der Polytechnischen Universität Madrid, an der Bundeswehr-Universität München und am Battelle-Institut in Frankfurt am Main – unabhängig voneinander theoretische Modelle für das Schwingungsverhalten von Flüssigkeitssäulen. Diese liefern, weil die schwierigen mathematischen Beziehungen unterschiedlich stark vereinfacht wurden, allerdings leicht divergierende Werte für die Lage der Resonanzen. So ergibt das recht aufwendige Modell, das meine Kollegen und ich am Battelle-Institut aufgestellt haben, Resonanzfrequenzen, die über denen der eindimensionalen Näherung der Madrider Kollegen liegen.
Soweit möglich, wurden die Ergebnisse der Rechnungen auch in irdischen Laboratorien experimentell überprüft. Annähernd zylindrische Flüssigkeitssäulen lassen sich allerdings nur bei niedrigem Verhältnis von Schwere zu Oberflächenspannung erzeugen, und dies ist an der Erdoberfläche schwer zu verwirklichen. Man muß sich deshalb entweder auf relativ kleine Säulen beschränken oder sie im Innern einer nicht mischbaren Flüssigkeit vergleichbarer Dichte erzeugen.
Meinen Kollegen und mir gelang es, freistehende Säulen von bis zu 5,5 Millimetern Länge und 3 bis 5 Millimetern Durchmesser zwischen entsprechend dimensionierten Kreisscheiben aus Edelstahl herzustellen. Als Flüssigkeiten dienten Wasser sowie eine Wasser-Gly-cerin-Mischung. Ein Vibrator regte die untere Kreisscheibe elektrodynamisch mit Amplituden von 2 bis 6 Mikrometern (tausendstel Millimetern) und Frequenzen von 10 bis 300 Hertz an.
Wie die Theorie und die Auswertung der Versuche ergaben, durchläuft der Druck der schwingenden Flüssigkeitssäule auf die Kreisscheiben bei steigenden Frequenzen in regelmäßigen Abständen Maxima, was dem Auftreten einer Resonanzschwingung entspricht. Dabei liegen die mit Wasser erhaltenen Resonanzen jeweils etwas niedriger als diejenigen der Wasser-Glycerin-Mischung. Wie Bild 3 zeigt, stimmen die gemessenen Werte sehr gut mit den Vorhersagen unseres Modells überein.
Wir konnten auch größere zylindrische Flüssigkeitssäulen herstellen, indem wir sie mit einer geeigneten ande-ren Flüssigkeit umgaben. So untersuchten wir eine Säule aus Silikonöl mit einer Dichte von 0,9 Gramm pro Kubikzentimeter in einem Bad aus einer Wasser-Methanol-Mischung.
Bei solchen Anordnungen werden die Ergebnisse allerdings durch die nur schwer erfaßbare gleichzeitige Schwingung der umgebenden Flüssigkeit verfälscht. Außer deren Dichte und Zähigkeit sind auch die Form des Behälters und die Zuführungen zu den Kreisscheiben zu berücksichtigen. Es hat sich jedoch gezeigt, daß all diese Effekte in einem Skalierungsfaktor für die Frequenzen zusammengefaßt werden können.
Die Versuche im All
Ziel von LICOR war es, die Untersuchungen auf größere Säulen auszudehnen und zu prüfen, inwieweit die theoretischen Modelle auch diesen Bereich zutreffend beschreiben. Die Versuche wurden im Advanced Fluid Physics Module (AFPM) durchgeführt, das zum Werkstofflabor des Spacelab gehörte. Experimentator war der Wissenschaftsastronaut Ulrich Walter.
Die Apparatur ähnelte der in den früheren Versuchen benutzten; nur waren die Kreisscheiben mit einem Durchmesser von 30 Millimetern wesentlich größer. Als Flüssigkeit diente Silikonöl. Die Amplitude der Schwingungen betrug 1 Millimeter, und ihre Frequenz wurde über einen Zeitraum von 7,5 Minuten automatisch von 0 auf 5 Hertz erhöht. Beim Durchfahren dieser Frequenzrampe maß ein Sensor den Druck der oszillierenden Flüssigkeitssäule auf die Kreisscheiben, und die integrierte Elektronik berechnete daraus Amplitude und Phase der zugrundeliegenden Schwingungen. Die Meßwerte gingen unverzüglich per Funk zur Bodenstation.
Wegen vorausgegangener Verzögerungen wurde bei LICOR strikt auf Einhaltung des Zeitrahmens geachtet. Es war entscheidend, daß die Messungen in Zeiten direkter Daten- und Videoverbindung mit dem Spacelab fielen.
Die erste Säule hatte eine Länge von 47,4 Millimetern. Als die gesendeten Druckdaten im Bodenkontrollzentrum in Oberpfaffenhofen zusammen mit der vorausberechneten Druckkurve auf dem Bildschirm dargestellt wurden, herrschte große Begeisterung; denn die Übereinstimmung war außerordentlich gut (Bild 1). Geringe Abweichungen erklären sich daraus, daß die erzeugte Säule etwas kürzer war als vorgesehen und außerdem mehrere Blasen enthielt, die zu entfernen man aus Zeitgründen unterlassen hatte. Bild 2 zeigt die per Video aufgenommenen Resonanzschwingungen dieser Flüssigkeitssäule. Auch die Wiederholung des Versuchs mit einer auf 40 Millimeter verkürzten Säule lieferte äußerst befriedigende Resultate.
Während der auf LICOR folgenden vier Experimente fiel das AFPM allerdings vollständig aus. Dank des großen Engagements der Wissenschaftsastronauten, der Bodenmannschaft im Kontrollzentrum und hier besonders des Support Teams des European Space Technology Center (ESTEC) in Noordwijk (Niederlande) gelang es jedoch, das Modul wieder zu aktivieren. Wegen der Verlängerung der D-2-Mission von neun auf zehn Tage ergab sich dadurch die Möglichkeit, zum Schluß einige der AFPM-Experimente zu wiederholen. Allerdings mußte das im vorhergegangenen Experiment benutzte Silikonöl geringerer Zähigkeit verwendet werden. Deshalb wurde die Anregungsamplitude auf die Hälfte verringert. Außerdem war die vordere Kreisscheibe aus den vorangegangenen Experimenten noch leicht seitlich verschoben; auf eine Rückstellung wurde jedoch verzichtet, weil bei diesem Vorgang Tage zuvor die Elektronik zusammengebrochen war.
Walter erzeugte diesmal eine Flüssigkeitssäule von 40 Millimetern Länge. Beim Abfahren des Frequenzspektrums ergaben sich wiederum deutliche Druckmaxima, so daß die drei ersten Resonanzfrequenzen einwandfrei identifiziert werden konnten. Danach begann die Flüssigkeitssäule wegen der seitlichen Verschiebung der vorderen Kreisscheibe allerdings so stark zu schwingen, daß sie über die hintere schwappte und infolgedessen abriß.
Die im D-2-Experiment ermittelten Resonanzfrequenzen sind in Bild 3 zusammen mit den auf der Erde gewonnenen Ergebnissen an kleinen Flüssigkeitssäulen und den theoretischen Vorhersagen dargestellt. Die Übereinstimmung mit unserem mathematischen Modell ist außerordentlich gut. LICOR ergänzt den Bereich der Resonanzfrequenzen, die mittels kleiner Säulen und an dichteangepaßten Flüssigkeiten gemessen werden können, nahtlos und hat zugleich wesentliche neue Erkenntnisse darüber erbracht, wie die Druckmaxima entstehen, inwieweit sich die Resonanzen visuell erkennen lassen und wie lang die Einschwingzeiten sind.
Selbst die unbeabsichtigte seitliche Auslenkung der einen Kreisscheibe lieferte eine wertvolle Information, indem sie die Empfindlichkeit der Säulen gegenüber nichtaxialen Störungen deutlich machte. Solche seitlichen Schwingungen von Flüssigkeitssäulen sollen künftig verstärkt untersucht werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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