Interview: 'Reziproker Altruismus hält auch die Mafia zusammen'
Wir sind gar nicht die kalten Egoisten, als die uns die Wirtschaftstheorie bislang ansah. Aber sind wir deswegen bessere Menschen? "Spektrum der Wissenschaft" befragte Ernst Fehr, einen der Autoren des Artikels, nach den Konsequenzen der geschilderten Erkenntnisse.
Spektrum der Wissenschaft: Sie zeigen mit Ihren Experimenten, dass Werte und soziale Präferenzen unsere Entscheidungen viel stärker bestimmen, als die Wirtschaftswissenschaft mit ihrem homo oeconomicus bislang annimmt. Doch ist es nicht sogar klug, bei dem Entwurf von Institutionen von Individuen auszugehen, die nur dann kooperieren, wenn es ihnen nützt? Denn Institutionen, die unter solchen Voraussetzungen funktionieren, müssten bei kooperativeren Menschen doch erst recht gute Ergebnisse bringen?
Ernst Fehr: Dieses Argument ist falsch. Solche einseitigen Menschenbilder veranlassen manche Wirtschaftswissenschaftler dazu, Anreize zu setzen, die unerwünschtes Verhalten erst erzeugen. Wir haben zum Beispiel untersucht, wie sich unterschiedliche Anreizmechanismen auf freiwillige Kooperation auswirken. Und da gibt es solche, die das Gegenteil des beabsichtigten Effekts haben!
Wenn zum Beispiel ein Arbeitgeber alle Angestellten als potenzielle Nichtstuer betrachtet und das auch kommuniziert, indem er alle möglichen Kontrollen einbaut, dann sinkt bei vielen Angestellten die Motivation derartig, dass sie wirklich nichts mehr tun. Wenn der Arbeitgeber dagegen davon ausgeht, dass alle im Prinzip bereit sind, ordentlich zu arbeiten, engagieren sich auch die meisten. Wir haben in unseren Untersuchungen auch herausgefunden, dass es von Bedeutung ist, wie großzügig der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer gegenüber ist. Wenn er einen Vertrauensvorschuss gibt, etwa in Form eines großzügigen Gehalts, dann wird der häufig von vielen Probanden im Experiment erwidert.
Aber nicht von allen. Unsere Resultate zeigen nie, dass alle Leute freiwillig kooperieren. Die meisten ja; aber es gibt stets einen Teil an Leuten, die rein egoistisch sind.
Spektrum: Sie verwenden den Begriff starke Reziprozität für diese Bereitschaft, die Kooperation aufrechtzuerhalten. Die Menschen erwidern kooperative Handlungen und neigen dazu, unkooperative zu bestrafen, sogar dann, wenn es für sie kostspielig ist. Versteckt sich dahinter nicht doch langfristig kalkulierter Eigennutz?
Fehr: In unseren Experimenten schließen wir absichtlich die Faktoren aus, die Kooperationsbereitschaft durch langfristig planenden Egoismus erklären würden: Die Probanden kennen einander nicht, können sich nicht wieder begegnen oder sich durch ihre Handlungen einen guten Ruf erwerben. All diese Faktoren spielen in der Realität natürlich eine Rolle und begünstigen Kooperation. In unseren Experimenten gibt es aber diese Komponenten nicht. Trotzdem entsteht Kooperation. Es handelt sich hier also wirklich um eine Art Altruismus, allerdings um einen, der nicht bedingungslos ist.
Spektrum: Haben denn die Egoisten unter Umständen auch einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft?
Fehr: Man kann gar nicht so allgemein sagen, dass die einen nützlicher sind als die anderen. Wenn die dominierende Form altruistischen Verhaltens reziprok ist, dann kann das auch zu sehr schlechten Ergebnissen führen. In der albanischen Gesellschaft spielt Rache eine große Rolle, und manche Männer trauen sich jahrelang nicht mehr aus den Häusern, weil sie befürchten, getötet zu werden. Auch als die Kosovo-Albaner nach dem gewonnenen Krieg der Nato gegen die Serben zurückkehrten, haben sich einige von ihnen furchtbar gerächt. Das ist aus einer emotionalen Sicht verständlich, aber aus rechtsstaatlicher Sicht natürlich problematisch. Es führt zum Aufschaukeln der Feindseligkeit. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass diese reziproken Verhaltensweisen häufig vor allem die lokale Kooperation in Arbeitsgruppen stützen. Aber nicht jede Kooperation ist gut. Sie stützen auch die enge Kooperation in der Mafia.
Spektrum: Für die starke Reziprozität werden tief verankerte Gefühle aktiviert: Empörung über Trittbrettfahrer, Scham beim Erwischtwerden, aber auch uneigennützige Freude am Helfen. Solche Gefühle haben wir Menschen auf Grund unserer langen gemeinsamen biologischen Vergangenheit vermutlich gemeinsam. Aber die große Studie mit dem Ultimatum-Experiment in 15 Naturvölkern zeigt ja, dass Fairness und Vertrauen in unbekannte Menschen sehr stark von der Kultur abhängen. In den modernen Industriegesellschaften spielen Fairness und der Wille zur Kooperation eine viel größere Rolle als zum Beispiel bei den in kleinen Gruppen lebenden Hadza in Tansania oder den Machiguenga in Peru. Wie erklären Sie das?
Fehr: Diese Experimente zeigen, dass Konzepte wie Fairness, Gerechtigkeit oder Kooperation nicht genetisch verdrahtet sein können. Das lernen wir in der Kindheit, und was wir da lernen, hängt von der Lebens- und Wirtschaftsweise ab. Wir haben unsere Ergebnisse unter vier Aspekten betrachtet: Anonymität, Ausmaß der Privatsphäre, Marktintegration und potenzielle Kooperationsgewinne. Und wir haben festgestellt, dass nur die Marktintegration und die Gewinne durch Kooperation eine Rolle spielen. Je stärker die Gesellschaft in den Markt integriert ist, desto stärker ist das Fairnessmotiv. Und je höher die Gewinne sind, die man aus Kooperation erzielen kann, desto mehr ist auch Kooperation verbreitet. Das sind aber Umweltbedingungen, die der Einzelne überhaupt nicht beeinflussen kann. Wenn ich in einer Gesellschaft geboren bin, die keinen Markttausch kennt, dann werde ich auch auf solche Verhaltensweisen nicht kommen. Wir sind hier aber noch ganz am Anfang. Man kann evolutionäre Modelle konstruieren, aber die sind sehr abstrakt. Auf empirischer Ebene wissen wir erst sehr wenig darüber, welche Faktoren die Gewichte zwischen eigennutzorientiertem und fairnessorientiertem Verhalten verschieben.
Spektrum: Unsere Gesellschaftsform ist wirtschaftlich sehr erfolgreich. Unser relativ großes Vertrauen in fremde Geschäftspartner und die zuverlässige Kooperation mit Unbekannten sind vermutlich wesentliche Faktoren dieses Erfolgs, schreiben Sie. Denn dies ermöglicht eine wesentlich größere Vielfalt an Tauschhandlungen, als wenn wir die Tauschpartner immer persönlich kennen müssten. Wie messen Sie aber das Vertrauen in Fremde?
Fehr: Wir haben ein Vertrauensspiel. Bei diesem Experiment gibt der Spielleiter zwei Personen A und B, die sich nicht kennen, jeweils 10 Franken. Und dann kann A einen beliebigen Betrag von seinem Geld an B senden. Was er B transferiert, wird vom Spielleiter verdreifacht. B kann dann wiederum etwas von seinem Gesamtguthaben an A zurückgeben. Das ist eine ganz typische unvollständige Vertragssituation, weil es keine durchsetzbare Abmachung gibt. Wären A und B reine Egoisten, dann würden sie nichts geben und nichts zurückgeben und damit natürlich darauf verzichten, vom Spielleiter etwas dazuzubekommen. Wir stellen aber fest, dass mehr als 80 Prozent der As positive Beträge zu B schicken, daraus kann man den Schluss ziehen, dass die ein gewisses Vertrauen in den unbekannten B haben. Und zu Recht, denn sehr viele Bs geben etwas zurück.
Spektrum: Wie äußert sich dieses Vertrauen in fremde Geschäftspartner denn im Alltag?
Fehr: Die meisten Leute haben das ver-innerlicht und denken gar nicht daran, dieses Vertrauen zu enttäuschen. Dabei wäre es in vielen Fällen möglich, denn viele Tauschverträge sind unvollständig und können nur schlecht durch Zwang von Dritten durchgesetzt werden. Zum Beispiel gibt es beim Taxifahren sicher viele Situationen, wo der Passagier dem Taxifahrer leicht entwischen könnte, ohne zu bezahlen. Wenn der Passagier an einer Straßenseite aussteigt und in der Menge untertaucht, hat der Taxifahrer gar keine Chance, an sein Geld zu kommen. Doch das machen die wenigsten, die meisten bezahlen.
Spektrum: In einigen Gesellschaften kann man nur durch Beziehungen oder durch Bestechung etwas erreichen. Können Sie den Übergang von der Vetternwirtschaft zu einem funktionierenden Staat schon irgendwie modellieren?
Fehr: Das ist ein Öffentliches-Gut-Problem wie in unseren Spielen. Wenn ein Land mit einer korrupten Verwaltung zu einem funktionierenden Rechtsstaat wird, dann profitieren langfristig alle davon – außer den korrupten Beamten. Nur müssen sich zunächst eine Reihe von Menschen finden, die die Korruption bekämpfen und die Kosten dafür auf sich nehmen. Nachdem die Korruption beseitigt ist, profitieren auch die davon, die zur Beseitigung nichts beigetragen haben, also die Trittbrettfahrer. Dasselbe gilt bei der Beseitigung von Diktaturen. Es waren die Bürgerrechtler der DDR, die sich unter oft hohen persönlichen Kosten für die Demokratisierung eingesetzt haben. Die haben das öffentliche Gut Demokratie erst produziert. Es gibt aber manchmal auch einfache Maßnahmen, die hilfreich sind. Das hat zum Beispiel eine Studie von Abigail Barr zur Korruptionsbekämpfung in Uganda gezeigt. In den Schulen kamen damals üblicherweise nur etwa dreißig Prozent der vorgesehenen Gelder an. Allein die Tatsache, dass die bewilligten Bildungsmittel in den Schulen öffentlich ausgehängt wurden, konnte den Schwund reduzieren, danach erreichten rund achtzig Prozent der Gelder die Schulen.
Spektrum: Sie vermuten, dass hinter der Verhaltensänderung im Grunde das Gefühl der Beschämung steckt, wenn öffentlich bekannt wird, wie man sich an einem allgemeinen Gut selbst bedient. Muss das wirklich Scham sein, oder könnte es auch die Furcht vor Konsequenzen sein?
Fehr: Mir fällt da auch immer das klas-sische Anreizproblem an der Universität ein. Wenn man erst mal Professor ist, dann ist die Stelle sicher, und man kann sich eigentlich straflos zur Ruhe setzen. Und das führt bei einem gewissen Teil von Professoren dazu, dass sie sich um Lehre und Forschung nicht mehr viel kümmern. Wenn man aber die Publikationslisten regelmäßig veröffentlicht oder die Evaluationen, die Professoren von den Studenten bekommen, gibt es einen gewissen Meinungsdruck. Nur muss man vorsichtig mit solchen Instrumenten umgehen, denn man kann auch übers Ziel hinausschießen.
Spektrum: Halten Sie es für möglich, aus den Experimenten ihres Instituts wirtschaftspolitische Empfehlungen abzuleiten? Beispielsweise für den Börsenhandel?
Fehr: Der Börsenhandel ist der Bereich, wo meine Erkenntnisse die geringste Bedeutung haben. Denn der Aktienmarkt ist eine Institution, wo Werte und soziale Präferenzen kaum eine Rolle spielen.
Aber die meisten anderen Bereiche der Gesellschaft: Familie, Vereine, Stadt, Gemeinde, Staat und in Unternehmen – da spielen soziale Präferenzen eine große Rolle. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir hier langfristig zu wichtigen Erkenntnissen beitragen, die wirtschaftspolitisch relevant sein können. Unsere Ergebnisse zeigen etwa immer wieder, dass sehr viele Leute bedingt kooperativ sind, aber das hat Grenzen. Sie sind zum Beispiel bereit, die Steuer zu zahlen, wenn sie überzeugt sind, dass die meisten anderen das auch tun. Und sie sind nicht korrupt, wenn die meisten anderen das auch nicht sind … Wenn aber hier bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, kann das zum Umkippen führen. Hier muss man ansetzen und den Anfängen wehren, damit die Kooperation nicht zusammenbricht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2002, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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