Riesen-Mikroorganismus als Bakterium bestätigt
Ein charakteristischer Unterschied zwischen Bakterien (Prokaryonten) und den kernhaltigen Zellen höherer Lebewesen (Eukaryonten) ist, daß sie im Regelfall um den Faktor 100 bis 1000 kleiner sind: Ihr Durchmesser liegt normalerweise zwischen ein und zehn Mikrometern (tausendstel Millimetern), und auch die größten bis vor kurzem bekannten Exemplare reichen mit einer Länge von gut 100 Mikrometern nur gerade eben an menschliche Zellen heran, sind aber viel dünner. Dieser Größenunterschied scheint auch logisch, wenn man bedenkt, daß Eukaryonten eine Vielzahl zusätzlicher Organellen enthalten, die ihrerseits Überbleibsel ehemals eigenständiger Mikroorganismen sind: Endosymbionten, die – je nach Sichtweise – sich bei den Vorläufern der Eukaryonten einquartiert haben oder von ihnen einverleibt worden sind.
Als vor acht Jahren im Darm von Doktorfischen ein Mikroorganismus mit den sensationellen Abmessungen von bis
zu mehr als einem halben Millimeter Länge und 80 Mikrometern Dicke entdeckt wurde, hielt man ihn denn auch ganz selbstverständlich zunächst für ein einzelliges Urtierchen (einen Protisten), zu deren bekanntesten Vertretern die Pantoffeltierchen und Amöben zählen. Doch vor zwei Jahren weckten elektronenmikroskopische Untersuchungen Zweifel an dieser Zuordnung. So ließ sich kein membranumhüllter Zellkern ausmachen, und auch die Geißeln glichen im Aufbau den Flagellen von Bakterien und nicht den Cilien von Wimperntierchen mit ihrer typischen Anordnung aus 9+2 Mikrotubuli. Physiologische und biochemische Studien, die endgültige Klarheit hätten bringen können, scheiterten daran, daß sich das Minimonster nur im Fischdarm wohlfühlt und nicht in Kulturmedien im Labor gezüchtet werden kann.
Doch die moderne Molekulargenetik schafft mittlerweile auch in solchen Fällen Rat. Durch Vergleich der Erbsubstanz hatte bereits Carl R. Woese von der Universität von Illinois in Urbana-Champaign vor mehr als zehn Jahren die Archaebakterien als eigenständiges Organismenreich erkannt (Spektrum der Wissenschaft, August 1981, Seite 74). Ähnliche Untersuchungen der ribosomalen RNA, aus der die Eiweißfabriken der Zellen bestehen, bestätigten nun nicht nur die Zugehörigkeit des überdimensionalen Darmbewohners der Doktorfische zum Bakterienreich, sondern erlaubten sogar eine noch genauere Zuordnung ("Nature", Band 362, Seite 239). Demnach ist der Epulopiscium fishelsonii genannte Keim eng mit jenen grampositiven Bakterien verwandt, deren DNA besonders viel Guanin und Cytosin enthält.
Bisher glaubte man, daß das Fehlen eines Zellskeletts und eines zellinternen Membransystems zum Stofftransport die Größe von Bakterien begrenze. Die Existenz eines Prokaryonten, der immerhin mehr als das millionfache Volumen des bekannten menschlichen Darmbakteriums Escherichia coli erreicht, beweist das Gegenteil. Außerdem nährt sie den Verdacht, daß das eine Prozent gut untersuchter, weil im Labor kultivierbarer Bakterien keineswegs repräsentativ für dieses Organismenreich sei. Vielleicht findet sich unter den restlichen 99 Prozent noch so mancher Exot. (G. T. )
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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