Riesenatome - Grenzgänger der Quantenwelt
Während unsere Alltagswelt von der klassischen Physik beschrieben wird, gelten für die kleinsten Bestandteile der Materie die exotischen Gesetze der Quantenmechanik. Mit hochangeregten Atomen läßt sich nun der Übergang zwischen beiden Welten experimentell untersuchen.
Seit Anfang des Jahrhunderts arbeiten die Physiker mit zwei ganz unterschiedlichen Methoden der Naturbeschreibung. Die klassische Physik ist nach wie vor zuständig für makroskopische Gegenstände wie Räder, Flaschenzüge, Planeten oder Galaxien; sie beschreibt die stetigen, meist exakt vorhersagbaren Kausalbeziehungen zwischen kollidierenden Billardkugeln oder zwischen der Erde und künstlichen Satelliten. Hingegen gelten für die mikroskopische Welt der Moleküle, Atome, Atomkerne und Elementarteilchen völlig andere Regeln: Die Quantenmechanik beschreibt deren Verhalten – etwa den Übergang zwischen Energieniveaus oder das sogenannte Tunneln durch Energiebarrieren – mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsgesetzen.
Weil aber die Quantenmechanik die fundamentale Theorie der Natur ist, müßte die klassische Physik eigentlich in ihr enthalten sein: Beim Übergang zu makroskopischen Phänomenen sollte die Quantenphysik von einer bestimmten Grenze an der klassischen Mechanik äquivalent werden.
Doch erst seit kurzem läßt dieser Grenzbereich sich experimentell exakt erforschen, indem man atomare Systeme schafft, die – wenigstens einige Augenblicke lang – den Gesetzen der klassischen Mechanik gehorchen. Zu diesem Zweck werden Atome so stark angeregt, daß sie auf das 10000fache ihrer ursprünglichen Größe anschwellen. In einem solchen Riesenatom läßt sich der Ort eines äußeren Elektrons recht genau bestimmen; zumindest gleicht seine Aufenthaltswahrscheinlichkeit nicht mehr einer verschwommenen Wolke, sondern einer elliptischen Bahn um den Atomkern – ähnlich der eines Planeten um die Sonne (Bild 1; siehe auch Spektrum der Wissenschaft, Juli 1981, Seite 88).
Die Erforschung dieser halbklassischen Atome wird um so wichtiger, je weiter die moderne Technik in das Grenzgebiet zwischen Makro- und Mikrophysik vordringt. Früher blieben beide Welten säuberlich getrennt: Man benutzte die klassische Mechanik beispielsweise, um die nächste Mondfinsternis vorherzusagen, und die Quantentheorie, um etwa die Wahrscheinlichkeit eines radioaktiven Zerfalls zu berechnen. Doch heute sind die Transistoren auf gängigen Computer-Chips oft kleiner als ein Mikrometer (tausendstel Millimeter) und nähern sich der Größe von Makromolekülen. Gleichzeitig vermögen neuartige Mikroskope einzelne Atome abzubilden und zu manipulieren. Um diese Techniken optimal zu nutzen, muß man den klassischen Grenzfall atomarer Systeme genauer untersuchen.
Atommodelle
Der grundlegende Unterschied zwischen Quantenwelt und klassischer Physik wurde um die Jahrhundertwende offenbar. Der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford (1871 bis 1937) wies an der Universität Cambridge (England) experimentell nach, daß das Atom aus einer fast punktförmigen positiven Ladung inmitten einer Hülle negativ geladener Elektronen besteht. Dies erinnert zunächst an den Aufbau des Sonnensystems, denn die Anziehung zwischen Elektron und Kern – die Coulomb-Kraft – nimmt wie die Schwerkraft mit dem Quadrat der Entfernung ab; doch für Atome erwies sich ein simples Planetenmodell als unbrauchbar.
Nach der klassischen Theorie des Elektromagnetismus strahlt jede elektrische Ladung, die sich auf einer gekrümmten Bahn bewegt, Energie ab. Ein elliptisch umlaufendes Elektron müßte somit rasch seinen Schwung verlieren und spiralförmig in den Atomkern stürzen – das würde bedeuten, die Materie wäre nicht stabil. Außerdem würde es beim Sturz in den Atomkern ein kontinuierliches Spektrum erzeugen, während man in Wirklichkeit diskrete Spektrallinien beobachtet.
Der dänische Physiker Niels Bohr (1885 bis 1962) beseitigte das Problem, indem er zusätzliche Regeln einführte, die auf einer von Max Planck (1858 bis 1947) entwickelten Theorie der Strahlung beruhten. Planck hatte entdeckt, daß Strahlung stets in diskreten Energiequanten emittiert wird, deren Größe von einer fundamentalen Naturkonstanten (dem Planckschen Wirkungsquantum h) abhängt.
Bohr hielt zwar an der Vorstellung klassischer Elektronenbahnen fest, postulierte aber, daß Energie und Drehimpuls nur bestimmte diskrete Werte annehmen dürfen. Jeder Energiezustand des Elektrons ist demnach durch eine ganze Zahl (die sogenannte Hauptquantenzahl) charakterisiert – der Grundzustand durch 1, der erste angeregte Zustand durch 2 und so weiter. Andere Quantenzahlen beschreiben den Bahndrehimpuls des Teilchens; er kann nach den Bohrschen Regeln nur ganzzahlige Vielfache des Planckschen Wirkungsquantums annehmen.
Die Elektronen können nun die erlaubten Bahnen lediglich in Form diskreter Quantensprünge wechseln, wobei jedesmal Licht einer bestimmten Frequenz abgestrahlt wird; sie entspricht der Energiedifferenz beider Zustände dividiert durch das Plancksche Wirkungsquantum. Im Falle des Wasserstoffs stimmen die auf diese Weise vorhergesagten Frequenzen genau mit dem beobachteten Linienspektrum überein.
Außerdem stellte Bohr eine Regel für den klassischen Grenzfall auf: Nach dem Bohrschen Korrespondenzprinzip geht die Quantenphysik für große Quantenzahlen in die klassische Mechanik über – das heißt, sofern die klassische Wirkung eines physikalischen Vorgangs viel größer ist als das Plancksche Wirkungsquantum. Darum bezeichnet man als klassische Grenze der Quantenmechanik üblicherweise die Größenordnung, bei der die Plancksche Konstante vernachlässigbar klein wird. Doch wie wir sehen werden, handelt es sich dabei um eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für klassisches Verhalten.
Matrizen und Wellen
Zwar beschrieb das Bohrsche Atommodell die Wasserstofflinien ausgezeichnet, doch bei komplizierteren Atomen und bei Molekülen erwies es sich als unzulänglich. Daraus zog der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg (1901 bis 1976) den radikalen Schluß, die Quantentheorie des Atoms dürfe nur auf direkt beobachtbaren Größen – sogenannten Observablen – aufbauen, etwa den wohlbekannten Spektrallinien; klassische Vorstellungen wie die von Bohr und Rutherford benutzten Elektronenbahnen müsse man völlig aufgeben. An seinen österreichischen Kollegen Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) schrieb er damals, diese Bahnen hätten nicht die geringste physikalische Bedeutung (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juli 1992, Seite 92).
Tatsächlich kamen in Heisenbergs Matrizenmechanik Elektronenbahnen überhaupt nicht vor. Frequenz und Intensität der diskreten Spektrallinien wurden nur mit Hilfe des Planckschen Wirkungsquantums und anderer Naturkonstanten hergeleitet.
Doch unabhängig davon entwickelte der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) eine andere, aber – wie sich bald herausstellte – äquivalente Quantentheorie, die sogenannte Wellenmechanik. Von Ideen des französischen Forschers Louis de Broglie (1892 bis 1987) ausgehend beschrieb er physikalische Systeme durch eine Wellengleichung; deren Lösungen geben an, mit welcher Wahrscheinlichkeit das System verschiedene mögliche Zustände einnimmt.
Im Gegensatz zu Heisenberg lehnte Schrödinger klassische Bahnen für die Quantentheorie keineswegs ab. Von Anfang an beschäftigte ihn der Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrophysik. Er meinte, die klassische Dynamik müsse letztlich aus seiner Wellengleichung hervorgehen.
Dazu untersuchte er zunächst ein möglichst einfaches System, den harmonischen Oszillator, der zum Beispiel die Schwingung einer Masse an einer elastischen Feder beschreibt. Wie der Umlauf eines Körpers im Coulomb- oder Schwerefeld ist auch die ungedämpfte Schwingung periodisch. In beiden Fällen wiederholt der Körper immer wieder dieselbe Bewegung und braucht dafür stets dieselbe Zeit: Die Erde durchläuft ihre Bahn um die Sonne genau einmal pro Jahr, und die an einer Feder hängende Masse schwingt pro Periode einmal auf und ab.
Wellenpakete
Schrödinger vermochte aus seiner Theorie das klassische Verhalten eines harmonischen Oszillators abzuleiten, indem er eine Lösung seiner Gleichung als Summe von Lösungen mit diskreten Energiewerten konstruierte. Graphisch dargestellt ähneln diese Teillösungen Sinuswellen unterschiedlicher Frequenz. Durch Überlagerung solcher Wellen entsteht ein sogenanntes Gaußsches Wellenpaket in Form einer Glockenkurve. Das Besondere an diesem Wellenpaket ist, daß es nicht zerfließt und als Ganzes eine klassische periodische Schwingung ausführt. Allerdings gelang es Schrödinger nicht, auf diese Art die klassische Bewegung eines Elektrons im Wasserstoffatom herzuleiten – von komplizierteren Fällen ganz zu schweigen.
Auf den ersten Blick sieht es ganz einfach aus, die klassische Bewegung eines Elektrons um den Atomkern als Wellenpaket zu beschreiben: Man wählt geeignete Energiezustände des Atoms, berechnet aus der Schrödinger-Gleichung die zugehörigen Wellenfunktionen und überlagert sie.
Das Problem aber sind die Abstände der Energieniveaus. Nach einem Theorem des französischen Mathematikers Jean-Baptiste Fourier (1768 bis 1830) lassen sich nur gleichmäßig verteilte Energiezustände zu einem kohärenten, periodisch schwingenden Zustand kombinieren (Spektrum der Wissenschaft, August 1989, Seite 90). Doch im Atom wird die Energiedifferenz zwischen benachbarten Zuständen mit wachsender Quantenzahl immer kleiner; zum Beispiel ist der Unterschied zwischen Grundzustand und erstem angeregtem Zustand eine Million mal größer als der zwischen den Zuständen mit den Quantenzahlen 100 und 101. Darum zerfließt ein Wellenpaket, das aus einer Superposition niedriger Zustände besteht, binnen kürzester Zeit. Offensichtlich läßt sich daraus kein klassisches Atom konstruieren.
Nach dem Bohrschen Korrespondenzprinzip benötigt man für eine klassische Beschreibung Zustände hoher Energie mit großen Quantenzahlen. Bei hochangeregten Zuständen sind die Abstände umgekehrt proportional zur dritten Potenz der Hauptquantenzahl; das heißt, für sehr hohe Quantenzahlen sind die Zustände fast gleichmäßig verteilt. In diesem Grenzfall sollte das Wellenpaket nicht sofort zerfließen, sondern sich einige Zeit lang wie ein klassisches Teilchen verhalten. Mit immer höheren Quantenzahlen müßte ein relativ stabiles klassisches Atom demnach immer leichter herzustellen sein.
Anregung mit Lasern
Bis vor kurzem gab es freilich keine Möglichkeit, im Labor eine Superposition genügend hoch angeregter Atomzustände zu erzeugen. Erst Ende der achtziger Jahre produzierten mehrere Forscherteams mit energiereichen Laserpulsen gut lokalisierte Wellenpakete in Atomen – unter anderem unsere Gruppe an der Universität Rochester (US-Bundesstaat New York), Ben van Linden van den Heuvell am FOM-Institut für Atom- und Molekularphysik in Amsterdam (Niederlande) sowie Paul Ewart an der Universität Oxford.
Bei einem typischen Experiment kreuzt ein ultravioletter Laserpuls von nur zwanzig Pikosekunden (billionstel Sekunden) Dauer einen Strahl von Kaliumatomen in einer Vakuumkammer (Bild 2). Kalium absorbiert die Laserstrahlung bereitwillig und ähnelt zudem mit seinem einzelnen Bindungselektron dem Wasserstoff. Jeder Laserpuls katapultiert ein Elektron aus seinem Grundzustand in viele sehr hohe Zustände. Dabei entsteht ein Wellenpaket, das in etwa einem Mikrometer Abstand vom Kern lokalisiert ist.
Wesentlich ist, daß die Laserpulse extrem kurz sind und dadurch – weil die Spektralbreite eines kohärenten Pulses umgekehrt proportional zu seiner Dauer ist – ein breites Frequenzspektrum haben. Nur ein sehr kurzer Puls mit breitem Spektrum vermag auf einen Streich zahlreiche Energieniveaus anzuregen. Traditionell verwendet man in der Spektroskopie lange Pulse mit schmalem Frequenzbereich, die meist nur einen Zustand anregen. Doch bei unseren Experimenten erreichen wir im Mittel die Quantenzahl 85 sowie eine Superposition von rund fünf Energiezuständen.
Um unser Wellenpaket zu untersuchen, messen wir, wie gut es die Energie eines zweiten Laserpulses absorbiert, den wir unmittelbar nach dem ersten eintreffen lassen. Die Absorption ist am größten, wenn das Wellenpaket auf seiner elliptischen Bahn dem Kern am nächsten kommt; sie reicht dort sogar aus, das Elektron gänzlich vom Atom loszureißen. Um den Umlauf des Elektrons darzustellen, zählen wir darum einfach die ionisierten Atome, während wir zugleich den zeitlichen Abstand der beiden Laserpulse ein wenig variieren. Die Oszillation des Ionisierungssignals entspricht dabei dem periodischen Durchlauf des Wellenpakets durch den kernnächsten Bahnpunkt.
Mit diesem Verfahren lassen sich zwar Umlaufbahnen mit recht genau definierten Energien und Bahndrehimpulsen anregen, doch die Lage der Bahnebene im Raum bleibt beliebig. Der Zustand des Wellenpakets ist ein statistisches Ensemble von klassischen Ellipsenbahnen mit gleichem Radius und gleicher Exzentrizität, die alle möglichen Orientierungen im Raum einnehmen. Diese Superposition ist nur in radialer Richtung gut lokalisiert – das heißt, ihr Abstand vom Kern ist zu einem gegebenen Zeitpunkt etwa so genau definiert, wie dies die Heisenbergsche Unschärferelation zuläßt. Man spricht darum von einem radialen Wellenpaket.
Dieses Radialpaket verhält sich weitgehend klassisch. Es entwickelt sich vom Atomkern bis zum Rand einer klassischen Umlaufbahn und kehrt dann zurück. Die Periode dieser Schwingung ist exakt die eines Elektrons, das eine klassische Ellipsenbahn um den Kern beschreibt. Zudem bewegt sich das Wellenpaket im kernfernsten Punkt seiner Bahn am langsamsten und in Kernnähe am schnellsten – genau wie die Planeten unseres Sonnensystems.
Fixierung der Bahnebene
Mit dem radialen Wellenpaket hatten wir zwar einen Zustand mit einigen klassischen Eigenschaften erzeugt, doch unser Ziel – ein klassisches Atom – war damit noch nicht erreicht. Das Radialpaket schwingt mit der klassischen Umlaufperiode, folgt aber nur in statistischem Sinne einer Planetenbahn. Wegen der beliebigen Lage der Bahnebene bewegen die Elektronen sich praktisch innerhalb einer Kugel um den Atomkern (Bild 3 links). Hingegen bleibt bei einem Planeten die Hauptachse seiner Bahnellipse räumlich konstant. Außerdem zerfließt das Wellenpaket während seiner radialen Ausbreitung; in der klassischen Physik würde dies einem Zerfall des Planeten in seiner Umlaufbahn entsprechen.
Jean Claude Gay, Dominique Delande und Antoine Bommier von der École Normale Supérieure in Paris und einer von uns (Nauenberg) haben kürzlich eine Theorie entwickelt, nach der sich ein Wellenpaket mit fester räumlicher Orientierung erzeugen läßt. Wir entdeckten für große Quantenzahlen eine stationäre Lösung der Schrödinger-Gleichung, die einen sogenannten elliptisch-stationären Zustand beschreibt.
Während ein üblicher Atomzustand einen diskreten Energiewert und unterschiedliche Bahndrehimpulse hat, besteht der elliptisch-stationäre Zustand aus einer wohldefinierten linearen Superposition solcher Zustände, bei der die Bahndrehimpulse sich um einen bestimmten Wert häufen. Die Streubreite der Drehimpulswerte hängt dabei von der Exzentrizität der zugehörigen Bahnellipse ab. Das Quadrat des Betrags der Wellenfunktion gibt die Wahrscheinlichkeit an, das Elektron an einem bestimmten Ort zu finden; in der graphischen Darstellung erscheint sie als elliptischer Wulst mit einem mehr oder weniger deutlichen Gipfel darauf (Bild 3 rechts).
Dieses Maximum läßt sich klassisch interpretieren. Der quantenmechanische Zustand entspricht einem Ensemble von Elektronen auf klassischen Umlaufbahnen. Weil ihre Geschwindigkeit im kernfernsten Bahnpunkt am niedrigsten ist, halten sie sich dort am meisten auf. In der graphischen Darstellung des elliptischen Zustands erscheint diese Häufung als Maximum der Aufenthaltswahrscheinlichkeit.
Im Labor ist ein elliptisch-stationärer Zustand viel komplizierter zu erzeugen als ein radiales Wellenpaket. Im früheren Falle ging es darum, ein Atom mit einem kurzen Laserpuls zu einer Superposition vieler Energiezustände anzuregen. Doch ein elliptischer Zustand läßt sich nur als Superposition unterschiedlicher Bahndrehimpulszustände aufbauen, und dazu ist ein Laser allein nicht imstande: Gleichzeitig muß ein elektromagnetisches Feld wirken. Dafür sind verschiedene Methoden vorgeschlagen worden. Zwei von uns (Stroud und Yeazell) haben einen elliptischen Zustand angeregt, indem sie einen kurzen optischen Puls und zugleich ein starkes Radiofrequenzfeld erzeugten.
Zwar hat dieser Zustand eine feste räumliche Orientierung, aber er ist stationär – das heißt, er verändert sich nicht mit der Zeit. Der letzte Schritt zum klassischen Atom besteht nun darin, das Wellenpaket auf der elliptischen Bahn in Bewegung zu bringen (Bild 1). Obwohl wir mit dem Computer ein solches Wellenpaket als Lösung der Schrödinger-Gleichung konstruieren konnten, vermag es bisher noch niemand im Labor zu fabrizieren.
Das von uns theoretisch erzeugte Wellenpaket kommt einem klassischen Zustand so nahe wie nur irgend möglich. Obwohl es quantenmechanischen Ursprungs ist, verhält es sich weitgehend wie ein klassisches Teilchen. Doch während der Bewegung auf der elliptischen Bahn offenbart das Wellenpaket sein quantenmechanisches Wesen: Es zerfließt allmählich – ähnlich wie eine klassische Gruppe verschieden schneller Elektronen, die mit der Zeit immer weiter auseinanderlaufen.
Dabei zeigt sich ein deutlich nichtklassisches Phänomen: Sobald die Spitze des Wellenpakets sein Ende eingeholt hat, tritt quantenmechanische Interferenz ein. Dadurch läuft das Wellenpaket nach einer bestimmten Zeit überraschenderweise wieder zusammen und bildet sich erneut; zu diesem Verhalten gibt es keine klassische Parallele. Zwischen solchen kompletten Erneuerungen läßt sich der Zustand des Elektrons nicht durch ein einzelnes räumlich lokalisiertes Wellenpaket beschreiben.
Zu gewissen Zeiten bilden sich sogar komplexere Strukturen – und zwar verkleinerte Kopien des ursprünglichen Wellenpakets, die sich in gleichmäßigem Abstand auf der klassischen Umlaufbahn bewegen. Diese Strukturen haben wir fraktionelle Erneuerungen genannt. Bei der sogenannten halben Erneuerung hat sich das Wellenpaket in zwei, bei der Drittel-Erneuerung in drei kleinere Pakete aufgespalten. Ein quantenmechanisches Teilchen vermag sich also – ganz im Gegensatz zu einem klassischen – spontan zu teilen und wiederherzustellen (Bild 4).
Diese quantenphysikalische Erneuerung läßt sich dennoch recht gut mit Hilfe eines klassischen Vergleichs veranschaulichen. Betrachten wir ein Feld von acht Wettläufern; sie sollen das Elektronen-Ensemble darstellen, mit dem wir den atomaren Quantenzustand imitieren. Die Rennstrecke besteht aus mehreren diskreten klassischen Umlaufbahnen, die den Bohrschen Quantenbedingungen genügen (Bild 5).
Beim Start stehen alle Läufer eng beisammen aufgereiht: Sie sind exakt lokalisiert. Dann laufen sie los – jeder auf einer Bohrschen Quantenbahn. In den ersten Runden bleibt das Feld noch eng geschlossen, doch bald verteilen die Wettkämpfer sich über den ganzen Rundkurs. Ursache sind weder die Quantenbedingungen noch die diskreten Umlaufbahnen. Der Grund ist einfach, daß das Wellenpaket aus Wellen unterschiedlicher Frequenz besteht: Die Wettkämpfer laufen nicht gleich schnell.
Quanteneigenschaften machen sich erst beim ersten Überrunden bemerkbar – das heißt, sobald der schnellste Läufer den langsamsten eingeholt hat. Auch später überrunden immer wieder schnellere Teilnehmer die langsameren, wobei manchmal mehrere einen Pulk bilden. Aufgrund der gequantelten Geschwindigkeitsverteilung kommt es vor, daß sich vorübergehend zwei Pulks auf gegenüberliegenden Seiten der Bahn bilden; dies entspricht der halben Erneuerung. Die Quantenbedingungen spalten die Läufer nämlich so in zwei Gruppen auf, daß ein Pulk alle Teilnehmer mit ungeraden Bahnnummern enthält, der andere alle mit geraden.
Bald lösen sich diese Gruppen wieder auf, doch dafür entstehen später sogar drei. Nach vielen Umläufen ist schließlich jeder Läufer dem nächstlangsameren um eine ganze Runde voraus, und für kurze Zeit kommt eine komplette Erneuerung zustande.
Die Zahl der fraktionellen Erneuerungen hängt dabei von der Anzahl der Teilnehmer ab – das heißt von der Anzahl der Energieniveaus in der quantenmechanischen Superposition. Ohne die Quantenbedingungen, die den Läufern diskrete Bahnen aufzwingen, gäbe es in diesem klassischen Modell weder fraktionelle noch komplette Erneuerungen.
Die Realität der Umlaufbahn
Trotz Heisenbergs Bemühen, klassische Umlaufbahnen aus der Mikrophysik zu verbannen, haben sie somit weiterhin ihren Platz in der modernen Quantenmechanik. Doch ihre Rolle ist noch viel subtiler, als selbst Bohr seinerzeit vermutet hat.
Wellenpakete auf klassischen Umlaufbahnen entstehen keineswegs bloß dadurch, daß die Quantenzahlen des Systems groß werden. Damit die zwei wichtigsten klassischen Eigenschaften – räumliche Lokalisation und Bewegung auf einer Umlaufbahn – zustandekommen, muß eine spezielle kohärente Superposition von Zuständen mit großen Quantenzahlen gebildet werden. Solche klassischen Konfigurationen bestehen nur für begrenzte Zeit. Über längere Zeitspannen macht sich die zugrundeliegende Quantenmechanik durch überraschende Wellenphänomene bemerkbar, für die keine klassische Entsprechung existiert.
Derlei Ergebnisse lassen sich am besten mit Hilfe von Theorien verstehen, in denen klassische Dynamik und Quantenmechanik kombiniert sind. Solche halbklassischen Verfahren bleiben dort unersetzlich, wo rein quantenmechanische Berechnungen schwierig und – selbst auf Supercomputern – überaus zeitraubend sind; außerdem lassen sich numerische Lösungen allein oft physikalisch gar nicht interpretieren.
Obwohl halbklassische Verfahren insbesondere zur Bestimmung quantisierter Energieniveaus schon länger gebräuchlich sind, hat man sie erst kürzlich für die zeitliche Entwicklung von Quantensystemen erweitert und vermag damit sogar nichtlineares (das heißt chaotisches) Verhalten zu beschreiben. So haben Eric J. Heller von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) und Steven Tomsovic von der Universität von Washington in Seattle die Bewegungen eines Wellenpakets untersucht, das in einem Kasten von der Form eines Fußballstadions eingeschlossen ist.
Wie sich zeigt, läßt sich das chaotische Verhalten eines solchen Pakets mit halbklassischen Methoden ebensogut beschreiben wie mit rein quantenmechanischen. Auf die gleiche Weise hofft man auch andere Facetten des neuerdings lebhaft diskutierten Quantenchaos zu beleuchten, zum Beispiel die Ionisierung durch Mikrowellen und das atomare Verhalten in starken elektromagnetischen Feldern (Spektrum der Wissenschaft, März 1992, Seite 56).
Selbstverständlich lassen sich mit kurzen und starken Laserpulsen nicht nur einzelne Atome anregen, sondern auch Moleküle, deren Atome dann ebenfalls Wellenpakete bilden. Vermutlich kann man mit geeigneten Laserpulsen sogar die innere Dynamik von Molekülen steuern (siehe "Der Augenblick der Molekülbildung" von Ahmed H. Zewail, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1991, Seite 100).
Mit solchen Verfahren hat man in sogenannten Quantenmulden (extrem winzigen Halbleiterelementen) bereits Wellenpakete aus Elektronen und sogar solche aus positiv geladenen Löchern gebildet, deren kohärente Schwingungen vielleicht völlig neuartige elektronische Bauelemente ermöglichen werden. Somit verspricht der klassische Grenzfall der Quantenmechanik nicht nur fundamentale Einsichten, sondern auch praktischen Nutzen.
Literaturhinweise
- Coherence and Decay of Rydberg Wave Packets. Von Jonathan Parker und Carlos Stroud in: Physical Review Letters, Band 56, Heft 7, Seiten 716 bis 719, 17. Februar 1986.
– Quantum Wave Packets on Kepler Elliptic Orbits. Von Michael Nauenberg in: Physical Review A, Band 40, Heft 2, Seiten 1133 bis 1136, 1989.
– Laser Excitation of Electronic Wave Packets in Rydberg Atoms. Von G. Alber und P. Zoller in: Physics Reports, Band 199, Heft 5, Seiten 231 bis 280, Januar 1991.
– Observation of Fractional Revivals in the Evolution of a Rydberg Atomic Wave Packet. Von John A. Yeazell und Carlos Stroud in: Physical Review A, Band 43, Heft 9, Seiten 5153 bis 5156, 1. Mai 1991.
– Semiclassical Theory of Quantum Propagation: The Coulomb Potential. Von I.M. Suárez Barnes und anderen in: Physical Review Letters, Band 71, Heft 13, Seiten 1961 bis 1964, 27. September 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 56
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