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Ringen um Stabilität in Europa

Vor dem Hintergrund der NATO-Osterweiterung versuchen die ehemals ideologisch verfeindeten Staaten, eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen – den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa – der neuen politischen Situation anzupassen.


Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) – im November 1990 von allen Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Paktes unterzeichnet – ist ein Eckpfeiler der europäischen Sicherheit. Er symbolisiert die Überwindung des Ost-West-Konflikts, und seine Regelungen sollen Überraschungsangriffe und großangelegte militärische Offensiven unmöglich machen.

Deswegen begrenzte das Abkommen zunächst einmal die konventionellen Streitkräfte beider Bündnisse: Im Gebiet zwischen dem Atlantik und dem Ural durfte jedes von ihnen höchstens über 20000 Panzer, 30000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 20000 Artilleriesysteme, 6800 Flugzeuge und 2000 Hubschrauber verfügen. Da dieses Gesamtpotential jedoch noch immer destabilisierende Kräftekonzentrationen erlaubt hätte, wurde das Gebiet jedes Bündnisses in vier Regionen unterteilt, denen eigene Obergrenzen zugeordnet sind. Ihre Unterteilung wurde so gewählt, daß einerseits die nicht-europäischen NATO-Staaten USA und Kanada ausreichende Verstärkungen nach Europa bringen können und andererseits die damalige Sowjetunion genügend Spielraum für den Abzug ihrer Truppen aus Mittel- und Osteuropa erhielt.

Bis zum Abschluß der vereinbarten Reduzierungen im November 1995 wurden mehr als 50000 Waffen abgerüstet. Seit Mitte 1992 wird der KSE-Vertrag durch das sogenannte KSE-1A-Abkommen ergänzt, das die Personalstärke der konventionellen Streitkräfte bereits auf der nationalstaatlichen Ebene beschränkte, da zwischenzeitlich der Warschauer Pakt sich aufgelöst hatte und die Sowjetunion zerfallen war.

Mit dem Beitritt der früheren Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Ungarn und Tschechien zur NATO muß der KSE-Vertrag erneut überarbeitet werden. Diese Anpassung soll die NATO-Erweiterung so in das europäische Sicherheitsgefüge einbetten, daß sich niemand von ihr bedroht fühlen muß. Noch ist nicht gewiß, ob dies gelingen wird. So wird zum Beispiel Rußlands Teilnahme an dem NATO-Jubiläumsgipfel Ende April in Washington davon abhängen, ob man sich zuvor über die wichtigsten Prinzipien der Vertragsanpassung verständigt hat.

Eine Überarbeitung ist aber allein schon deshalb erforderlich, weil der KSE-Vertrag noch die alte Ost-West-Blockstruktur der Bündnisse zugrundelegt. Es wäre kurios, wenn osteuropäische Staaten zwar der NATO und der Europäischen Union beiträten, aber weiterhin ein Teil der östlichen KSE-Staatengruppe blieben. Rußland hätte dann beispielsweise gegenüber Polen weniger Inspektionsrechte als gegenüber Deutschland, weil Inspektionen innerhalb der eigenen KSE-Staatengruppe nur in geringerem Umfang möglich sind als in der anderen. Umgekehrt dürfte Polen trotz seiner NATO-Mitgliedschaft nicht in der gleichen Weise wie Deutschland oder Frankreich russische oder weißrussische Streitkräfte inspizieren. Außerdem können bislang auch keine Staaten dem Vertragsregime beitreten, die keinem der beiden früheren Blöcke angehörten; dies betrifft etwa Österreich und Slowenien, die Interesse an einer NATO-Mitgliedschaft bekundet haben.

Im Jahre 1996 einigten sich die Vertragsparteien, das KSE-Abkommen an die neue sicherheitspolitische Lage anzupassen und auf der Basis der bestehenden militärischen Strukturen nach einem neuen Begrenzungskonzept zu suchen. Kurz nach der Aufnahme offizieller Verhandlungen Anfang 1997 unterbreiteten die westlichen Staaten einen Vorschlag, der zuvor informell mit Polen, Ungarn und Tschechien abgestimmt worden war. Dieser sah vor, das bisherige Begrenzungskonzept durch ein neues, von Deutschland erarbeitetes System nationaler und territorialer Obergrenzen zu ersetzen; in einer sogenannten Stabilitätszone zwischen Rußland und den alten NATO-Staaten sollte eine Erhöhung der territorialen Obergrenzen ausgeschlossen sein. Des weiteren wurde ein neuer Flexibilitätsmechanismus für zeitlich befristete Stationierungen vorgeschlagen, dessen konkrete Ausgestaltung indes noch offen blieb.

Rußland begrüßte diese Initiative im Grundsatz, hakte in einigen Punkten jedoch nach. Es hatte schon im April 1996 eine neue Obergrenze für das Bündnis gefordert, um die Erweiterung der NATO zu beschränken, was jedoch bei deren Mitgliedsländern und vor allem bei den osteuropäischen Staaten, die noch in die NATO möchten, auf Ablehnung stieß. Statt dessen sicherten die NATO-Staaten am 14. März 1997 Rußland zu, ihre militärische Zusammenarbeit mit den drei Beitrittsstaaten mehr auf den Ausbau und die Entwicklung der Infrastruktur als auf die Stationierung neuer substantieller Verbände konzentrieren zu wollen. Da Rußland aber beidem ablehnend gegenüberstand, schlugen die westlichen Staaten im April 1997 vor, neue Infrastrukturvorhaben oder die Erweiterung schon vorhandener Einrichtungen künftig transparent zu machen und inspizieren zu lassen.

Parallel dazu hatten auch die Verhandlungen über eine Grundakte begonnen, in der die sicherheitspolitische Kooperation der NATO mit Rußland geregelt werden sollte. Wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung für diese Kooperation verlagerten sich ab März 1997 die KSE-Anpassungsverhandlungen mehr in dieses eher bilaterale Verhandlungsgremium. Man wollte dort nach einer Rahmenvereinbarung für die KSE-Anpassung suchen. Zunächst begannen sich die Positionen der USA und Rußlands auch anzunähern. Doch in den entscheidenden Gesprächen Anfang Mai 1997 in Moskau gelang kein Durchbruch, weil Teile der russischen Regierung unbedingt an den neuen Bündnisobergrenzen, der sogenannten Bündnishinlänglichkeitsregel, festhalten wollten. So wurde dann in der NATO-Rußland-Grundakte lediglich ein Minimalkonsens festgeschrieben: Beide Seiten akzeptierten eine zeitweise Überschreitung territorialer Obergrenzen bei Manövern, bei Blauhelm-Einsätzen aufgrund eines Mandats durch die Vereinten Nationen oder durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie in Krisensituationen.

Bis zum Sommer 1997 gelang es wenigstens, sich über bestimmte Grundelemente der Anpassung zu verständigen, darunter die Abschaffung der veralteten Blockstruktur. Zudem kündigten mehr als 20 Vertragsstaaten einseitig eine Absenkung ihrer nationalen Höchststärken in einzelnen oder bei allen Waffenkategorien um 5 bis 10 Prozent an. Viele stellten weitere Absenkungen bei einem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen in Aussicht. Hierfür gibt es auch genügend Spielraum, da die Waffenbestände der NATO-Staaten im Mittel fast 30 Prozent unter ihren erlaubten Obergrenzen liegen. Damit kamen die westlichen Staaten zwar nicht de jure, aber de facto Rußland in der Bündnishinlänglichkeitsregel entgegen. Denn mit den in Aussicht gestellten Absenkungen würden sie auch nach der NATO-Erweiterung die bisherige Obergrenze der westlichen Staatengruppe nicht überschreiten.

Im Gegenzug akzeptierte Rußland das neue Beschränkungskonzept: Die neuen nationalen Obergrenzen legen fest, wie viele Waffen ein Land im gesamten Anwendungsgebiet besitzen darf, und die neuen territorialen Obergrenzen regeln, wo sie sich befinden dürfen. Territoriale Obergrenzen beschränken darum auch die Höhe der von anderen Ländern in dem jeweiligen Territorium stationierten Streitkräfte. Erst durch das Zusammenwirken beider Begrenzungsarten entsteht militärische Stabilität, denn nationale Obergrenzen alleine könnten destabilisierende Konzentrationen der Streitkräfte nicht verhindern.

Das neue Begrenzungskonzept bereitete vielen Staaten Schwierigkeiten, weil es viel rigider als das bisherige ist. Das alte Konzept mit seinen acht regionalen Untergrenzen bot militärisch viel mehr Flexibilität als das neue, das mehr als dreißig territoriale Beschränkungen aufweisen wird. Es gab daher bis Mitte 1998 im Bündnis eine kontroverse Debatte über die Höhe künftiger Verstärkungen (zwei bis vier Divisionen) in Krisensituationen.

Hier offenbarte sich ein strukturelles Dilemma des neuen Begrenzungsansatzes: Einerseits braucht die NATO militärische Flexibilität, um als Bündnis glaubwürdig zu sein; andererseits jedoch könnte ein zuviel an Flexibilität die Sicherheit eines Einzelstaates, der keinem Bündnis angehört, bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Spanien, Polen und Italien plädierten dabei aus unterschiedlichen Gründen eher für mehr Flexibilität, während Deutschland und Frankreich unterstützt von anderen sich für mehr Zurückhaltung einsetzten, um das militärisch schwache Rußland nicht unnötig zu provozieren.

Den USA, Deutschland und Frankreich gelang es nach harten Verhandlungen im Frühjahr 1998, endlich einen Kompromiß zu finden. Ausgehend von der schon für die Flanken des Vertragsgebiets geltenden Regelung wurde ein Basiswert von 153 Panzern, 241 gepanzerten Kampffahrzeugen und 140 Artilleriegeschützen für temporäre Stationierungen vereinbart. In größeren Krisen ist eine sogenannte außerordentliche temporäre Stationierung von bis zu 459 Panzern, 723 gepanzerten Kampffahrzeugen und 420 Artilleriesystemen erlaubt. Das entspricht etwa zwei Divisionen.

Die USA gestanden zu, daß bei temporären Stationierungen zunächst der sogenannte Headroom – also der Spielraum zwischen dem aktuellen Bestand und den festgelegten Obergrenzen – genutzt werden soll, damit die neuen territorialen Obergrenzen möglichst nicht überschritten werden (Bild links). Ergänzend wird es einen politischen Mechanismus geben, mit dem die Notwendigkeit der Maßnahme begründet werden muß; noch ist aber strittig, ob er vor oder bei Beginn der Maßnahme gestartet wird.

Rußland hat nach einigem Zögern im Sommer 1998 den westlichen Flexibilitätsmechanismus im Prinzip, nicht jedoch in seiner Höhe akzeptiert. Es macht weitere Zugeständnisse davon abhängig, daß die westlichen Staaten eine mehrfache gleichzeitige Nutzung der außerordentlichen temporären Stationierung in direkt benachbarten Staaten einschränken, um die Stabilität nicht zu gefährden. Leider gab es in diesem Punkt bis zum Jahresende kaum Fortschritte, weil die Politik der USA durch andere Krisen zu sehr beansprucht wurde. Damit schien eine Übereinkunft über die Prinzipien der KSE-Anpassung bis zur Aufnahme der drei neuen NATO-Mitglieder gefährdet.

Daraufhin einigte man sich auf dem OSZE-Ratstreffen am 2. Dezember 1998 in Oslo, die Anpassungsverhandlungen bis zum nächsten OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 abzuschließen. Des weiteren sicherten die NATO-Staaten gemeinsam mit Polen, Ungarn und Tschechien am 8. Dezember in einer Erklärung zur KSE-Anpassung zu, die Verhandlungen erfolgreich abschließen zu wollen. Sie stellten zudem klar, daß die Zurückhaltung bei der Stationierung von Verbänden in den drei Beitrittsstaaten auch – wie von Rußland gewünscht – für die Luftstreitkräfte gelten wird.

Der russische Außenminister Igor Iwanow begrüßte diese Erklärung in der folgenden Sitzung des NATO-Rußland-Rates, wies aber noch auf zwei ungelöste Fragen hin: Die Integration der Flankenvereinbarung in das neue Begrenzungskonzept und eine zufriedenstellende Regelung für Zentraleuropa.

Daraufhin bat Anfang dieses Jahres die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright alle NATO-Staaten – einschließlich Polen, Ungarn und Tschechien – um eine nochmalige Absenkung ihrer Obergrenzen. Dieser Wunsch wurde auch von vielen Bündnispartnern angenommen. Jedoch ist gerade Polen aus innenpolitischen Gründen bisher nicht bereit, in diesem Punkt Zugeständnisse zu machen. Rußland will jedoch der NATO nur dann weiter entgegenkommen, wenn Polen, Ungarn und Tschechien endlich ihre neuen Obergrenzen nennen. Das Zögern Polens ist um so unverständlicher, als es die aktuelle Stärke seiner Streitkräfte in keinem Fall wird halten können und Rußland seit Anfang Februar dieses Jahres mehrmals erklärt hat, es werde seine Streitkräfte im angrenzenden Kaliningrad und in der Region Pskow nicht substantiell verstärken.

Dagegen gab es Ende Januar in bilateralen türkisch-russischen Gesprächen große Fortschritte in der Flankenfrage. Beide Seiten verständigten sich nicht nur über die Prinzipien, sondern auch über viele Details und präsentierten ihre Ergebnisse Mitte Februar den Verhandlungsdelegationen in Wien. Nachdem zwischenzeitlich die russischen Streitkräfte die rechtliche Verbindlichkeit der Flankenregelung aufheben wollten, hat Rußland nun diese Bedingung der übrigen KSE-Staaten akzeptiert.

Zugleich ist Rußland bereit, seine Stationierungsstreitkräfte in Georgien und Moldawien im Rahmen der neuen Obergrenzen abzubauen, wenn es dafür auf seinem Flankenterritorium die Zahl der gepanzerten Kampffahrzeuge erhöhen darf und einige regionale Untergrenzen entfallen. Der politische Deal ist, daß Rußland auf seinem eigenen Flankenterritorium mehr Flexibilität erhält, wenn es im Gegenzug durch Truppenabbau die Eigenständigkeit der Kaukasusstaaten anerkennt und verbessert.

Polen scheint zwar nun etwas einlenken zu wollen, doch noch ist offen, wann und in welchem Umfang. Sollte aber im Laufe des März kein Kompromiß zustandekommen – immerhin erfolgte der NATO-Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien am 12. März –, kann man sich kaum auf wichtige Übergangsregelungen verständigen, die bis zum Abschluß der Verhandlungen und später bis zum Inkrafttreten des neuen Vertrages gelten sollen.

Betroffen davon wären vor allem die Inspektionsrechte der Staaten der östlichen KSE-Staatengruppe gegenüber den drei neuen NATO-Mitgliedern und umgekehrt. Dabei sind Polen, Ungarn und Tschechien schon jetzt bereit, den übrigen Mitgliedern der östlichen KSE-Gruppe übergangsweise mehr Inspektionen zu erlauben, so daß dies eigentlich kein Streitpunkt sein müßte. Andererseits aber werden ohne Rahmenvereinbarung und Übergangsregelung die Inspektionsrechte der östlichen KSE-Gruppe eingeschränkt. Deshalb – sowie aus innenpolitischen Gründen heraus – hat Rußland für diesen Fall mit der Einberufung einer außerordentlichen Vertragskonferenz gedroht. Käme es dazu und würde sie nicht konstruktiv für die Regelung der noch offenstehenden Fragen genutzt, stünde durchaus mehr auf dem Spiel: Denn es gibt vor allem in den USA und in Rußland starke innenpolitische Kräfte, die den KSE-Vertrag nicht mehr wollen.

Sollte die KSE-Anpassung scheitern, so verlören die multilateralen Regelungen weiter an Bedeutung, und ein Eckstein der europäischen Sicherheit bräche weg. Unser aller Sicherheit wäre damit kaum gedient.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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