Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt.
Luchterhand, München 1997. 236 Seiten, DM 38,–.
Der Titel ist nicht mit dem romantischen Seufzer „Zurück zur Natur“ zu verwechseln. Dieses Buch bietet eine umfassende und tiefgehende Analyse. Rolf Peter Sieferle, der an der Universität Mannheim Geschichte lehrt und bereits mehrere Werke zum Thema Umweltgeschichte veröffentlicht hat, blickt weder nur auf den Menschen, der in seine Umwelt eingreift, noch allein auf die natürliche Umwelt als Verursacherin für unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten. Er versucht vielmehr, das Bild einer gegenseitigen Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt zu zeichnen, und fördert dabei erstaunlich viele Fakten und überraschende Beispiele zutage.
Sieferle unterscheidet drei geschichtliche Phasen: die der Jäger und Sammler, die bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts andauernde der landwirtschaftlichen Produktion und die seit der Industrialisierung, in der wir uns gegenwärtig befinden. Er analysiert dabei jeweils das verwendete Energiesystem sowieso die Prozesse der kulturellen Selbstorganisation und blickt auf die Landschaft als Spiegel der Gesellschaft und ihrer Kultur.
Jäger und Sammler schöpfen aus einem Fluß von Ressourcen, ohne weiter
in ihn einzugreifen. Hingegen wird das Solarenergiesystem von bäuerlichen Gesellschaften bereits aktiv kontrolliert. Die Nutzung fossiler Energieträger schließlich leitet zu der heute dominierenden Lebensform über.
Das Wort „Industriegesellschaft“ fällt kaum – Sieferle bevorzugt den Begriff „Transformationsgesellschaft“, denn ein stabiler Endzustand der jetzigen Entwicklung ist nicht erkennbar. Während die bäuerliche Gesellschaft über viele Jahrhunderte im Rahmen des Sonnenenergiesystems lebte und ihn im zeitlichen Mittel nie verließ, hat die heutige Gesellschaft dessen Grenzen überschritten durch Ausnutzung von fossilen Ressourcen, die in sehr viel längeren Zeiträumen entstanden sind, als sie nun verbraucht werden.
Kennzeichnend für das Ungleichgewicht der Transformationsgesellschaft sind nach Meinung des Autors eine große Dynamik und überall vorzufindende Widersprüche sowie nebeneinander existierende Gegensätze. Einerseits ist das Wort Individualität in aller Munde, Freiheit ein unumstrittener Wert und der Wunsch nach Unabhängigkeit groß; andererseits werden wir immer abhängiger von Versicherungen und Institutionen aller Art, vom Kindergarten bis zur Altersversorgung und vom Elektrizitätswerk bis zu den Abwasserleitungen. Widersprüchlich ist es auch, das Auto zu benutzen, um die Natur „draußen im Grünen“ zu finden.
In die letzte Phase legt der Autor noch einen Einschnitt in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, als die letzten Reste dessen beseitigt wurden, was er Agrikulturlandschaft nennt. Was bis dahin existierte, bezeichnet er als segmentierte Landschaft, denn es gab noch ein Nebeneinander von agrikulturellen und industriellen Arealen und Regionen. Seitdem befinden wir uns in einem hochdynamischen Zustand, dessen äußeres Merkmal die durch Gleichförmigkeit gekennzeichnete „totale Landschaft“ ist: Nicht mehr nur einzelne Industriestandorte bilden Schandflecke in der Natur, sondern die Verschmutzung betrifft alle Orte und wird ebenso allgemein – als Nebeneffekt des Konsums – in Kauf genommen. Weil durch den Zugang zu fossilen Energieträgern Transporte über weite Strecken möglich geworden sind, ist unsere Zeit durch schnelle Verbreitung sowohl von materiellen Gütern als auch von kulturellen Werten und somit durch immer mehr zerfließende Formen gekennzeichnet. Das Englische als Allerweltssprache mag dafür ebenso ein Ausdruck sein wie tropische Früchte in nordeuropäischen Supermärkten.
Bemerkenswert ist, daß auch ein Buch wie das vorliegende nur in Zeiten „großer Diffusion“ entstehen kann. Es ist ein interdisziplinäres Werk par excellence. Hier sind Kenntnisse aus Physik, Ökonomie, Soziologie und Geschichte eingeflossen.
Worauf strebt nun eine derart dynamische „Transformationsgesellschaft“ zu? Der Transport von Masse, das Reisen und die Verfrachtung von Gütern über weite Entfernungen werden wieder teurer werden, wenn die fossilen Energiequellen versiegen. (In welchem Maße Alternativen die fossilen Energiequellen ersetzen können, diskutiert der Autor nicht.) Was bleibt, ist der Transport von Information und Ideen, für den nur minimale Energien benötigt werden. Auf der Ebene der kulturellen Organisation könnten die zukünftigen Bedingungen also den heutigen ähneln, während die energetischen Gegebenheiten wieder denjenigen gleichen dürften, welche die Agrikulturlandschaft haben entstehen lassen.
Wie so häufig in Büchern, die sich mit Gegenwartsproblemen beschäftigen, ist das Fahrwasser ruhig und die Analyse nüchtern, solange der Autor mit gesundem Abstand, sozusagen aus der Vogelperspektive, auf die Geschichte blickt. Die Gegenwartsprobleme packt er dann jedoch mit sehr viel mehr Betroffenheit an, und seine Sprache entwickelt sich dabei zu einem reißenden Bach. Aber warum auch nicht? Sieferles Witz leidet darunter jedenfalls nicht. Eine echte Stilblüte ist ein Ausdruck wie „Bauhaus neben Gartenzwerg“ (im Kontext der widersprüchlichen Gesellschaft). In bezug auf die Transformationsgesellschaft von zunehmender „ökologischer und ästhetischer Entropie“ zu sprechen scheint dagegen eher ein möchtegern-wissenschaftlicher sprachlicher Ausrutscher zu sein. Im Gesamteindruck überwiegt jedoch eine klare und auch neue Darstellung von Zusammenhängen, die Sieferles Buch durchaus lesenwert macht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 162
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben