Interview: 'Rüstungskontrolle, die in die Zukunft führt'
Spektrum-Interview mit Oberst i.G. Ernst Britting, der auf deutscher Seite dafür zuständig ist, die Regelungen des Vertrages in die Praxis umzusetzen.
Spektrum der Wissenschaft: Herr Oberst Britting, Sie setzen mit Ihrem Team und Ihren ausländischen Partnern heute das um, was die Diplomaten vor zehn Jahren in den Vertrag über den Offenen Himmel hineingeschrieben haben. Welche Erfahrungen haben Sie in der bisherigen Praxis gewonnen?
Britting: Seit 1993 haben wir schon mehr als 400 Beobachtungsflüge als Test durchgeführt. Wir konnten dabei alle wesentlichen organisatorischen und technischen Fragen klären, und wir haben uns auf gemeinsame Standards für die Zertifizierung der Flugzeuge geeinigt – was sehr schwierig war. Des Weiteren haben wir Ausbildungsunterstützung zum Beispiel in den baltischen Staaten geleistet, und unsere Flugzeuge waren zur Krisennachsorge in Bosnien-Herzegowina und auch bei Umweltkatastrophen im Einsatz. Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Beobachtungsflüge die Erwartungen erfüllen, die der Vertrag in sie setzt – als sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahme, als Verifikationsmittel, als Mittel zur Krisenprävention und auch als Hilfe für die Bewältigung von Naturkatastrophen.
Spektrum: Sie arbeiten mit Teams aus 29 Nationen. Wie gut funktioniert das?
Britting: Bei uns sind alle Nationen gleichberechtigt. Deshalb sind wir ein Team. Wir kennen uns alle seit vielen Jahren und arbeiten gut zusammen. Es ist schön zu sehen, dass hier keiner dominiert. Es zählen nur Fachkompetenz und Sachargumente. Der Geist des Vertrages wird bei uns in der täglichen Praxis erlebbar. Auch das schafft Vertrauen. Das Besondere am Offenen Himmel ist, dass sich nicht zwei gegnerische Inspektionsmannschaften am Boden gegenüberstehen, sondern dass wir uns die Beobachtungsflüge gemeinsam als Missionsteam erarbeiten. Im Flugzeug gibt es nur eine Mannschaft und nicht zwei. Deswegen haben wir verglichen mit anderen Verifikationsregimes eine eigene Kultur der Zusammenarbeit.
Spektrum: Wie machen sich die unterschiedlichen Mentalitäten bemerkbar, die bis zum Fall der Mauer vorherrschten?
Britting: Durch das persönliche Mit-einander versteht man viel besser, welche Erlebnisse und Einstellungen in der Geschichte eine Rolle spielten, und man lernt daraus einiges, was das für die Zukunft bedeutet und was man für die Zukunft berücksichtigen müsste – für die Rüstungskontrolle und für den weiteren Ausbau des europäischen Gedankens. Man muss sich ja immer wieder die Frage stellen: Wie denken die anderen? Was ist deren Einstellung?
Spektrum: Was heißt das konkret für den Offenen Himmel?
Britting: Wir können daraus zum Beispiel ersehen, dass der Vertrag auch noch in zehn Jahren und darüber hinaus seine Bedeutung behalten wird, selbst wenn sich die politischen Rahmenbedingungen seit der Vertragsunterzeichnung etwas verschoben haben und sich womöglich auch künftig verschieben werden. Aber auch 2010, 2012 wird jeder der Vertragspartner sehen wollen, dass seine Nachbarn nichts zu verbergen haben. Da wirkt einfach noch die Historie nach.
Spektrum: Inwiefern?
Britting: Da ist zunächst einmal das unterschiedliche Bedürfnis nach Geheimhaltung. Für die Russen beziehungsweise die Sowjets war das von entscheidender Bedeutung für ihre Auffassung von nationaler Sicherheit. Deshalb ist in den Vertrag so manches Detail hineingekommen, was man künftig vielleicht modifizieren wird. Wenn man – bildlich gesprochen – beim Nachbarn über den Gartenzaun schauen möchte, um sich davon zu überzeugen, dass bei ihm alles in Ordnung ist, dann muss man wissen: In Russland gibt es keine Jägerzäune mit Latten, durch die man durchsehen kann wie bei uns, sondern Bretterverschläge, zwei Meter hoch oder höher, damit man ja nicht sieht, was sich dahinter verbirgt. Hier gibt es also noch viel Informationsbedarf für die ehemals westliche Seite.
Spektrum: Und umgekehrt?
Britting: Für unsere östlichen Vertragspartner ist der Offene Himmel vielleicht sogar noch wichtiger. Wir dürfen nicht übersehen, dass es bei uns in Europa – und ich meine ganz Europa, und nicht nur Westeuropa, wie es oft verstanden wird – noch Generationen dauern wird, bis die Wunden der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts vernarbt sein werden. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941 ist in Russland noch in allen Köpfen präsent, wie ich es selbst anlässlich einer Testbeobachtung in Moskau erlebt habe. Auch unsere westeuropäischen Nachbarn haben mit uns Deutschen und unserer Geschichte noch so ihre Probleme. Es ist also noch auf lange Zeit wichtig, die jetzige Balance auf dem hohen Stabilitätsniveau, das wir erreicht haben, zu halten und weiter auszutarieren. Dazu gehört auch, sie durch solche vertrauensbildenden Maßnahmen zu pflegen, wie sie der Offene Himmel bietet. Das macht innereuropäisch ganz viel Sinn.
Spektrum: Nun gibt es ja, wie der Krieg auf dem Balkan gezeigt hat, auch aktuellere Konfliktherde. Was kann der Offene Himmel hier tun?
Britting: Unsere Flugzeuge haben sich bereits an der Krisennachsorge beteiligt, indem sie über Bosnien-Herzegowina im Einsatz waren. Künftig wird vielleicht der größte Teil der Beobachtungsflüge der Krisenprävention dienen. Hier hat der Offene Himmel wirklich auch Modellcharakter für Konfliktregionen außerhalb des jetzigen Vertragsgebietes. Sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen könnten auch andernorts zu einer Beruhigung beitragen – beispielsweise im Kaukasus, in Zentralasien, im Konflikt zwischen Indien und Pakistan und auch in den Krisenregionen von Nordafrika bis in den Iran.
Spektrum: Bei solchem Potenzial sollte man annehmen, dass weitere Staaten Interesse an dem Offenen Himmel haben.
Britting: Ja, in der Tat. Schweden und Finnland sind ja schon nachträglich beigetreten. Und so mancher Staat aus dem asiatischen Raum verfolgt unsere Erfahrungen mit großem Interesse.
Spektrum: Und die Europäische Union? Sie hatten ja besonders die Bedeutung für Europa hervorgehoben.
Britting: Kürzlich war eine Europa-Parlamentarierin hier. Sie hat erkannt, welche europäische Dimension eigentlich in der Rüstungskontrolle steckt – und dass man sich auch auf EU-Ebene mal damit befassen sollte. Das ist bisher kaum der Fall. In der EU-Politik gibt es da gewiss viel Nachholbedarf. Wir hier sind nur die Militärhandwerker. Wir versuchen, was Konkretes zu machen, was uns in die Zukunft bringt und was wirklich dazu beiträgt, dass Konfrontationen abgebaut werden beziehungsweise sich nicht wieder entwickeln.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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