Direkt zum Inhalt

Scheinfriede im Löwenrudel

Die Eintracht täuscht: Der Zusammenhalt des Rudels ist in Wahrheit der Ausweg aus dem Zwang, ureigene Interessen in der Konkurrenz mit Artgenossen zu behaupten.

Mächtige und doch geschmeidige Tiere, die sich in der Abenddämmerung wie nach ei- ner einstudierten Choreographie im hohen Gras von verschiedenen Seiten an das nichtsahnende Opfer anpirschen und plötzlich alle zugleich angreifen – ein Rudel Löwen bei der Jagd ist allem Anschein nach der Inbegriff von reibungsloser Kooperation. Streiterei und Zwist scheinen sofort vergessen, wenn die offenbar sozialsten aller Katzen in gemeinsamer Anstrengung nur ein Ziel anstreben: die nächste Mahlzeit zu beschaffen. Daß dieses Inbild von Einigkeit einer nüchternen Betrachtung nicht standhält, mußten wir erkennen, als wir dem König der Tiere lange Jahre in freier Wildbahn auflauerten.

Wir betreiben diese Studien seit 1978. Damals übernahmen wir im Serengeti-Nationalpark in Tansania (Bild 3) die Beobachtung derselben Löwenpopulation, an welcher der deutsch-amerikanische Tierforscher George Schaller von der Wildtierschutz-Organisation Wildlife Conservation International der New Yorker Zoologischen Gesellschaft seit 1966 Pionierarbeit über Großkatzen in freier Wildbahn geleistet hatte; seither weiß man, daß sie teils in Rudeln mit verteidigten Revieren leben, teils nomadisch einzeln oder zu mehreren umherstreifen. Nach Schaller hatten andere die Gruppen weiter beobachtet, doch vieles im Leben dieser Art blieb schwer erklärlich – insbesondere das Verhalten im Verband, denn die meisten Katzenspezies sind notorische Einzelgänger. Wir wollten wissen, warum gerade Löwen sich zu Jagd, Revierverteidigung und Jungenaufzucht zusammenschließen.

Aus evolutionsbiologischer Sicht schien das aufopferungsvolle Rudelleben zunächst wenig Sinn zu haben. Demnach mißt sich der Verhaltenserfolg eines Tieres letztlich an der Anzahl überlebender Nachkommen, und dabei muß sich eine kooperative Unternehmung für den einzelnen nicht unbedingt auszahlen. Wer sich zu großzügig für die Gemeinschaft einsetzt, hat möglicherweise selbst am Ende das Nachsehen, während die anderen von seiner Hilfe einseitig profitieren. Daß Löwen trotzdem scheinbar uneigennützig auftreten, muß spezielle Gründe haben.

Naiverweise setzten wir für die Studie zunächst nur zwei bis drei Jahre an. Leider hatten wir vergessen, das Temperament unserer Versuchsobjekte einzuplanen. Der König der Tiere macht nämlich seinem Ruf alle Ehre, indem er meist gar nichts tut. Darum brauchten wir eine Palette von Forschungsmethoden, um die Motive seines Verhaltens zu ergründen: Wir analysierten Milch, Blut und Erbgut, und ab und zu aktivierten wir unsere Versuchsobjekte, die gern 20 Stunden und mehr am Tag ruhen, mit Löwengebrüll vom Tonband und ausgestopften Artgenossen. Um sie auf ihren Streifzügen und Wanderungen wiederzufinden, hängten wir ihnen Halsbänder mit Sendern um.

Erst allmählich werden nun die Regeln ihrer Lebensweise offenbar, denn manche erreichen in freier Wildbahn immerhin ein Alter von 18 Jahren. Doch der Einsatz hat sich gelohnt. Nie hätten wir gedacht, daß das Sozialleben von Panthera leo einen dermaßen komplexen evolutionsbiologischen Hintergrund hat.


Männerbünde

Männliche Löwen gehen mit bis zu acht erwachsenen Geschlechtsgenossen eine lebenslange Allianz ein. Das tun sie aber nicht etwa aus purer Nächstenliebe, sondern letztendlich zu dem Zweck, die eigenen Fortpflanzungschancen zu maximieren. Meist sind die Partner, die eine regelrechte Kampfgemeinschaft bilden, Brüder oder Cousins, die gemeinsam großgeworden sind. Doch einige Verbände bestehen aus nicht miteinander verwandten Löwen, die als junge Männchen eine Zeitlang allein umhergestreift sind und sich erst später zusammengeschlossen haben.

Als voll erwachsene Tiere übernehmen solche Koalitionen, sofern ihnen das gelingt, ein Rudel, genauer gesagt einen Weibchenclan mitsamt dessen Territorium. Etwa zwei bis drei Jahre lang zeugen sie dann den gesamten Nachwuchs – bis eine andere Koalition sie besiegt und fortan über das Rudel herrscht. Somit hängt der Fortpflanzungserfolg des einzelnen direkt davon ab, wie gut seine Mannschaft die Herausforderung durch rivalisierende Allianzen besteht.

Gerade in Situationen, in denen die allen gemeinsamen Eigeninteressen am stärksten bedroht sind, beweist das Team seine größte Kooperationsfähigkeit. Wir haben diese Verteidigungsbereitschaft herausgefordert, indem wir inmitten der riesigen Territorien, in denen die Männchen nachts umherstreifen und mit lautem Brüllen ihre Besitzansprüche kundtun, Tonbänder mit der Stimme eines fremden Löwen abspielten.

Wann immer wir sie damit provozierten, rannten sie sofort herbei und suchten in der Nähe der Schallquelle nach dem Urheber. Wenn wir dort auch noch eine männliche Löwenattrappe aufgestellt hatten, griffen sie diese heftig an (Bild 4). Unser Mitarbeiter Jon Grinnell hat in Dutzenden solcher Experimente herausgefunden, daß nicht verwandte Löwenmännchen in solchen Situationen genauso gut kooperieren wie Brüder. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn theoretisch sollten eng verwandte Tiere einander eher beistehen. (Tatsächlich wirkt sich der Unterschied, wie wir noch sehen werden, in anderen Situationen durchaus auf das Verhalten aus.) Keineswegs selbstverständlich ist auch, daß die Löwen den Lautsprecher selbst dann angriffen, wenn sie allein waren und ihre Bundesgenossen ihr Verhalten gar nicht registrieren konnten. Nicht einmal vor einer dreifachen Überzahl – normalerweise eine lebensgefährliche Lage – schreckten unsere Versuchslöwen zurück.

Im allgemeinen dominieren große Koalitionen über kleine. Auch sind starke Verbände in der Regel jünger, wenn sie ein Territorium erobern, und können es länger halten. Ihren Rudeln gehören zudem durchschnittlich mehr Weibchen an. Der Zusammenhalt bringt für die Fortpflanzung offenbar so viele Vorteile, daß sich selbst die meisten Einzelgänger mit anderen verbünden. Solche Allianzen von nicht Verwandten haben allerdings nie mehr als drei Mitglieder; in einem Team aus vier oder mehr Kampfgenossen sind immer alle eng miteinander verwandt und kennen sich von jung auf.

Auch dieser Unterschied hat seine Gründe im Eigennutz: Nicht jeder männliche Rudellöwe wird ohne weiteres Nachkommen zeugen können, besonders dann nicht, wenn viele einander die begehrte Ressource streitig machen. Zwar schneiden große Koalitionen am besten ab, wenn man ausrechnet, wieviele Jungtiere durchschnittlich auf ein Männchen kommen. Doch die reale Verteilung kann, zumindest bei der Serengeti-Population, sehr ungleich sein: Wer als erster ein paarungswilliges Weibchen ausmacht, wird dieses von nun an auf Schritt und Tritt bewachen, es während der Dauer des Östrus – oft rund vier Tage lang – viele Male begatten und jedes andere Männchen verjagen, das auch nur in die Nähe zu kommen wagt. Deshalb stammt ein Wurf gewöhnlich von einem einzigen Männchen. Dies ergab der genetische Vergleich von Hunderten von uns gesammelter Blutproben, den Dennis Gilbert im Labor von Steven O'Brien am amerikanischen Nationalen Krebsinstitut in Bethesda (Maryland) durchführte. Dabei zeigte sich auch, daß die Vaterschaft nur in Allianzen aus zwei Männchen gerecht verteilt ist. In größeren Gruppen heimsen jeweils nur sehr wenige Löwen den Hauptfortpflanzungserfolg ein.

Nun ist es vom genetischen Standpunkt aus für den einzelnen nicht allzu schwerwiegend, kinderlos zu bleiben, sofern dies durch Nachkommen zum Beispiel von Brüdern ausgeglichen wird, weil schließlich auch sie Gene ihrer nächsten Verwandten tragen. Vaterschaften von Familienmitgliedern können somit durchaus einen Wert haben, für den einzustehen sich lohnt. Eben das ist bei Gruppen aus nicht verwandten Löwen aber nicht der Fall, so daß ein größerer Verband aus mehr als zwei oder drei Männchen sich offenbar nicht bewährt.


Löwinnen: Kern des Rudels

Im Rudel jagen am meisten die Löwinnen. Früher dachte man, der Vorteil kooperativen Jagens sei der Hauptgrund für ihren engen Zusammenhalt, doch wir konnten zeigen, daß das nicht stimmt. Das Rudel trennt sich oft für längere Zeit in kleinere Gruppen auf, und diese ernähren sich nicht besser als einzeln umherziehende Weibchen. In recht großen Jagdverbänden kann die einzelne Katze sich mitunter sogar schlechter stehen, weil die Artgenossinnen oft einfach nicht mitmachen und sich auf das Glück und Geschick der aktivsten unter ihnen verlassen.

Offenbar spielt nur bedingt eine Rolle, daß die Hilfestellung die Erfolgschancen erhöhen könnte – zumindest bei den gewöhnlich gejagten großen Tieren, von denen alle satt würden. Bei wehrhafter Beute besteht nämlich erhebliche Verletzungsgefahr und damit das Dilemma, eine Verwundung zu riskieren, während es möglich wäre, ohne eigenen Einsatz Futter zu erhalten.

Anscheinend gibt im Einzelfall den Ausschlag, wie geschickt und erfahren die Jägerin ist, die als erste die Initiative ergreift. Läßt sich abschätzen, daß sie die Sache gut allein bewältigt, so machen für die anderen die mit Kooperation verbundenen Vorteile das Risiko niemals wett. Bei einer weniger versierten Jägerin lohnt der Einsatz trotz der damit verbundenen Gefahr unter Umständen eher.

Beobachtung an anderen Säugetieren, aber auch Vögeln und Insekten, bestätigen diese theroretisch zu erwartende Tendenz. Auch dort engagieren sich Artgenossen am kooperativsten dann, wenn einer von ihnen wirklich Hilfe benötigt. Dem entspricht umgekehrt, daß Mitglieder solcher Arten wenig Hilfestellung geben, wenn der einzelne gut allein Beute machen kann. Beim Serengeti-Löwen prägt sich dies – wie unser Mitarbeiter David Scheel klarstellte – in der Weise aus, daß vor allem wehrhafte Beutetiere wie Büffel oder Zebras gemeinsam geschlagen werden; Gnus und Warzenschweine, also kleinere Tiere, überwältigt hingegen oft eine Löwin im Alleingang, und die anderen schauen einfach zu (Bild 5).

Andere Populationen verhalten sich allerdings nicht unbedingt in dieser Weise. Die Löwen der Etoschapfanne in Namibia zeigen sogar ein äußerst präzises Zusammenspiel, das sich von dem laxen Stil unserer Gruppen deutlich abhebt. Sie jagen dort insbesondere die kleinen Springböcke. In dem ebenen, offenen Gelände könnte ein einzelner Löwe die besonders flinke Antilope niemals zur Strecke bringen. Die Jäger kommen aber zugleich von verschiedenen Seiten und sperren der Beute praktisch jeden möglichen Fluchtweg ab.

Zur Jungenaufzucht pflegen auch die Serengeti-Löwinnen wie alle ihre Artgenossinnen meist engstes Für- und Miteinander (Bild 1). Zwar bringt die Mutter ihren Wurf, den sie heimlich in einem Versteck – etwa in einem trockenen Flußbett oder zwischen Felsen – abgesetzt hat, erst nach fünf bis sechs Wochen zur Gruppe, wenn die Jungen schon laufen können und die gefährdetste Zeit hinter sich haben. Sind gleichzeitig andere kleinere Jungtiere da, bilden sich unter Obhut der Mütter für die ersten eineinhalb Jahre regelrechte Kinderkrippen. Erst nach dieser Zeit pflanzen die Löwinnen sich wieder fort.

Falls das Rudel in der Nähe Beute gemacht hat, führt die Mutter ihre Jungen dorthin zum Fressen (Bild 6). Ist die Entfernung dafür zu groß, läßt sie ihre Kinder indirekt – durch ihre Milch – am Mahl teilhaben. Dann trinken an ihr sogar nicht nur die eigenen Jungtiere; auch diese Beobachtung dürfte die Mär von der selbstlosen Gemeinschaft der Löwen genährt haben.

Doch bei näherer Betrachtung erweisen sich die Zusammenhänge als komplizierter. Die Weibchen einer Krippe pflegen am selben Fang zu fressen und gemeinsam zurückzukehren. Nach langen Ausflügen sind sie so erschöpft, daß sie bald nach der Rückkehr wegdösen – und damit ist der Zugang zur Milchquelle frei. Seit wir mehr als ein Dutzend Kinderhorte beobachtet haben, wissen wir, daß jedes Jungtier tatsächlich an jedem Weibchen trinken kann.

Solches Verhalten läßt sich wiederum – ähnlich wie das der teambildenden Männchen – nüchtern erklären. Im Gegensatz zu ihren Brüdern bleiben viele junge Löwinnen nämlich später im Aufzuchtverband; darum besteht der weibliche Kern eines Rudels aus Müttern und Töchtern, Schwestern und Cousinen. Die Würfe sind verschieden groß: meist zwei oder drei Jungtiere, manchmal auch nur eines, gelegentlich vier. Als wir bei fast einem Dutzend einzelner Weibchen die Milchmenge maßen, zeigte sich zu unserer Überraschung, daß sie nicht von der Jungenzahl abhängt, sondern von der gefressenen Fleischportion.

Schon deswegen sollte es einem Weibchen mit kleinem Wurf nicht allzuviel ausmachen, freigiebig zu sein. Tatsächlich lassen Löwinnen, die nur ein Kind haben, öfter fremde Junge bei sich trinken. Besonders tolerant sind sie allerdings gegenüber dem Nachwuchs ihrer engsten Verwandten. Übrigens gilt auch dieses Prinzip – daß die Großzügigkeit sowohl vom Überfluß als auch vom Verwandtschaftsgrad abhängt – für andere Säugetierarten. Gemeinschaftliches Säugen ist hauptsächlich bei solchen Arten – etwa von Nagern, Schweinen und Raubtieren – zu finden, die in kleinen Verwandtengruppen leben und deren Wurfgröße stark schwankt.

Doch ganz freiwillig geben die Löwinnen ihre Milch nicht her. Im Prinzip versuchen sie, nur den eigenen Jungen Zugang zu gewähren, und weisen andere entschieden ab – zumindest solange sie dies überwachen können (Bild 7). Doch irgendwann übermannt sie der Schlaf; oft dösen sie dann stundenlang, und darauf scheinen die hungrigen Mäuler nur zu warten. Demnach gibt es auch hier einen Kompromiß zwischen anstrengendem Wachbleiben und Ruhebedarf, also den Kosten des Aufpassens und denen verlorener Milch.

Die scheinbare Freigiebigkeit beim Säugen kommt somit offensichtlich vor allem daher, daß eine Diskriminierung sich nicht besonders lohnt und Gleichgültigkeit nicht besonders schadet. So schlafen denn wohl auch solche Weibchen am tiefsten, die durch allzu gierige fremde Mäuler am wenigsten verlieren würden – sei es, weil sie Milch im Überfluß haben oder weil die zudringlichen Jungen ihnen verwandtschaftlich besonders nahe stehen.

Tüpfelhyänen, die ebenfalls Gruppen bilden, haben das Problem anders gelöst: Die Mütter suchen ihre Jungen, die sie monatelang in einem Bau lassen, immer nur kurz auf. Zum Ausruhen ziehen sie sich an einen Ort zurück, wo sie unbehelligt bleiben. Als wir Familien an ihren Höhlen beobachteten, stellten wir fest, daß säugende Weibchen dort ebenso oft von fremden Jungtieren bedrängt werden wie Löwinnen – nur paßten die Hyänen viel besser auf.


Konflikt um Jungtiere

Löwinnen, die keine Jungen haben, sind meist gern allein, fern von der Unruhe der gemeinsamen Jagdzüge und vor allem der Kinderkrippen. Sie besuchen ihre Schwestern und Cousinen nur hin und wieder, jagen aber meist für sich und können sich ohne Neider den Bauch vollschlagen. Daß der Kinderhort gleichsam das Herz des Löwenrudels ist, heißt nicht, sein Hauptzweck wäre, den Nachwuchs besonders gut zu füttern. Die Weibchen verhalten sich zwar am geselligsten, solange ihre Jungen noch unselbständig sind, aber unter Umständen fressen sie selbst dann sogar weniger als eine Löwin, die ihren Wurf allein zu versorgen hat – und wie wir gesehen haben, hängt davon die Milchmenge ab. Löwen haben nämlich kein Babysitting-System, das etwa den Müttern im Clan regelmäßigere Mahlzeiten erlaubte.

Was sonst könnte der Zweck des Zusammenhalts sein? Bis zur Selbständigkeit brauchen junge Löwen zwei Jahre. Nur wenn sie sterben, wird die Mutter vorzeitig – binnen Tagen – wieder paarungsbereit und hat ihren nächsten Wurf bis zu einem Jahr früher als normalerweise. Die Löwenmännchen wiederum kümmern sich zwar kaum um ihren Nachwuchs, schützen ihn aber durch ihre regelmäßigen Revierpatrouillen. Denn wenn sie das Territorium an ein neues Herrscherteam verlieren, sind die Jungen in Lebensgefahr. Die neuen Besitzer werden alles daransetzen, selbst Nachwuchs zu zeugen – je eher, desto besser; oft bleiben ihnen dafür nur rund zwei Jahre. Jungtiere sind ihnen dabei nur im Weg, denn deren Mütter kommen nicht sofort als Partnerinnen in Frage. Die fremden Kinder einfach zu töten erhöht darum die Fortpflanzungschancen.

Inzwischen belegen viele Beobachtungen diesen Zusammenhang. Mehr als ein Viertel aller Löwenjungen fällt neuen Revierbesitzern zum Opfer. Das Nachsehen haben letztlich die Mütter, die alle paar Jahre wieder mit den Begleiterscheinungen einer Rudelübernahme konfrontiert sind und dabei oft viele Junge verlieren. Darum verteidigen sie ihren Nachwuchs nach Kräften. Doch allein haben sie selbst gegen ein einzelnes Männchen praktisch keine Chance, denn dieses ist um fast 50 Prozent größer. Nur vereint gelingt es ihnen, die Jungen zu schützen.

Aber Löwinnen müssen nicht nur die Übergriffe des anderen Geschlechts abwehren. Sie sind auch selbst territorial; das heißt, sie verteidigen als Rudel bevorzugte Jagdgründe, Ruheplätze und Wasserstellen gegen fremde Weibchen sowie gegen Gebietsansprüche von Geschlechtsgenossinnen aus Nachbarrevieren. Dabei sind große Clans kleineren überlegen; bei Grenzkonflikten kommt es häufig vor, daß Weibchen getötet werden (Bild 2). Im Gegensatz zu den Männchen haben sie bis zu elf Jahre lang Gelegenheit, sich fortzupflanzen. Dies dürfte der Grund sein, daß solche territorialen Auseinandersetzungen sich viel länger hinziehen als die Konflikte zwischen den Männerteams, die auf Ablösung der Herrschaft abzielen.

Löwinnen sind in der Konfrontation mit fremden Weibchen auffallend vorsichtig. Als Karen McComb, die jetzt an der Universität von Sussex (England) arbeitet, Weibchengruppen Tonbandaufnahmen von anderen Löwinnen vorspielte, griffen sie nicht wie männliche Löwen in jedem Fall an, sondern nur, wenn der eigene Trupp wenigstens zwei Tiere mehr aufwies als der vermeintliche vom Tonband.

Wie diese Experimente zeigen, können Löwinnen tatsächlich zählen und wahren möglichst einen gewissen Sicherheitsabstand. Überhaupt entscheidet die Anzahl der Tiere im Rudel über Leben und Tod: Mit nur einer oder zwei Löwinnen ist es auf längere Sicht zum Untergang verdammt; Anschluß an ein anderes ist nicht möglich, sein Gebiet kann es nicht verteidigen, denn es wird nur umhergehetzt, und es vermag keine Jungen mehr großzuziehen.

Das Löwenrudel, der lebenslange Verband der Weibchen, ist der einzige einigermaßen sichere Hort in einer Umwelt voller nie endgültig besiegbarer Feinde: der männlichen und weiblichen Artgenossen (Bild 8). Im Laufe der Jahre haben wir viele Male beobachtet, wie Rudelbesitzer neuen Männerallianzen Platz machen mußten. Die verschiedenen Herrscher, insgesamt Hunderte von Löwen, hinterließen jedesmal die gleiche unübersehbare Spur: zuerst von Eroberung und Mord, dann von Vaterschaft und am Ende von Zerfall und Sturz. Wir haben auch einige dutzendmal erlebt, wie neue Rudel aufkamen und der Serengeti ihren Stempel aufprägten: Jedesmal mußten dafür andere Rudel untergehen. So großartig der König der Tiere in Gemeinschaft erscheinen mag, wenn er von Nachbargruppen Land erobert und sich gefährlicher Fremdlinge erwehrt – vor allem zeugt er von den Evolutionskräften, aus deren Widersprüchen eine kooperierende Tiergesellschaft als prekärer Kompromiß hervorgeht.

Literaturhinweise

- A Molecular Genetic Analysis of Kinship and Cooperation in African Lions. Von C. Packer, D. A. Gilbert, A. E. Pusey und S. J. O'Brien in: Nature, Band 351, Heft 6327, Seiten 562 bis 565, 13. Juni 1991.

– Into Africa. Von Craig Packer. University of Chicago Press, 1994.

– Non-Offspring Nursing in Social Carnivores: Minimizing the Costs. Von A. E. Pusey und C. Packer in: Behavioral Ecology, Band 5, Heft 4, Seiten 362 bis 374, 1994.

– Complex Cooperative Strategies in Group-Territorial African Lions. Von R. Heinsohn und C. Packer in: Science, Band 269, Heft 5228, Seiten 1260 bis 1262, 1995.

– The Serengeti Lion. Von G. B. Schaller. University of Chicago Press, 1972.

– Reproductive Success of Lions. Von C. Packer, L. Herbst, A. E. Pusey, J. D. Bygott, J. P. Hanby, S. J. Cairns und M. Borgerhoff Mulder in: Reproductive Success. Herausgegeben von T. H. Clutton-Brock. University of Chicago Press, 1988.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Putzig, aber unerwünscht

Waschbären haben sich in Europa rasant verbreitet – die einen finden sie niedlich, andere sind nur noch genervt, weil die Tiere den Müll plündern oder in den Dachboden einziehen. Dazu kommen Risiken für Gesundheit und Natur. Wie stark schaden sie der heimischen Tierwelt und uns Menschen?

Spektrum Kompakt – Mensch und Raubtier - Schwieriges Zusammenleben

Was wie ein längst vergangener Zustand klingt, ist nur in Vergessenheit geraten: Mensch und Raubtier teilen sich auch heute noch einen Lebensraum. Nicht immer ist dieses Zusammenleben harmonisch. Die Angst vor Angriffen ist groß - doch auch Tiere müssen fürchten, wie der Mensch die Umwelt verändert.

Spektrum - Die Woche – Welche Psychotherapie passt zu mir?

Studien zufolge erkrankt jeder fünfte bis sechste Erwachsene mindestens einmal in seinem Leben an einer Depression. Doch wie finden Betroffene eine Therapie, die zu ihnen passt? Außerdem in dieser Ausgabe: Kolumbiens kolossales Problem, der Umgang mit Polykrisen und die Übermacht der Eins.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.