Scheingefechte um Schutz des Lebens
An der Entzifferung des menschlichen Genoms entzündet sich eine überholte Diskussion um die pränatale Diagnostik
Wer in jüngster Zeit in die Seiten für Gesellschaft und Wissenschaft großer Tages- und Wochenzeitschriften blickte, musste sich verdutzt fragen, ob er wirklich im Jahr 2000 lebt. Da trugen gestandene Redakteure angesichts der fast abgeschlossenen Entzifferung des menschlichen Genoms hehre Ethikdebatten über gesellschaftliche Fragen aus, die vor über 20 Jahren bereits entschieden wurden.
Gewiss wirft das Human-Genom-Projekt neue ethische Probleme auf, die im gesellschaftlichen Konsens gelöst werden müssen. Was an der jüngsten Diskussion in einigen Printmedien befremdet, ist jedoch, dass es darum nur vor-dergründig geht. Statt fruchtbare Diskussionen über den verantwortlichen Umgang mit den neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten zu führen, werden alte Schlachten neu geschlagen – vor allem um die vorgeburtliche Untersuchung auf schwere genetische Defekte. Dass man den Text der menschlichen DNA nun Buchstaben für Buchstaben kennt, hat für die Praxis dieser pränatalen Diagnostik so gut wie keine Bedeutung. Die Techniken und das Hintergrundwissen gibt es seit den siebziger Jahren, und sie wurden seither – in Einklang mit gesetzlichen Bestimmungen – zigfach angewandt.
Die Ergebnisse des Human-Genom-Projektes werden nur erlauben, noch mehr erbliche Belastungen festzustellen. Dass dies die Gefahr des Missbrauchs vergrößert, ist eine voreilige Unterstellung. Schon heute lassen sich so viele genetische Defekte pränatal diagnostizieren, dass ein Test auf alle praktisch unmöglich ist. Deshalb wird vorab geklärt, welche altersbedingten oder familiären Risiken bestehen und gezielt nur darauf geprüft. Auch bot die pränatale Diagnostik von Anfang an die Möglichkeit, das Geschlecht des Kindes festzustellen, ohne dass dies in einem europäischen Land zum Missbrauch der Geschlechtswahl geführt hätte.
Was also ist die Ursache der neuerlichen Diskussion? Der Verdacht drängt sich auf, dass Verfechter eines moralischen Rigorismus, über den die gesellschaftliche Praxis längst hinweggegangen ist, einen Hebel gesucht und gefunden haben, mit dem sie glauben, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können. Da es zum Thema pränatale Diagnostik keine neuen Fakten gibt, sondern nur Befürchtungen über neue Missbrauchsmöglichkeiten, sind zwangsläufig auch die Argumente altbekannt. Letztlich kreisen sie – besonders deutlich in dem Beitrag von Henning Ritter in der FAZ vom 29. September – um den Begriff "Eugenik" und beschwören demagogisch geschickt das Horrorszenario der nationalsozialistischen Euthanasie.
Dabei fußen sie offenkundig auf einem religiös geprägten Welt- und Menschenbild, wonach menschliches Leben, weil gottgeschaffen, von Anfang an und unter allen Umständen unantastbar ist. So attestiert Jan Ross in der "Zeit" vom 24. August der katholischen Position in dieser Frage den Vorzug der Folgerichtigkeit. Das stimmt zweifellos, wenn man das zu Grunde liegende Weltverständnis akzeptiert. Wie fragwürdig die Folgerichtigkeit einer solchen kirchlichen Weltsicht ist, zeigte allerdings jüngst erst die weithin mit Kopfschütteln aufgenommene Bekräftigung des Vatikans, dass die katholische Kirche die einzig wahre sei.
Ein laizistischer Staat muss unab hängige ethische Maßstäbe finden und kann dabei naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – etwa aus den Bereichen Medizin, Entwicklungs- und Soziobiologie, Kognitionswissenschaften, Künstliche Intelligenz und Spieltheorie – nicht einfach ignorieren. Der schwierige Prozess einer Säkularisierung der Ethik dauert seit Kant an und ist noch lange nicht abgeschlossen. Anhängern religiöser Vorstellungen bleibt es unbenommen, ihre Wertvorstellungen zu leben, aber sie haben nicht das Recht, sie der Allgemeinheit aufzuzwingen – auch nicht im Gewand angeblich unumstößlicher moralischer Grundprinzipien.
Wie realitätsfremd die Argumentation der Befürworter eines bedingungslosen Embryonenschutzes ist, zeigt sich daran, dass sie mit der pränatalen Diagnostik zugleich die derzeitige Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in Frage stellen. Freilich bleibt ihnen auch kaum eine andere Wahl: Man kann schwerlich die Abtreibung gesunder Embryonen dulden und die von erbgeschädigten ächten. Doch während sich über die pränatale Diagnostik nur wenige Betroffene Gedanken machen, hat die Frage des Schwangerschaftsabbruchs große gesellschaftliche Bedeutung. Die jetzige Regelung ist das Ergebnis komplizierter ethischer und juristischer Abwägungen und der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Anhänger maßgeblicher politischer und gesellschaftlicher Strömungen einigen konnten. An ihr zu rütteln kommt dem Anrennen gegen Windmühlen gleich.
Bezeichnend für die rückwärts gewandten Scheuklappen der – übrigens durchweg männlichen – Moralisten in Sachen Gentechnik ist, dass sie wie gebannt nur auf die Möglichkeiten des Missbrauchs starren. Da werden die Gespenster der Eugenik beschworen, statt zu sehen, dass die neuen Möglichkeiten einer pränatalen Diagnostik in Verbindung mit den Erkenntnissen aus dem Human-Genom-Projekt auch neue Möglichkeiten einer pränatalen Therapie eröffnen. Und selbst wer sie sieht, wie Adolf Muschg in einem kulturkritischen Essay in der FAZ vom 7. September, stilisiert auch sie noch zu einer Bedrohung hoch – in diesem Fall für die humane Vielfalt, auf der ganz wesentlich kultureller Fortschritt beruhe. So bemüht der Schweizer Schriftsteller Nietzsches "amor fati" (wörtlich "Liebe zum Schicksal") für die – verklausulierte – Empfehlung, die Behinderung eines Erbkranken als Bereicherung zu werten statt nach Möglichkeit zu verhüten: "Wenn wir glauben, dass wir unser Schicksal light im Genshop abholen können, haben wir uns ... um das Beste betrogen". Von einem Erbgesunden geschrieben, klingt das nach blankem Zynismus.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 106
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